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  <title>Tage</title>
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<body>

<h3>Tage</h3>

<h4 class="center">I.</h4>

<p>
  <span class="indent">Klangen Frauenschritte hinter Häuserbogen,</span><br />
  <span class="indent">Folgtest du durch Gassen hingezogen</span><br />
  <span class="indent">Feilen Blicken und geschminkten Wangen nach,</span><br />
  <span class="indent">Hörtest in den Lüften Engelschöre musizieren,</span><br />
  <span class="indent">Spürtest Glück, dich zu zerstören, zu verlieren,</span><br />
  <span class="indent">Branntest dunkel nach Erniedrigung und Schmach.</span>
</p>

<p>
  <span class="indent">Bis du dich an Eklem vollgetrunken,</span><br />
  <span class="indent">Vor dem ausgebrannten Körper hingesunken,</span><br />
  <span class="indent">Dein Gesicht dem eingeschrumpften Schoß verwühlt &ndash;</span><br />
  <span class="indent">Fühltest, wie aus Schmach dir Glück geschähe,</span><br />
  <span class="indent">Und des Gottes tausendfache Nähe</span><br />
  <span class="indent">Dich in Himmelsreinheit höbe, niegefühlt.</span>
</p>

<h4 class="center">II.</h4>

<p>
  <span class="indent">O Gelöbnis der Sünde! All' ihr auferlegten Pilgerfahrten in entehrte Betten!</span><br />
  <span class="indent">Stationen der Erniedrigung und der Begierde an verdammten Stätten!</span><br />
  <span class="indent">Obdach beschmutzter Kammern, Herd in der Stube, wo die Speisereste verderben,</span><br />
  <span class="indent">Und die qualmende Öllampe, und über der wackligen Kommode der Spiegel in Scherben!</span><br />
  <span class="indent">Ihr zertretnen Leiber! du Lächeln, krampfhaft in gemalte Lippen eingeschnitten!</span><br />
  <span class="indent">Armes, ungepflegtes Haar! ihr Worte, denen Leben längst entglitten &ndash;</span><br />
  <span class="indent">Seid ihr wieder um mich, hör' ich euch meinen Namen nennen?</span><br />
  <span class="indent">Fühl' ich aus Scham und Angst wieder den einen Drang nur mich zerbrennen:</span><br />
  <span class="indent">Sicherheit der Frommen, Würde der Gerechten anzuspeien,</span><br />
  <span class="indent">Trübem, Ungewissem, schon Verlornem mich zu schenken, mich zu weihen,</span><br />
  <span class="indent">Selig singend Schmach und Dumpfheit der Geschlagenen zu fühlen,</span><br />
  <span class="indent">Mich ins Mark des Lebens wie in Gruben Erde einzuwühlen.</span>
</p>

<h4 class="center">III.</h4>

<p>
  <span class="indent">Ich stammle irre Beichte über deinem Schoß:</span><br />
  <span class="indent">Madonna, mach' mich meiner Qualen los.</span><br />
  <span class="indent">Du, deren Weh die Liebe nie verließ,</span><br />
  <span class="indent">In deren Leib man sieben Schwerter stieß,</span><br />
  <span class="indent">Die lächelnd man zur Marterbank gezerrt &ndash;</span><br />
  <span class="indent">O sieh, noch bin ich ganz nicht aufgesperrt,</span><br />
  <span class="indent">Noch fühl' ich, wie mir Haß zur Kehle steigt,</span><br />
  <span class="indent">Und vielem bin ich fern und ungeneigt.</span><br />
  <span class="indent">O laß die Härte, die mich engt, zergehn,</span><br />
  <span class="indent">Nur Tor mich sein, durch das die Bilder gehn,</span><br />
  <span class="indent">Nur Spiegel, der die tausend Dinge trägt,</span><br />
  <span class="indent">Allseiend, wie dein Atemzug sich über Welten regt.</span>
</p>

<h4 class="center">IV.</h4>

<p>
  <span class="indent">Dann brenn' ich nächtelang, mich zu kasteien,</span><br />
  <span class="indent">Und spüre Stock und Geißel über meinen Leib geschwenkt:</span><br />
  <span class="indent">Ich will mich ganz von meinem Selbst befreien,</span><br />
  <span class="indent">Bis ich an alle Welt mich ausgeschenkt.</span><br />
  <span class="indent">Ich will den Körper so mit Schmerzen nähren,</span><br />
  <span class="indent">Bis Weltenleid mich sternengleich umkreist &ndash;</span><br />
  <span class="indent">In Blut und Marter aufgepeitschter Schwären</span><br />
  <span class="indent">Erfüllt sich Liebe und erlöst sich Geist.</span>
</p>

</body>
</html>