aboutsummaryrefslogtreecommitdiff
path: root/06-rundfahrt.rst
diff options
context:
space:
mode:
authorPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2024-11-27 18:15:59 +0100
committerPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2024-11-27 18:15:59 +0100
commitcee778506fc3a4900d1da4197ce0a905efb19731 (patch)
tree2b9b2cd5510bcc5b9f836e925bda4bb1a06417e0 /06-rundfahrt.rst
downloadfranz-hessel-spazieren-in-berlin-master.tar.gz
franz-hessel-spazieren-in-berlin-master.tar.bz2
franz-hessel-spazieren-in-berlin-master.zip
erste VersionHEADv1.0master
Diffstat (limited to '06-rundfahrt.rst')
-rw-r--r--06-rundfahrt.rst2704
1 files changed, 2704 insertions, 0 deletions
diff --git a/06-rundfahrt.rst b/06-rundfahrt.rst
new file mode 100644
index 0000000..aa9765a
--- /dev/null
+++ b/06-rundfahrt.rst
@@ -0,0 +1,2704 @@
+.. include:: global.rst
+
+RUNDFAHRT
+=========
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`U`\ nter den Linden nahe der Friedrichstraße
+halten hüben und drüben Riesenautos, vor denen livrierte
+Männer mit Goldbuchstaben auf ihren Mützen stehen und zur
+Rundfahrt einladen; drüben heißt ein Unternehmen ‚Elite‘,
+hüben ‚Käse‘. Bequemlichkeit oder natürliches
+Kleinbürgertum? — Ich wähle ‚Käse‘.
+
+Da sitze ich nun auf Lederpolster, umgeben von echten
+Fremden. Die andern sehen alle so sicher aus, sie werden die
+Sache schon von 11 bis 1 erledigen; die Familie von
+Bindestrich-Amerikanern rechts von mir spricht sogar schon
+von der Weiterfahrt heut abend nach Dresden. Mehrsprachig
+fragt der Führer neu hereingelockte Gäste, ob sie Deutsch
+verstehn und ob sie schwerhörig sind; das ist aber keine
+Beleidigung, sondern betrifft nur die Platzverteilung. Vorn
+hat man mehr Luft, hinten versteht man besser.
+
+Auf weißer Fahne vor mir steht in roter Schrift: *Sight
+seeing*. Welch eindringlicher Pleonasmus! — Mit einmal
+erhebt sich die ganze rechte Hälfte meiner Fahrtgenossen,
+und ich nebst allen andern Linken werde aufgefordert, sitzen
+zu bleiben und mein Gesicht dem Photographen preiszugeben,
+der dort auf dem Fahrdamm die Kappe vor der Linse lüftet und
+mich auf seinem Sammelbild nun endgültig zu einem Stückchen
+Fremdenverkehr macht. Fern aus der Tiefe streckt mir eine
+eingeborene Hand farbige Ansichtskarten herauf. Wie hoch wir
+thronen, wir Rundfahrer, wir Fremden! Der Jüngling vor mir,
+der wie ein Dentist aussieht, ersteht ein ganzes
+Album, erst zur Erinnerung, später vermutlich fürs
+Wartezimmer. Er vergleicht den Alten Fritz auf Glanzpapier
+mit dem ehernen wirklichen, an dem wir nun langsam entlang
+fahren. Er sitzt recht hoch zu Roß in unvergeßlicher
+Haltung, die Hand unterm weiten Mantel in die Seite gestemmt
+mit dem Krückstock, den berühmten Dreispitz etwas schief auf
+dem Kopf. Er schaut weit über uns weg auf Pilaster und
+Fenster der Universität, einst seines Bruders Schloß.
+Wohlwollend sieht er gerade nicht aus, soweit wir das von
+unten herauf beurteilen können. Wir sind fast in Augenhöhe
+mit der gedrängten Helden- und Zeitgenossenschar seines
+Sockels. Die hat’s etwas eng zwischen Reliefwand und
+Steinabhang. Zusammengehalten wird sie von den vier
+Reitersleuten an den Sockelecken, die keinen mehr
+herauflassen würden. Nun gleiten wir an der langen Front der
+Bibliothek entlang auf der Sonnenseite. Hinter Markisen
+eleganter Läden lockt Seidenes, Ledernes, Metallenes. Die
+Spitzengardinen vor Hiller erwecken ferne Erinnerungen an
+gute Stunden, an fast vergessenen Duft von Hummer und
+Chablis, an den alten Portier, der so diskret zu den
+*Cabinets particuliers* zu leiten wußte. Ich reiße mich los,
+— bin doch Fremder — um gleich wieder eingefangen zu sein.
+Reisebüros, Schaufensterrausch aus Weltkarten und Globen,
+Zauber der grünen Heftchen mit den roten Zetteln,
+verführerische Namen fremder Städte. Ach, all die seligen
+Abfahrten von Berlin! Wie herzlos hat man doch immer wieder
+die geliebte Stadt verlassen.
+
+Aber nun aufgepaßt. Wir biegen in die Wilhelmstraße ein.
+Unser Führer verkündet in seltsam amerikanisch klingendem
+Deutsch: Hier kommen wir in die Regierungsstraße
+Deutschlands. Still ist es hier, fast wie in einer
+Privatstraße. Und altertümlich einladend stehen vor der
+diskreten gelbgetünchten Fassade, hinter der Deutschlands
+Außenpolitik gemacht wird, zwei großscheibige Laternen. Was
+für ein sanftes Öllicht mag darin gebrannt haben zur Zeit,
+als sie zeitgenössisch waren? Eines dieser braunen
+Eingangstore, die mit geschnitztem Laubwerk geziert sind,
+führte einstmals in die Wohnung der gefeierten Tänzerin
+Barberina zu einer Zeit, als sie nicht mehr tanzte und eine
+Freiin Barbara von Cocceji geworden war. Und über ein
+Jahrhundert später von 1862 bis 1878 hat Bismarck hier
+gewohnt. Da war das kleine Arbeitszimmer mit den
+dunkelgrünen Fenstervorhängen und dem geblümten Teppich und
+daneben der Speisesaal, in dem die Emser Depesche verfaßt
+worden ist. Später zog er dann ins Palais Radziwill, wo auch
+heute noch der Reichskanzler wohnt, friedlich hinter einem
+Gartenhof wie ein paar Häuser vorher der Reichspräsident.
+Aber unser Führer erlaubt nicht in diesen Frieden zu
+versinken, er reißt den Blick zu dem mächtigen
+Gebäudekomplex gegenüber hin und ruft selbst verwundert:
+‚Alles Justiz!‘ — ‚Und hier,‘ fährt er fort, ‚vom Keller bis
+zum Dach mit Gold gefüllt, das Finanzministerium.‘ Das ist
+ein Witz, über den nur die richtigen Fremden lachen können.
+Ich tröste mich an der schönen Weite des Wilhelmplatzes, an
+des Kaiserhofs flatternden Fahnen, an dem grünen Gerank um
+die Pergolasparren des Untergrundbahneingangs und an General
+Zietens gebeugtem Husarenrücken.
+
+Ein Gewirr von Türmen, Buckeln, Zinnen und Drähten:
+‚Leipziger Straße, die größte Geschäftsstraße der
+Metropole!‘ Aber die durchkreuzen wir einstweilen nur. Wir
+fahren die Wilhelmstraße weiter vorbei an vielen
+Antiquitätenläden (Erinnerung taucht auf an die
+verbrecherisch schöne Inflationszeit. Weißt du noch,
+Wendelin, Herrn Krotoschiner damals in seinem Laden zwischen
+dem Pommerschen Schrank und dem Trentiner Tisch auf den
+Wappenstuhl starrend!), vorbei am Architektenhaus (ältere
+Erinnerung an strebsame Jugendzeit, da man nichts zu tun
+brauchte als zu lernen, und hier gab’s viel lehrreiche
+Vorträge in dem Saal, wo die Fresken von Prell auf uns
+herabschauten; besonders jener Pfahlbautenmensch ist mir
+unvergeßlich, der sich dort auf dem Wandbild den aus
+Vischers ‚Auch Einer‘ berühmten weltgeschichtlichen
+Schnupfen holte).
+
+Das Palais des Prinzen Heinrich, vor dem wir einen
+Augenblick halten, um durch die schöne Säulenhalle auf den
+alten Hof und die alten Fenster zu sehn, und seine
+schlichten mit dienender Tugend sich anschließenden Gebäude
+haben die hellbräunliche Farbe, die dem Dichter Laforgue an
+vielen Berliner Palais auffiel, als er in den achtziger
+Jahren des vorigen Jahrhunderts als Vorleser der Kaiserin in
+Berlin war, er nennt sie *couleur café au lait* und sie
+erscheint ihm als der vorherrschende Farbton der Kapitale.
+Für die Welt der Wilhelmstraße und viele Teile der älteren
+Stadt gilt das noch heut.
+
+An den altvertrauten Museen der Prinz Albrechtstraße hält
+unser eiliger Wagen nicht. Die meisten Insassen schauen
+hinüber in den großen Garten hinter dem Landtagsgebäude. Ich
+sehe in die Fenster, hinter denen die schönen
+Kostümbildermappen der herrlichen Lipperheideschen Sammlung
+in der Staatlichen Kunstbibliothek auf ruhevolle Betrachter
+warten. Am liebsten möchte ich aussteigen und zu den
+befreundeten Bildern gehen, aber heute habe ich
+Fremdenpflichten, darf auch in Gedanken nicht zu lange bei
+dieser Stätte des alten Kunstgewerbemuseums verweilen, die
+soviel Auswanderung erlebt hat. Der größte Teil der
+Sammlungen ist jetzt im Schloß. Und die Karnevalsfeste der
+Kunstgewerbeschüler, einst die schönsten von Berlin, finden
+jetzt, da die Kunstschulen nach Charlottenburg verlegt sind,
+im dortigen Hause statt, und als richtiger *Laudator temporis
+acti* finde ich natürlich, daß sie dort nicht so schön sein
+können, wie sie hier waren. Ach, selbst die kleinen Feste,
+die nach Verlegung der Kunstschule hier noch im Dachgeschoß
+sich abspielten, sind unvergeßlich. Wir gleiten an der
+bauchigen Hochrenaissance des Völkerkundemuseums vorbei.
+Auch dies wird nur beim Namen genannt und nichts gesagt von
+Turfan und Gandhara, von Inka und Maori. Vielmehr verkündet
+unser Sprecher schon von weitem: ‚Vaterland, Café Vaterland,
+das größte Café der Hauptstadt!‘ Die Fremden stieren auf die
+große Prunkkuppel des Baues, und die, welche bereits
+abendliche Berliner Erfahrungen haben, raten den andern,
+dieses Monsteretablissement mit all seinen Abteilungen, dies
+kulinarische Völkermuseum von Kempinski und seine Panoramen
+in nächtlicher Bestrahlung zu besichtigen.
+
+Ja, das sollen sie. Was helfen ihnen unsre alten Paläste und
+Museen? Sie wollen doch das Monsterdeutschland. Also nur da
+hinein heute abend, meine Herrschaften, in das alte
+Piccadilly, jetzt Haus Vaterland! Da wird euch
+Vaterländisches und Ausländisches vorgesetzt. Hat Sie der
+Fahrstuhl aus dem prächtigen Vestibül hinaufgetragen, so
+können Sie bei dem üblichen Rebensaft von der Rheinterrasse
+bequem ins Panorama blicken, wo Ihnen über Rebenhügeln,
+Strom und Ruine ein Gewittersturm erster Klasse vorgeführt
+wird. Heitert sich der Himmel wieder auf, so tanzen Ihnen
+rheinische Girls unter Rebenreifen eins vor und samtjackige
+Scholaren singen dazu. Das müssen Sie gesehen haben. Von da
+taumeln Sie, bitte, in die Bodega, wo Ihnen merkwürdige
+Mannsleute mit bunten Binden um Kopf und Bauch was Feuriges
+bringen, um Sie in eine spanische Taverne zu versetzen. Die
+beiden schüchternen Spanierinnen aus der Ackerstraße dort in
+der Ecke werden durch Tanzvorführungen Ihre Stimmung
+erhöhen. Beim Betreten der Wildwestbar werden Sie laut
+Programm die ganze Romantik der amerikanischen Prärie
+empfinden. Kaufen Sie sich auf alle Fälle ein Programm! Da
+wissen Sie gleich, wie Ihnen zumute zu sein hat. Was tut im
+Grinzinger Heurigen das liebliche Wien? Es liegt in der
+Abenddämmerung vor den Augen des Beschauers. Wozu laden vor
+der sonnendurchglühten Puszta ungarische Weine ein? Zum
+Verweilen. Was empfängt uns im Türkischen Café?
+Märchenzauber aus Tausendundeiner Nacht. Versäumen Sie
+nicht, dort auf den Taburetts zu sitzen an Tischen mit echt
+arabischen Schriftzeichen darauf, und den stärksten aller
+berlinisch-türkischen Mocca double zu
+trinken. In der Glaswand, die das Bosporuspanorama abtrennt,
+können Sie Ihren Nachbarn, den Herrn mit der papiernen
+Zigarrenspitze, so gespiegelt sehn, als säße er an dem Tisch
+mit der Wasserpfeife, der schon zum Vordergrund des Bildes
+gehört.
+
+Aber nun bekommen Sie Bierdurst und finden in das Münchner
+Löwenbräu, das laut Programm ‚lebensfreudig eingerichtet‘
+ist. Die aufwartenden Madeln, die Ihnen zuliebe noch
+bayrischer als bayrisch reden, tragen Strohhüte mit Federn,
+blaue Jacken, geraffte, gestreifte Röcke und jodeln
+bisweilen ermunternd mit, wenn die Musik es nahelegt. Die
+wird von den Herren Buam in Hosenträgern gemacht. Auf ihre
+Hosenbeine ist bauchabwärts bayrisches Kunstgewerbe
+tätowiert. Da ist ja auch das künstlerisch ausgeführte
+Glasfenster mit Ausblick auf die ‚wildromantische Szenerie
+des Eibsees‘. Und schon geht’s los mit der Attraktion. Der
+Saal verdunkelt sich. Am Eibseehotel gehn die Lichter an.
+Auch Alpenglühn wird von der Direktion, die keine Kosten
+scheut, geboten. Sobald der Saal hell wird, beginnt ein
+Trio, Bua, Madl und Depp, ganz wie auf der weiland
+Oktoberwiesenausstellung am Kaiserdamm. Dabei zerschlagen
+die beiden Nebenbuhler, einer auf des andern Kopf, richtige
+Tonnen. Ja, ja, die Direktion scheut keine Kosten. Wollen
+Sie noch in den großen Ballsaal, der sich ‚dem Glanz der
+schönsten Säle der Welt würdig an die Seite stellen‘ kann,
+wollen Sie ‚Tanzgelegenheit auf schwingendem Parkett‘, so
+müssen Sie drei Mark extra zahlen, die werden Ihnen aber auf
+Speisen und Getränke angerechnet. Dafür sehen Sie in einen
+buntgeschliffnen Spiegelhimmel; Palmenschäfte tragen als Säulen
+den Saal. Und ‚deutsche Girls‘ streifen, wenn sie zum
+Auftreten eilen, mit ihren Gazeschleiern dicht an Ihnen
+vorüber. Es tanzt für Sie ein badehosiger starker Jüngling
+mit einer Dame, die außer der Badehose nur noch eine Art
+Büstenhalter trägt, tanzt mit ihr, wirbelt sie, während sie
+nur mit Knöchelschleife um seinen Hals hängt, hantelt mit
+ihr. Die deutschen Girls aber rutschen als Ruderballett auf
+dem Boden hin und singen von unserer Zeit, der Zeit des
+Sports.
+
+Nun haben Sie wohl ein bißchen Linderung von soviel
+Darbietungen. Da, wo überlebensgroß am Fenster der Teddybär
+steht, den die vorüberstreifenden Mädchen umarmen, gehn Sie
+auf den offnen Balkon und sehn in heller Nacht schön
+altberlinisch, gelblichbraun, mild nüchtern den Potsdamer
+Bahnhof, denselben, auf den jetzt am Tage unser Sprecher
+zeigt.
+
+Über die Freitreppe zur Station gehen Ausflügler in hellen
+Röcken und Waschkleidern. Die Glücklichen, es ist ein so
+schöner Herbsttag. Manche gehn auch den schmalen Durchgang
+hinüber zu dem kleinen Wannseebahnhof. Ich möchte ihnen am
+liebsten nachlaufen. Ein Segelboot oder auch nur ein
+Paddelboot. Oder nichts als ein Gang durch einen der
+Potsdamer Parke. Potsdam und die Havelseen, die heimliche
+Seele, das irdische Jenseits von Berlin! Noch dazu heut, an
+einem Wochentag. Aber nun kommen wir auf den Potsdamer
+Platz. Von dem ist vor allem zu sagen, daß er kein Platz
+ist, sondern das, was man in Paris einen *Carrefour* nennt,
+eine Wegkreuzung, ein Straßenkreuz, wir haben kein rechtes
+Wort dafür. Daß hier einmal ein Stadttor und Berlin zu Ende
+war und die Landstraßen abzweigten, man müßte schon einen
+topographisch sehr geschulten Blick haben, um das an der
+Form des Straßenkreuzes zu erkennen. Der Verkehr ist hier
+offiziell so gewaltig auf ziemlich beengtem Raum, daß man
+sich häufig wundert, wie sanft und bequem es zugeht.
+Beruhigend wirken auch die vielen bunten Blütenkörbe der
+Blumenfrauen. Und in der Mitte steht der berühmte
+Verkehrsturm und wacht über dem Spiel der Straßen wie ein
+Schiedsrichterstuhl beim Tennis. Seltsam verschlafen und
+leer sehn jetzt am hellen Mittag die riesigen Buchstaben und
+Bilder der Reklamen an Hauswänden und Dächern aus, sie
+warten auf die Nacht, um zu erwachen. Scharf und glatt,
+jüngstes Berlin, zieht das umgebaute Haus, das die
+altberühmte Konditorei Telschow birgt, seine gläsernen
+Linien. Das Josty-Eck bleibt noch eine Weile alte Zeit. Aber
+an der andern Seite der Bellevuestraße wächst — einstweilen
+noch hinter hoher plakatbedeckter Wand — etwas ganz Neues
+herauf, ein Warenhaus mit einem Pariser Namen. Ob es so
+schön werden wird, wie da drüben hinterm Laub des Leipziger
+Platzes Messels Meisterwerk, das Haus Wertheim? Die
+Bellevuestraße, in die wir schnell einen Blick werfen
+dürfen, wird immer mehr eine *‚Rue de la Boëtie‘* von
+Berlin. Kunstladen gesellt sich zu Kunstladen. Und davon
+werden auch die Schaufenster der Modegeschäfte immer
+erlesener, immer mehr Stilleben. Und das kommt sogar den
+großen und kleinen Privatautos zugute, die in der Bucht der
+Auffahrt vor dem Hotel Esplanade warten. Ihre Karosserien,
+immer besser werdende Kombinationen von Hülle und Hütte,
+haben wunderbare Mantelfarben.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Grünes Licht am Verkehrsturm. Wir umkreisen den Potsdamer
+und fahren an den weißen Säulen der beiden Tortempelchen
+vorbei den Leipziger Platz entlang. Rechts und links von dem
+erzenen General Brandenburg, der, wie der Berliner Volkswitz
+behauptet, mit seinem Visavis, dem General Wrangel, über das
+Wetter spricht (‚Was für Wetter ist heut‘, fragt Wrangel und
+streckt die Hand mit dem Feldmarschallstab etwas vor. ‚So
+hoher Dreck‘, erwidert Brandenburg mit flachgehaltener
+Rechten), neben diesem Kriegsmann stehn wieder in langer
+Reihe die Blumenfrauen. Vor uns der Seiteneingang und die
+stolzsteigenden schmalen Pfeiler und Metallzierate des
+Warenhauses Wertheim. Von den neuen strahlenden Stoffen
+seiner hohen Schaufenster wandert der Blick hinüber zu den
+zartbunten und weißen Schüsseln, Tellern und Schalen aus
+Altberliner Porzellan drüben im Hause der staatlichen, einst
+königlichen Manufaktur.
+
+Recht leer und wie zu vermieten sieht das lange Herrenhaus
+aus, es soll zurzeit in Ermangelung von Herren ein bißchen
+Staatsrat und Volkswohlfahrt darin untergebracht sein. Auch
+das benachbarte Kriegsministerium ist ziemlich ehemalig.
+Selbst die meisten Reichswehrangelegenheiten werden anderswo
+erledigt. Wie Spielzeug von weiland Fürstenkindern, in deren
+Schlössern und Gärten man ja auch die
+kleinen Spielkanonen sehen kann, stehn überm Portal ein paar
+steinern winzige Soldaten in altertümlicher Uniform. Überm
+Postministerium, das uns der Cicerone an der nächsten Ecke
+zeigt, schleppen sich einige Giganten oder Atlanten mit
+einer mächtigen steinernen Weltkugel, die ihnen hoffentlich
+nicht verkehrstörend auf die Straße fallen wird. Solcher
+Weltkugeln gibt es mehrere in Berlin, sie gehören mit zu den
+Schrecken der letzten Jahre des vergangenen Jahrhunderts,
+die jetzt an vielen Privatgebäuden in großartiger
+Aufräumearbeit weggeputzt werden. Ich kenne persönlich eine
+in der größten Geschäftsstraße von Schöneberg, die auf hohem
+Eckhause über buckelndem Zwiebelgetürm schräg als
+Glasveranda liegt. Diese und eine nicht minder stattliche im
+bayrischen Viertel sind aus Glas. Und da sie nicht einmal
+von zuverlässigen Giganten gestützt werden, wie hier die
+über dem Postministerium, fürchte ich immer, daß sie noch
+einmal herunterkugeln, und hoffe, sie werden beim nächsten
+Großreinemachen beseitigt. Man könnte sie ja dann in ein zu
+gründendes Museum der neowilhelminischen Architektur und
+Plastik unterbringen, wohin sich vieles, was jetzt an
+öffentlichem und Privatprunk störend herumsteht, entfernen
+ließe. Das beste an diesem gewaltigen Eckhaus ist drinnen
+eine Sammlung alter Verkehrsmittel; da gibt es Postkutschen
+und erste Eisenbahnen *en miniature*, vor allem aber eine
+Menge alter Briefmarken und Stempel, ein Erinnerungsfest für
+jeden, der als Kind Thurn und Taxis und Alte Preußen, den
+Kolibri von Guatemala und den Schwan von Australien
+‚getauscht‘ hat,
+
+Zur Rechten und zur Linken rundet sich an dieser Ecke die
+Mauerstraße, angenehme Unterbrechung in dieser Welt der
+rechten Winkel. Ihre Kreislinie bezeichnet die Strecke einer
+alten Stadtmauer, und der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm
+I., der die ganze Friedrichstadt mit hübsch in Reih und
+Glied stehenden Häusern hat bebauen lassen, soll seinen
+Verdruß an den unvermeidlichen Rundungen der alten Straße
+gehabt haben. Eh wir noch eine der beiden gleichfalls
+rundlichen Kuppelkirchen deutlicher gesehen haben, zur
+Rechten die Bethlehemskirche, zur Linken Schleiermachers
+Wirkensstätte, die Dreifaltigkeitskirche, fährt unser Wagen
+schon weiter. Und statt auf alte Kirchmauern haben wir auf
+Pelz, Leinen, Seide und Stahl der prächtigen Auslagen zu
+schauen. Bevor aber die gewaltigen nackten Steinmädchen über
+dem Portal uns in das riesige Warenhaus Tietz locken können,
+biegen wir in der Richtung auf den Gendarmenmarkt ein. Schon
+von weitem haben die beiden patinierten Kirchenkuppeln und
+das grüne Flügelpferdchen auf dem Dach des Schauspielhauses
+gegen den lichten staubblauen Himmel geleuchtet. Nun halten
+wir. Ich starre auf ‚Bühneneingang‘. Ihr andern, ihr
+richtigen Fremden, habt hier nie als Schüler gewartet, um
+die hehre Darstellerin der Jungfrau von Orleans herauskommen
+zu sehn. Ihr bekommt die beiden Kirchen mit den berühmten
+Gontardschen Kuppeltürmen, die Friedrich der Große anbauen
+ließ, gezeigt und eingeprägt, daß die eine der deutsche, die
+andre der französische Dom ist. Die beiden Türme sind
+erheblich stattlicher als die zugehörigen älteren Kirchen,
+die sich schüchtern neben ihnen ducken. Dafür ist das
+Schauspielhaus, das Schinkel auf den stehengebliebenen Mauern nach dem
+großen Brande, welcher das frühere Nationaltheater der
+Ifflandzeit zerstörte, errichtet hat, eine wunderbare
+Einheit. Die schöne Freitreppe zu der stolzen Vorhalle mit
+den schlanken ionischen Säulen! Hinaufgegangen ist man sie
+zwar nie. Für die einfachen Besucher gab’s da unten unterm
+Durchgang den Zuweg. Die Freitreppe war am Ende für den
+Hofstaat reserviert, zur Zeit, als dies noch ein königliches
+Theater war. Der Begas-Schiller steht etwas unglücklich vor
+dem Ganzen. Er wäre hier wohl lieber ein braver
+moosansetzender Brunnentriton geworden als so in der Toga
+und mit mehreren prätentiösen Damen am Sockel, welche Lyrik,
+Drama, Geschichte und Philosophie vertreten, immer geradeaus
+repräsentieren zu müssen.
+
+Die Fremden werden auf die Preußische Staatsbank, die alte
+‚Königliche Seehandlung‘, aufmerksam gemacht, indessen
+schiele ich hinüber nach der berühmten Weinstube, in der
+Ludwig Devrient mit E. Th. A. Hoffmann gezecht hat. Der
+wohnte hier an diesem Platze zur Zeit, als noch lauter
+Immediatbauten den Gendarmenmarkt umgaben. Und ‚Des Vetters
+Eckfenster‘ muß man sich auch hierhin denken und ihn dazu,
+wie er in seinem Warschauer Schlafrock und die große Pfeife
+in der Hand den munteren berlinischen Markt übersah.
+
+Wir biegen um eine Ecke und sind wieder auf einem dieser
+merkwürdig schrägeckigen Plätze, die in alter Zeit Bastionen
+der Stadtmauer waren. Er heißt Hausvogteiplatz und früher
+war in der Nähe ein garstiges Haus, das in den vierziger und
+fünfziger Jahren politische Gefangene vergitterte. Jetzt ist
+ein fleißiges Geschäftsviertel rings umher. Altertümlich ist
+hier nur noch der Grundriß, hier beginnt die Gegend der
+verschiedenen Wallstraßen und das Gelände des alten
+Friedrichwerders, dieses dritten Berlin neben dem, das
+jenseits beider Flußarme liegt, und dem näheren Cölln an der
+Spree. Hier könnten wir rechtshin fahren, erst an den
+Engelchen vorbei, die in den Fensterkreuzen des Hospitals
+der Grauen Schwestern von der heiligen Elisabeth beten, und
+weiter in die Alte Leipzigerstraße und die wunderlichen
+Winkel bei Raules Hof. Statt dessen lenkt unser Gefährt auf
+breiterem Damme gen Norden, vorbei an dem rötlichen
+Mauerwerk der Reichsbank, einem Werke Hitzigs, des Erbauers
+der Börse, der für das reicher werdende Berlin der sechziger
+und siebziger Jahre eine Art gediegener Renaissance für
+Handel und Industrie schuf, die den bescheidenen
+Klassizismus der letzten Schinkel-Schüler ablöste, immer
+noch besser war als das, was hinterdrein kam, aber doch den
+Weg ins Wilhelminische Spiel mit alten Stilen vorbereitet
+hat. Noch recht unschuldig ist dagegen die sogenannte
+‚modifizierte Gotik‘, in welcher Schinkel Ende der zwanziger
+Jahre die Friedrich Werdersche Kirche am Werderschen Markt,
+unserm nächsten Ziel, erbaut hat. Das ist ein brav
+altpreußisches Werk, hat den braunen Backsteinton, wie ihn
+in unserer guten Stadt eine ganze Reihe Kirchen und Bahnhöfe
+haben, mehr pflichtgetreu als fromm aussehend, mehr an ‚Treu
+und Redlichkeit‘ als an Mystik gemahnend. Ein strenger
+Erzengel tötet überm Portal einen unbefugten Drachen und
+schaut dabei nicht träumerisch ins Weite wie seine älteren
+Vettern aus Holz, Stein und Farbe, sondern
+zielend auf sein Opfer. Ob ihm dabei wohl manchmal die
+eleganten Verkäuferinnen und Besucherinnen des großen
+Modehauses gegenüber zuschauen? Ob sie es sympathisch
+finden, daß er so beschäftigt ist mit seiner Mission oder es
+lieber hätten, er träumte ein wenig ins Ungewisse, und
+herüber?
+
+Über die Schleusenbrücke und den Schloßplatz. Denen, die die
+Hälse nach dem stolzen Bau recken, verspricht der Führer,
+daß wir nachher wieder hierher kommen, doch jetzt erst eine
+kleine Tour durch Alt-Berlin machen wollen. Die muß leider
+etwas eilig ausfallen, denn wir haben noch so viel zu
+absolvieren. Ich aber rate dir, lieber Fremdling und
+Rundfahrtnachbar, wenn du noch einmal in diese Gegend kommst
+und Zeit hast, dich hier ein wenig zu verirren. Hier gibt es
+noch richtige Gassen, noch Häuserchen, die sich
+aneinanderdrängen und mit ihren Giebeln vorlugen, gar nicht
+weiter berühmt außer bei ein paar Kennern und auch nicht so
+leer oder nur so am Rande besiedelt, wie es die richtig
+sehenswürdigen Häuser sind. Nein, sie sind dicht bewohnt
+von ahnungslosen Leuten, die durch die weit offne Haustür
+eine steile Treppe mit breitem Holzgeländer herunter kommen
+oder hinter Blumenkästen und Vogelbauern aus schöngerahmten
+Fenstern schauen. Sieh, da zur Rechten zweigt so ein Gäßchen
+ab, Spreegasse heißt es und ist Raabes Sperlingsgasse, und
+da steht auch das Haus, in dem der Dichter gewohnt hat, und
+gleich daneben weiß ich eins mit reizenden Steingirlanden
+über den Fenstern und wunderbar altgrünem Holz an Tür und
+Torfassung. Die Brüderstraße, durch die
+wir fahren, hat noch Schwung, und ihre Häuser, ob alt, ob
+neu, stehn in bewegter Kurve. Dort in das unscheinbare mußt
+du gehn. Das ist eine wichtige Berliner Stätte. Dem
+berühmten und berüchtigten Friedrich Nicolai hat es gehört.
+Die schöne Barocktreppe, die du innen sehn wirst, hat ein
+früherer Bewohner, ein Kriegskommissär, bauen lassen. Eine
+Zeitlang hat es der ‚patriotische Kaufmann‘ Gotzkowsky
+besessen, der, als er noch reich war, Berlin im
+Siebenjährigen Krieg vor Plünderung durch die Russen rettete
+und später die Porzellanmanufaktur an Friedrich den Großen
+verkaufte. Dies Haus hier kam dann, als er ruiniert war, mit
+all seinem Besitz unter den Hammer und ist noch von mehreren
+andern bewohnt worden, bis es der Buchhändler Nicolai
+erwarb. Da wurde es zum gesellschaftlichen Mittelpunkt von
+Berlin. Davon spürst du vielleicht etwas, wenn du in den
+großen Saal mit den Wandspiegeln und Paneelen kommst. In den
+kleineren Räumen aber, die jetzt ein Lessing-Museum bergen,
+haben ein paar entzückende Kinder gespielt und gelernt,
+worüber zu lesen in den unvergleichlichen Tagebüchern der
+Lily Partey, die des alten Nicolai Enkelin war. Viele
+bedeutende und manche kuriose Berliner der
+geistig-geselligen Zeit im Anfang des neunzehnten
+Jahrhunderts gingen in diesen Räumen ein und aus und waren
+zur Sommerszeit in der Gartenwohnung der Parteys zu Besuch,
+die in der Blumenstraße lag, draußen bei der Contrescarpe,
+dem späteren Alexanderplatz.
+
+Petrus ist der Patron der Fischer und nach ihm heißt die
+Kirche, um die wir jetzt herumfahren. Sie steht an der
+Stelle des Heiligtums der Fischer von Alt-Cölln. Einem andern
+heiligen Wesen, an dem das Herz der Cöllner und Berliner
+hing, ist dort auf der Brücke, über die der Weg zum
+Spittelmarkt führt, ein Denkmal, allerdings erst in neuerer
+Zeit, errichtet. Das ist Sankt Gertraudt, die Äbtissin, die
+Spitäler und Herbergen für Reisende gegründet hat. Der
+Spittelmarkt hat seinen Namen von dem Gertraudtenhospital,
+als dessen letzter Rest noch bis in die achtziger Jahre die
+kleine Spittelkirche stand, mitten auf einem idyllischen
+Marktplatz, aus dem mit der Zeit einer der
+verkehrsreichsten, von hohen Geschäftshäusern umgebenen
+Plätze der Stadt geworden ist. Vor der Heiligen auf der
+Brücke kniet ein fahrender Schüler, dem sie einen Trunk
+reicht. Sieht sie nicht, daß er eine gestohlene Gans an
+einer Leine mit sich führt, oder übersieht sie es gnädig?
+Als Freundin der Wanderer ist sie auch den Seelen der
+Verstorbenen auf ihrer Wanderschaft hold. Die verwandeln
+sich nach einer Volkssage in Mäuse und kommen in der ersten
+Nacht nach dem Tode zu Sankt Gertraudt, in der zweiten zum
+heiligen Michael und erst in der dritten in ihr
+Dauerjenseits. Daher die Mäuseschar am Sockel des Denkmals.
+Sankt Getraudt hat in der Hand einen Spinnrocken. Sie ist
+der Frau Holle und der heidnischen Gottheit, aus der die
+Frau Holle wurde, verwandt und beschützt den Flachsbau und
+die Spinnerinnen. Die Frühlingsblumen aber, die als Spende
+zu ihren Füßen liegen, bedeuten Dankgaben der Landleute,
+deren Flur und Feld die Gebieterin der Mäuse vor den Tieren,
+die unter ihrem Zauber stehen, schützt. Es ist gerade kein
+großes Meisterwerk, das Denkmal, das hier so ausführlich
+beschrieben wird, aber es passiert soviel darauf, daß man
+davon berichten kann wie Pausanias von dem heiligen
+Steinwerk Griechenlands.
+
+Die Gertraudtenstraße führt uns zum Cöllnischen Fischmarkt,
+der einstmals der Hauptplatz von Cölln an der Spree war.
+Hier stand bis vor dreißig Jahren das Cöllner Ratshaus. Aber
+ein putzigeres Gebäude aus älterer Zeit ist schon seit
+Jahrhunderten verschwunden. Das Narrenhäuslein meine ich, in
+das man in alten Tagen die Betrunkenen brachte, damit sie
+ihren Rausch ausschlafen konnten. Wenn das Narrenhäuslein
+nicht mehr steht, so gibt es doch nicht weit von hier ein
+uraltes Haus, in dem es auch recht närrisch zugehen kann.
+Das ist am Ende der Fischerstraße, die an alten Gassen
+vorbei vom Fischmarkt zu der Friedrichsgracht führt, das
+Gasthaus zum Nußbaum. Man behauptet, es sei Berlins ältestes
+Haus und es sollen hier schon die Landsknechte mit
+berlinisch-cöllnischen Dirnen gezecht haben. Es hat einen
+hohen mittelalterlichen Giebel. Wer es richtig kennen lernen
+will, der muß spät abends hingehen. Da ist eine seltsam
+gemischte Gästeschar versammelt. Seidenbluse und Schürze
+sieht man nebeneinander am selben Tisch und Fischer- und
+Fuhrmannskittel neben Bratenröcken. An der Wand hängen unter
+alten Gastwirtsdiplomen echte Zille-Bilder, vom Meister
+selbst geschenkt. Hier habe ich zum ersten Male die
+neuerdings veränderte Loreley singen hören mit den
+schmetternden Strophenanhängseln:
+
+ | ‚Sie kämmt sich mit dem Kamme,
+ | Sie wäscht sich mit dem Schwamme‘
+
+und die Bekanntschaft von Ludeken gemacht, die sich selbst
+‚eine Alte von Zille‘ nennt, zu allem, was sie sagt, den
+Finger geheimnisvoll an den Mund legt und, wenn sie munter
+wird, abwechselnd ihre Papiere und ihre weiße Unterwäsche
+zeigt. Sie bekommt von aller Welt zu trinken, gießt aber
+doch noch heimlich in ihrer Ecke die Neigen einiger Gläser
+zusammen. Tanzen tut sie auch manchmal mit Kavalieren oder
+allein, und das ist ein erbaulicher Anblick. Nur wenn ihr
+‚Chef‘ kommt, hockt sie sich brav in ihre Ecke. Der Chef ist
+einer, dessen Pferde Ludeken in aller Morgenfrühe betreuen
+und füttern muß; und dazu nüchtern zu sein, ist nicht
+leicht.
+
+Unser Wagen rollt über den Mühlendamm, das ist die Brücke,
+die Cölln und Berlin verband, als es noch ihrer zwei waren,
+verband und trennte. Denn auf dieser Stelle haben sich die
+Bürger der Nachbarstädte des öftern die Köpfe blutig
+geschlagen. Am Brückenrand stehen zwei bronzene Markgrafen:
+Albrecht der Bär und Waldemar. Sie sind einem nicht gerade
+im Wege, aber sie brauchten nicht unbedingt hier zu stehen,
+sie haben ja schon ihren Standort in unserer kompletten
+Siegesallee. Hübsch muß, nach den alten Bildern zu
+schließen, dieser Mühlendamm gewesen sein, als noch
+Bogenhallen und Trödlerläden hier waren. Und die Mühlen
+selbst waren gewiß auch erfreulicher anzusehen, als es das
+städtische Dammühlengebäude ist, diese falsche Burg aus den
+neunziger Jahren, in der jetzt eine städtische Sparkasse
+untergebracht ist. Wenn sich das große Bauprojekt für das
+Berliner Wasserstraßennetz verwirklichen und die
+Mühlendammschleuse umgebaut
+werden wird, um den Ansprüchen größerer Schiffe zu genügen,
+wird unter anderm auch dies Gebäude fallen, und dann gibt es
+schöne Aufgaben für unsere Stadtbaumeister und Architekten.
+
+Wir halten auf dem Molkenmarkt. Da fällt uns ein schönes
+Haus aus friderizianischer Zeit auf, das Palais Ephraim, das
+des großen Königs berüchtigter ‚Münzjude‘ erbauen ließ, der
+Verfertiger der minderwertigen Friedrichdors, der
+sogenannten ‚Grünjacken‘, von denen man reimte:
+
+ | Von außen schön, von innen schlimm,
+ | Von außen Friederich, von innen Ephraim.
+
+Innen kann man das schöne Haus nicht besehen, da sitzen
+Behörden. Außen bildet es als Eckhaus mit seinen auf
+toskanischen Säulen ruhenden Balkonen, den korinthischen
+Wandpfeilern, den zierlichen Putten überm Gitterwerk ein
+wunderbares Halbrund. Um den Molkenmarkt herum lag die
+älteste Ansiedlung auf der berlinischen Seite der Spree, und
+hier finden wir auch die einzige ganz erhaltene
+mittelalterliche Gasse, den oft beschriebenen und oft
+abgebildeten Krögel, der so berühmt ist, daß unser Wagen vor
+seiner Einfahrt hält und die Insassen aussteigen und den
+schmalen Gassengang nach dem Wasser zu gehn. Ursprünglich
+soll hier ein schon in alter Zeit zugeschütteter Kanal oder
+Spreearm gewesen sein, der dem Verkehr vom Markte und
+Packhof zum Flusse diente. Ein Torweg führt in den inneren
+Hof der Gasse. Hier war im Mittelalter das einzige Badehaus
+von Berlin. Da bedienten den Badenden die Töchter der Stadt,
+von denen man sagte, daß sie ‚an der Unehre saßen‘. Sie
+hatten eine Art Berufstracht, kurze Mäntel, und mußten ihr
+Haar kurzgeschoren tragen. Es war also wohl sehr
+beleidigend, als anno 1364 der Geheimschreiber des
+Erzbischofs von Magdeburg, ein leichtfertiger Lebemann, eine
+ehrsame Bürgerstochter aufforderte, ihn nach dem Krögel zu
+begleiten, und die Wut der Bürger ist zu verstehn, die zum
+Hohen Haus zogen, wo des Bischofs Gefolge zu Gaste war, den
+Frevler von der Tafel wegrissen und auf dem Markte zu Tode
+prügelten. Zu besondern Gelegenheiten sind aber auch ehrsame
+Frauen in den Krögel gekommen. Es war Sitte, daß man die
+Brautfeierlichkeiten mit einem Bad und Frühstück beim Bader
+begann. Dann kam ein bunter, munterer Zug die alte Gasse
+herauf, voran die Musiker und der Spaßmacher. Sehr
+zartfühlend werden die Scherze nicht gewesen sein, die sich
+die Braut gefallen lassen mußte. An eine spätere Zeit
+erinnert die alte Sonnenuhr, die noch heute an einer Mauer
+zu sehn ist. Sie zeigte die Stunde den Hofleuten fremder
+Fürstlichkeiten, die hier einquartiert wurden, wenn ihre
+Gebieter beim Kurfürsten zu Gaste waren. Heut sind in den
+überhängenden Stockwerken und hinter den kleinen Fenstern
+der Erdgeschosse Werkstätten und kleine Wohnungen. Und einer
+der Anwohner dieses Restes Mittelalter besitzt ein Museum
+mit Waffen, Stichen und altem Hausrat. Zur Sommerzeit hallt
+manchmal der lustige Lärm vom neuesten Freibad herüber, das
+nach der Waisenbrücke zu und Neucölln am Wasser gegenüber
+liegt. Da hat sich aus dem Schutt der Umbauten für die
+Untergrundbahn, deren Tunnel hier aus der Spree taucht, eine
+Art Strand gebildet. Den hat sich
+junges Volk zunutze gemacht und das Freibad Paddensprung
+eröffnet. Sonst aber ist es recht still im Krögel, und wenn
+abends auch noch die Arbeitsgeräusche der Werkstätten
+verstummen, kann im späten Licht mit Fachwerk und Giebel
+hier ganz altes Berlin erstehn.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Vom lebhaften Molkenmarkt führt rund eine Gasse auf den
+stillen Platz, auf dem die älteste Kirche der Stadt steht,
+sie ist dem Schutzpatron der Reisenden und Kaufleute, Sankt
+Nikolaus, geweiht gewesen. Von ihrer älteren Mauer ist noch
+ein massiver Turmunterbau aus Granitquadern erhalten, alles
+andre verbrannte bei einem der vielen Brände, die Berlin
+verheert haben, im Jahre 1380. Die späteren Teile, Chor und
+Langschiff, sind viel umgebaut worden. Hier mußt du einmal
+wochentags mittags eintreten an Tagen, an denen die Orgel zu
+stiller Andacht spielt. Unter ihrer Masse erkennt man im
+Dämmerlicht die Umrisse eines Erbbegräbnisses, das von
+Schlüters Meißel stammt. Je länger man hinschaut, um so
+deutlicher tritt die Rundung der Vasen und barocker
+Faltenwurf hervor. Die gotische Halle hat viel große und
+kleine Kapellen mit Denkmälern aller großen Kunstepochen und
+heiligt das Gedächtnis mancher Männer, die weit über den
+Stadtbereich hinaus berühmt geworden sind. Da gibt es
+Porträts von Militärs, Pröpsten, Gelehrten, Ratsherren und
+ihren Ehegattinen. Viel bärtige Häupter in Fältelkragen und
+Allongeperücke, gekrönt von allegorischen Frauenhänden mit
+Lorbeer oder von Putten mit Sternenkronen. Auf Urnen
+rahmt Akanthus alte Wappen. Ein kleiner Amor weint über
+Stundenglas und sinkender Fackel. Unter geflügelten
+Totenköpfen erscheint auf dunklem Grund ein Bildnis,
+umringelt von der Schlange der Ewigkeit.
+
+Die Nikolaikirche ist wie die Marien- und die Klosterkirche
+protestantisch geworden, aber sie hat wie jene noch etwas
+von der alten Pracht behalten. Schade, daß es nicht mehr
+nach Weihrauch riecht in ihren Hallen. Interessant zu
+wissen, daß hier der Ablaßkrämer Tetzel gepredigt hat,
+umlagert von dem damaligen *Tout-Berlin*, das ihn mit
+Würdenträgern, Zünften, schwarzen und weißen Mönchen vom
+Stadttore abgeholt hatte.
+
+Der stille Platz, der die Kirche umgibt — diese Trauminsel
+mitten im Lärm der Großstadt — war und hieß früher
+Nikolaikirchhof und das paßte zu den vielen Grabmälern im
+Innern der Kirche und außen an der Kirchenwand. An diesem
+Platz stehen noch ein paar sehr alte Häuschen, und wenn man
+in eines geht, sieht man auf winzig kleine Höfe. In die
+Wohnungen führen steile Stiegen, manche der Häuser haben
+keine selbständige Giebelmauer, sondern sind ans Nachbarhaus
+‚angebacken‘; und eins, das sich rühmt, Berlins kleinstes
+Haus zu sein, hat zwar einen Privatmittagstisch, aber keine
+Hausnummer, und man kann es nur vom Nachbarhaus her
+betreten. Von solchen Häusern können wir bei einer Wanderung
+durch die Altstadt noch hie und da einige sehn. Sie sind oft
+nur drei Fenster breit. Die Haustür hat zwei Flügel, der
+eine öffnet sich direkt vor der Wohnung im Erdgeschoß, der
+andre stößt auf die schmale Treppe, die an der Türschwelle
+beginnt und ins obere Stockwerk steigt.
+
+Wir fahren zurück zum Mühlendamm, dann die Straße ‚An der
+Fischerbrücke‘ entlang und kommen über die Inselbrücke nach
+Neukölln am Wasser. Hier und gegenüber auf der
+Friedrichsgracht gibt es wieder einige alte Häuser, teils
+mit spitzen Satteldächern, teils mit den hübschen
+Mansardendächern der Barockzeit, mit Girlanden unter den
+Fenstern und Pilastern, die die Hausfront schön gliedern.
+Unser Wagen fährt zu eilig, um das alles anzusehn, wir
+müssen es auf eine Fußwanderung durch die Straßen und die
+nahen Gassen am Fluß verschieben. Da werden sich neben dem
+Malerischen auch einige Kuriosa finden, wie die Riesenrippe
+an einem Eckhaus des Molkenmarkts oder an einem Hause in der
+Wallstraße das Relief eines Mannes, der eine Tür auf dem
+Rücken trägt. Er wird nach der biblischen Sage vom Tore zu
+Gaza der Simson genannt. Nach einer Überlieferung soll diese
+Gestalt an die Zeit erinnern, da hier das Köpenicker Tor
+stand, dessen Haspen seinerzeit in diesem Hause aufbewahrt
+worden seien. Witziger aber ist die Deutung, die von einem
+armen Schuster zu erzählen weiß, der hier mit seiner
+kinderreichen Familie kümmerlich lebte. Als nun Friedrich
+der Große mit seinem Lotteriedirektor Casalbigi, den wir aus
+Casanovas Memoiren kennen, eine große Lotterie aufmachte,
+die ihm viel Geld eintrug und seine Bürger viel Geld
+kostete, soll dieser Schuster ein Los gekauft und, da er
+fürchtete, seine Kinder könnten es in der engen
+Schusterstube beim Spielen verbringen, mit Pech an die
+Stubentür geklebt haben. Gerade
+dieser Arme hatte Glück und zog das große Los. Um nun seinen
+Schein vorzuweisen, blieb ihm nichts übrig, als die Tür aus
+den Angeln zu heben und auf den Rücken zu laden. So wanderte
+er zur Verwunderung seiner Mitbürger zum Lotteriegebäude.
+Und nachdem er sein Geld bekommen, ließ er aus Dankbarkeit
+das Bildnis an seinem Hause anbringen. Solcher an Altertümer
+anknüpfender Geschichten gibt es auch in unserer nicht
+gerade sagenreichen Stadt einige. Die bekannteste ist die
+oft erzählte vom Neidkopf in der Poststraße, den der
+Soldatenkönig und gute Hausvater Friedrich Wilhelm I.
+anbringen ließ, eines fleißigen Goldschmieds neidisches
+Gegenüber zu bestrafen.
+
+Jetzt wollen wir im Vorbeifahren wenigstens auf die Brücken
+einen Blick werfen, Waisenbrücke, Inselbrücke und die schöne
+Roßstraßenbrücke, welche der Stadtbaurat Ludwig Hoffmann,
+dem Berlin so viel verdankt, gebaut hat. Nirgends ist die
+Spree so sehr wie in dieser Gegend ein Teil der
+Stadtlandschaft geworden und geblieben. Hoffmann und seine
+Mitarbeiter haben es verstanden, was neu zu bauen war, dem
+alten anzupassen ohne in Historismus und Abhängigkeit zu
+verfallen wie die ‚romanischen‘ Baumeister Wilhelms II. An
+einem der Meisterwerke dieses Künstlerkreises kommen wir
+jetzt vorbei, dem Märkischen Museum. Cöllnischer Park heißt
+der Garten, an dem dies stolze Bauwerk sich erhebt, und im
+Grünen lagern Säulenstücke und stehen brüchige Engel,
+zwischen denen man umherspazieren, spielenden Kindern
+zusehen oder die eine Front der Museumsburg anschauen kann.
+Um den dicken eckigen Turm sind in Backstein allerlei
+märkische Stilperioden,
+wie sie in reicher bedachten Städten, Tangermünde,
+Brandenburg usw., vertreten sind, vereinigt. Und diese
+Vielgliedrigkeit paßt gut zu dem Museumscharakter des
+Ganzen. Im Innern läßt sich reichlich Heimatskunde treiben,
+von ältester Zeit bis in Theodor Fontanes Tage. Hier kann
+man Hosemanns Kleinbürgerstadt kennen lernen, Berliner
+Zimmer aus der Biedermeierzeit sehn, eine Putzstube wie die,
+von der Felix Eberty erzählt; man könnte allerdings aus
+Berliner Privatbesitz noch viel mehr Biedermeier sammeln,
+all den rührenden Kleinkram an Etuis und Bestecks,
+Spieldosenhäuschen aus Zitronenholz, Stammbuchbildern, das
+viele herbstliche Goldgelb der Möbel aus flammender Birke
+und das Mahagoni der Schränke. Ja, ich könnte mir ein ganzes
+Museum Berliner Inneneinrichtung denken, wo als Kuriosum
+auch das späte neunzehnte Jahrhundert mit Plüsch und Nippes,
+verdunkelnden Butzenscheiben, Gipsengeln und Reisealben zu
+sehen wäre. Eine sehr reizvolle Abteilung des Märkischen
+Museums ist auch die Flora- und Faunasammlung: schöne
+Schachtelhalm- und Weidenarten, Rohr, Farren und Getreide
+und die Schnecken und die wunderbaren Ornamente der
+Wespennester.
+
+Vor dem Museum steht ein Roland, der dem Roland von
+Brandenburg nachgebildet ist. Seinen eignen Roland hat
+Berlin schon früh verloren. Er soll als Sinnbild der
+städtischen Selbständigkeit auf dem Molkenmarkt oder da in
+der Nähe gestanden haben. Und Friedrich II. der Kurfürst,
+der der Stadt ihre Macht raubte und den Bären ihres Wappens
+unter den Adler des seinen zwang, soll ihn haben fortnehmen
+und in seine Zwingburg bringen lassen. Da man aber nie ein
+Stück von diesem Roland auffand, entstand die Sage, der
+Kurfürst habe ihn in die Spree geworfen. Nun neuerdings hat
+Berlin wieder Rolande, den am Kemperplatz, welcher den
+träumerisch grünen sogenannten Wrangelbrunnen unserer
+Kindheit und seine freundlichen Meergötter verdrängt hat.
+Und den, der als eine Art Brunnenbübchen vor dem einen der
+unglücklichen romanischen Häuser an der Kaiser
+Wilhelm-Gedächtniskirche steht. Der wird aber, wie wir
+hören, demnächst dem überhandnehmenden Verkehr aus dem Wege
+geschafft werden.
+
+Wir fahren über die Waisenbrücke zurück und sehen zur
+Rechten, da, wo die alte Jannowitzbrücke abgebrochen wird,
+ein wunderbares Schauspiel aus Ruinen und Neubauwelt.
+Zwischen Kranen und Kähnen, Schuttbergen und Baggermaschinen
+schwimmt der Trümmerrest der alten Brücke, ein ‚Ponte rotto‘
+mitten in der Spree. Auch an dem Stadtbahnbogen da oben wird
+gearbeitet und sein aufgebrochenes Mauerwerk ist ein von
+Erinnerungen angeräuchertes Stück Tempel des Dampfes, dieser
+schon altertümlich gewordenen Lokomotion.
+
+Die Stralauerstraße führt uns an dem mächtigen Stadthaus
+entlang, das Ludwig Hoffmann gebaut hat. Wir blicken hinauf
+zu dem hohen Turm mit seinen zwei Säulengeschossen und der
+‚welschen Haube‘, die ihn deckt. Wir biegen in die
+Jüdenstraße ein und sehen an dem Eingang zur Festhalle des
+Stadthauses den bronzenen Bären von Wrba, der hier als
+wackeres Totemtier des Berliner Volkes Wache steht. Der gute
+Bär von Berlin, er muß durch irgend eine immerhin
+begreifliche Volksetymologie zu seiner Stadttierwürde
+gekommen sein. Denn das Wort Berlin hat nichts mit Bär zu
+tun, sagen die Gelehrten, vielmehr bedeutet es hier wie an
+mehreren andern Orten, wo Plätze so heißen, auf wendisch das
+Wehr. Und solch ein Wehr oder Wasserrechen verband in der
+wendischen Vorzeit das rechte und das linke Spreeufer, so
+daß schon vor den Zeiten des Mühlendamms eine Gemeinschaft
+zwischen den späteren Orten Berlin und Cölln bestand. Aber
+nun ist der Bär einmal unser Stadttier geworden und der von
+Wrba ist besonders sympathisch. Jetzt schaut der spitze
+grüne Turm der Parochialkirche auf uns nieder, in dem ein
+schönes Glockenspiel Sonntag und Mittwoch mittags erklingt.
+
+In der benachbarten Parochialstraße stehn ein paar uralte
+Häuschen, die bald abgerissen werden sollen. Sie sind so
+baufällig, daß die Baupolizei den Aufenthalt von Menschen
+darin nicht länger dulden kann. Man weiß aber oft gar nicht
+recht, wer da wohnt, und so werden denn die unbekannten
+Einwohner durch Anschläge aufgefordert, die Stätte zu
+räumen. Eins heißt bei den Nachbarn das Spukhaus, dessen
+‚Schwarzmieter‘ lassen sich tags überhaupt nicht sehn. Da
+sind die Fenster und Türen zum Teil schon herausgenommen.
+Ein andres ist die provisorische Stätte einer sehr
+merkwürdigen Ausstellung. Da hat ein Friedensfreund sein
+‚Antikriegsmuseum‘ aufgemacht. Als Blumentöpfe hat er vor
+dem Laden Helme aufgehängt, wie man sie im Schützengraben
+trug. In der Auslage gibt es vielversprechende Sprüche und
+Bilder. Stufen führen hinunter in einen kellerähnlichen
+Raum, der hinterwärts an ein schon im Abbruch begriffenes Stück
+Haus stößt. Ein Todesgrinsen liegt auf den Photographien
+gräßlich Verwundeter, den Waffenteilen, Geschoßstücken, den
+Mobilmachungsbefehlen und Aufforderungen zu goldnes
+Zeitalter verheißenden Kriegsanleihen. Helmchen und
+Säbelchen für die lieben Kinder zu Weihnachten, Kissen, auf
+denen gestickt zu lesen ist ‚Unserm tapfern Krieger‘,
+Erkennungsmarken, Auslandskarikaturen auf die Großen der
+großen Zeit, Seifenkarten, Brennholzscheine, ‚deutscher‘ Tee
+neben Bleisoldaten und Tassen mit der Inschrift ‚Gott strafe
+England‘. Eine lehrreiche Sammlung, die hoffentlich eine
+würdige Stätte finden wird, wenn hier alles abgerissen ist.
+
+Ein paar Schritte weiter die Jüdenstraße hinauf öffnet sich
+zwischen den Häusern ein Durchgang zum sogenannten Großen
+Jüdenhof — wie schon das Beiwort andeutet, hat es außer ihm
+ehedem noch einen kleinen nicht weit von hier gegeben, der
+inzwischen einer Straßenverbreiterung zum Opfer gefallen
+ist. Der große aber ist noch ganz vorhanden und umgibt mit
+einem Dutzend Häuser einen stillen hofartigen Platz. Vor dem
+stattlichsten der Häuser, in das eine Freitreppe mit
+Eisengitter führt, steht ein alter Akazienbaum. Unter diesem
+Baum ‚vor dem Haus mit der Treppe‘ sollen die Juden, als sie
+wieder einmal vertrieben wurden, ihr Gold vergraben haben —
+sie wußten gewiß, der Markgraf oder Kurfürst, der sie
+fortjagte, werde bald wieder seine ‚Kammerknechte‘, so
+nannte man sie, nicht entbehren können. Das war in der Zeit,
+als sie hier hinter Eisentoren hausten, die des Nachts
+verschlossen und bewacht wurden. Auf der Straße
+durften sie sich nur in ihrer Zwangsuniform, Kaftanen von
+bestimmten Farben und spitzen Hüten, zeigen. Festen Wohnsitz
+durften sie nicht erwerben, auch nicht während der Märkte
+und Messen Handel treiben, und sie mußten hohe Schutzgelder
+zahlen. Offenbar wird es ihnen hier doch gefallen haben,
+denn aus jeder Verbannung sind sie, sobald sie konnten,
+wieder hierher zurückgekehrt, haben Reichtümer erworben,
+sich verdächtigen und foltern lassen. In ausführlichen
+Darstellungen und Bildern ist die Geschichte jenes Lippold
+erhalten, der an des Kurfürsten Hof in hohem Ansehen stand,
+aber von dem Sohn und Nachfolger seines Gönners schwer
+beschuldigt und zu qualvollem Sterben verurteilt wurde. Der
+Henker im hellgrauen Hut mit der roten Binde mußte ihn auf
+dem Armesünderkarren von Stätte zu Stätte führen, wo der
+Karren an einer Ecke hielt, gräßlich martern und endlich auf
+dem Markte vierteilen. Die Gassenbuben liefen hinterdrein
+von Ecke zu Ecke, es war ein Fest für sie zuzusehen, wie der
+Henker dem Verurteilten den Staupbesen gab. Als dann
+humanere Zeiten kamen, bezogen die Juden Quartiere außerhalb
+des alten Ghettos, das nun ganz zum Idyll mitten in der
+lärmenden Stadt geworden ist.
+
+Etwas Ghettoähnliches gibt es noch heut an andrer Stelle,
+übrigens auch nur noch für kurze Zeit, denn das
+Scheunenviertel mit seinen vielen Gassen zwischen
+Alexanderplatz und Bülowplatz, das dieses Wahlghetto birgt,
+ist im Begriff, vom Erdboden zu verschwinden. Man muß sich
+beeilen, wenn man das Leben in den Straßen mit den
+merkwürdig militärischen, garnicht ans Alttestamentarische
+erinnernden Namen wie Dragoner- und Grenadierstraße, noch kennen lernen
+will. Schon erheben sich die neuen Häuserblöcke und
+überragen die Reste, die langsam Ruine werden. Aber eine
+Zeitlang gehen noch die Männer mit den altertümlichen Bärten
+und Schläfenlocken in langsamen, die schwarzhaarigen
+Fleischertöchter in munteren Gruppen den Damm ihrer Straße
+auf und nieder und reden Jiddisch. An Läden und
+Stehbierhallen sind hebräische Inschriften. Noch sind diese
+Straßen eine Welt für sich und den ewigen Fremden eine Art
+Heimat, bis sie, die vor noch nicht langer Zeit von einem
+Schub aus dem Osten hergetragen worden sind, sich soweit in
+Berlin akklimatisiert haben, daß es sie verlockt, tiefer in
+den Westen vorzudringen und die allzu deutlichen Zeichen
+ihrer Eigenart abzutun. Es ist oft schade darum, sie sind
+eigentlich so, wie sie im Scheunenviertel herumgehen,
+schöner als nachher in der Konfektion und an der Börse.
+
+Böse Zungen haben die schmale Privatstraße, die von der
+Potsdamer an alten Gärten entlang führt und zur Lützowstraße
+umbiegt, das neue Ghetto genannt. Dieses Scherzes sind die,
+welche hinter dem Gitter des Durchgangs wohnen, wohl kaum
+würdig, man wird da keinen Kaftan und keine Schläfenlocke
+finden.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Rasch fährt unser Wagen durch die Klosterstraße. Er hält
+nicht vor den Wandelgängen des alten Gymnasiums zum Grauen
+Kloster, dem ältesten Berlins. Es ist aus dem Kloster
+der Franziskaner oder Grauen Brüder hervorgegangen und
+enthält in seinen Mauern noch Konvent- und Kapitelsaal. Im
+Hofraum erhebt sich die Klosterkirche. Sie ist von dem
+großen Brande des Jahres 1380 bis auf den Turm unversehrt
+geblieben, und ihre Mauern bergen das meiste Mittelalter von
+allen Berliner Kirchen. Im dämmerigen Chor wird der Besucher
+die fünfzig Gestühle der Mönche bewundern, sie sind aus
+Eichenholz, mit reichem gewundenen Schnitzwerk geziert. Über
+ihnen sind in der Wandbekleidung geschnitzte Sinnbilder,
+merkwürdige Allegorien der Passionsgeschichte, ein Zählbrett
+mit Silberlingen, das den Verrat des Judas, zwei
+aneinandergeschmiegte Köpfe, die seinen Kuß bedeuten, Fackel
+und Laterne gemahnen an die nächtliche Verhaftung im Garten
+Gethsemane, Ketten an Jesu Fesseln, Schwert und Ohr an Petri
+Hieb nach dem Knecht der Hohenpriester.
+
+Als das Gymnasium gegründet wurde, bekam es nur die Hälfte
+der Klostergebäude, die andre, und zwar die nach dem
+sogenannten Lagerhause zu, bekam Leonhard Thurneysser, der
+Tausendkünstler aus Basel. Er hatte hier und in dem
+Lagerhause selbst seine Buchdruckerei, Schriftgießerei,
+Werkstätten für Holzschnitt und Kupferstich, er machte
+Goldtinkturen und Perlenelixiere, Amethyst- und
+Bernsteinessenzen, ja auch Schönheitswässer für die Damen
+der hohen Gesellschaft, die ihn jede einzeln in Dankbriefen
+baten, er solle doch ja keiner andern den gleichen
+Zaubersaft zukommen lassen. Man erzählte sich von ihm, daß
+er Satan in Gestalt eines Skorpions in einem Glase gefangen
+halte und daß täglich drei schwarze Mönche mit ihm speisten,
+die gewiß Abgesandte der Hölle seien.
+
+Das Lagerhaus war hervorgegangen aus dem Hohen Hause, der
+alten Markgrafenresidenz, die der erste Zollernkurfürst
+bezog und seine Nachfolger erst verließen, als ihre
+Zwingburg zu Cölln an der Spree vollendet war. Da wurde dann
+das Lagerhaus wie alles in dieser Gegend Burglehen. Was in
+diesen Burglehen hauste, war abgabenfrei, aber zum
+Schloßschutz verpflichtet. Aus den Burglehen sind die
+späteren Freyhäuser geworden, deren noch eine Reihe an den
+Inschriften überm Hauseingang kenntlich sind. Die Geschichte
+des Hohen und späteren Lagerhauses ist interessant: hier
+wurde von Friedrich II. der Schwanenorden gestiftet. Bei der
+Aufteilung kam es an einen Ritter von Wardenfels und nach
+ihm an eine Reihe Adliger und Geistlicher. Im siebzehnten
+Jahrhundert wurde es eine Zeitlang Privatbesitz, im
+achtzehnten Ritterakademie. Dann gab es Friedrich Wilhelm I.
+dem Staatsminister Johannes Andreas Kraut als Lagerhaus für
+Wollwaren. Der König, der für sein Militär kein
+ausländisches Tuch kaufen wollte, begünstigte sehr die
+Fabrik seines Getreuen. Sie ist erst im Anfang des 19.
+Jahrhunderts eingegangen. Die Räume wurden staatliche
+Dienstlokale. Eine Zeitlang war das Geheime Königliche
+Staatsarchiv darin. Jetzt steht an den Erdgeschoßfenstern
+des immer noch stattlichen Hauses ‚Zu vermieten‘.
+
+An dem mächtigen Gebäude des Land- und Amtgerichts entlang
+kommen wir zu den Stadtbahnbögen und dem Alexanderplatz, auf
+dem es zurzeit recht unordentlich aussieht,
+weil hier ein ganzes Stadtviertel eingerissen und umgebaut
+wird. Die Heimlichkeiten der Umgebung dieses Platzes zu
+erforschen, ist hier vom Fremdenwagen aus keine Zeit. Das
+muß einem Spaziergang nach dem Osten vorbehalten bleiben.
+Ein Stück Neue Friedrich- und ein Stück Kaiser Wilhelmstraße
+fahren wir bis zum Neuen Markt. Zu Fuß wären wir dahin die
+schmale Kalandsgasse gegangen und hätten uns der etwas
+rätselhaften Kalandsbrüder erinnert, von denen sie ihren
+Namen hat und deren Kalandshof hier im Schatten von Sankt
+Marien stand. Die alte Elendsgilde dieser Gesellen, deren
+Name rätselhaft bleibt (die Deutung nach calendae wird
+angezweifelt), verwandelte sich mit der Zeit aus einer nach
+gestrengen, in manchem an Templersitten gemahnenden Gesetzen
+lebenden Bruderschaft der ‚elenden Priester der Propstei‘ in
+eine recht wüste Rotte, deren Lebensweise bewirkte, daß man
+hierzulande unter ‚Kalandern‘ eine besonders wüste Art
+Müßiggang verstand.
+
+Auf dem Neuen Markt steht vor der Marienkirche ein großes
+Lutherdenkmal. Da ist der Reformator mit obligater Bibel
+nebst seinem ganzen Stabe zu sehen. Die Mitstreiter bewohnen
+sitzend und stehend den breiten Sockel des großen
+Steinwerks, und zwei sitzen sogar noch auf den
+Treppenwangen.
+
+In alter Zeit hat hier ein Galgen gestanden für Soldaten,
+die zu einem schimpflichen Tode verurteilt waren. Als er
+errichtet wurde, war gerade Peter der Große von Rußland bei
+König Friedrich Wilhelm I. zu Besuch. Der Zar interessierte
+sich sehr für das neue Hinrichtungsinstrument und bat den
+König, an einem seiner langen Kerle den Apparat
+auszuprobieren. Als der König sich entrüstet weigerte, sagte
+Peter: ‚Nun, dann können wir’s mit einem aus meinem Gefolge
+versuchen.‘ Hoffentlich haben die Monarchen von diesem
+Versuch Abstand genommen. Es ist immerhin besser, daß jetzt
+da kein Galgen, sondern nur ein Denkmal steht. Am besten
+aber stünde gar nichts oder nur die bunten Buden eines
+Marktes wie in früheren Zeiten. Die Marienkirche hat breite
+Steinquadern, Granit der Findlingsblöcke, aus der Zeit,
+bevor man in der Mark mit Backstein baute.
+
+Diese Kirche, mein lieber Fremder, mußt du dir innen
+anschauen, wenn du irgend Zeit hast. Da ist eine wunderbare
+Kanzel von Schlüter. Und das Ergreifendste an dieser Kanzel
+sind zwei große Engel, welche die Ekstase von den tastenden
+Zehen bis zu den emporgedrehten Hälsen bewegt. Im Flaum
+ihrer mächtigen Marmorflügel zittert Verzückung. In den
+Kapellen schöne Grabmonumente: hinter schmiedeeisernem
+Gitter das reichverzierte Grabmal eines Patrizierehepaars.
+Zwischen derben Engeln ein wackrer Reitersmann mit dem
+würdigen Vorbauch der Wallensteinzeit, halbleibs über einem
+Totenkopf betend. Eine süß lagernde Barockputte zeigt auf
+das Reliefbildnis einer Verstorbenen. Im Chor das große
+Grabmal des Grafen Sparr, der ein Wohltäter der Kirche war;
+ein Antwerpner Künstler soll das geschaffen haben. Der
+Feldmarschall kniet mit den bepanzerten Beinen in
+säulenumgebener Kapelle vor seinem Betpult auf einem
+Marmorkissen. Unterm Pult aber legt ein Hündchen die Pfote
+über die Leiste und schaut zu seinem Herrn hinauf. Das hat
+ihm einmal, als er auf Feldwacht war, des Feindes Ankunft
+durch Bellen verraten, darum ist es hier zu Füßen seines
+Herrn begraben. Hinter dem Grafen steht ein schöner Page und
+hält den federngeschmückten Helm seines Herrn. An Sparrs
+Türkensiege erinnern die Gestalten von Mars und Minerva, die
+da oben von rechts und links her sein Wappen halten. Zu
+ihren Füßen hocken je zwei mit Fesseln an Kanonenrohre
+geschmiedete Sarazenen. Hier wie in Sankt Nikolai und in der
+Klosterkirche sah sich der Adel und die Patrizierschaft von
+den Grabmälern der Ahnen umgeben, und sie sind eine Welt für
+sich: die aufrecht stehenden Grabsteine an den Wänden, die
+abgetretenen Sandsteinplatten, auf denen die Wappen mit den
+reichen Helmen dem Hinschauenden langsam deutlicher werden,
+die Holztafeln mit Bildern der Stifter, umgeben von steinern
+rankender Allegorie. Zu all diesem Grabgestein in der Kirche
+und an ihren Außenmauern muß man nun noch die Gräber des
+Volkes hinzudenken, die vor der Kirche auf Plätzen waren,
+über welche Herden weideten und die auch zur Bleiche oder
+als Seilerbahn dienten. Mehr und mehr sind diese Friedhöfe
+von den Kirchen abgewandert. Nur ganz wenige sind noch bei
+ihrem Gotteshaus wie der alte Parochialfriedhof. Schon unter
+Friedrich Wilhelm I. fing man an, die Begräbnisplätze der
+Gemeinden vor die Tore der Stadt zu verlegen.
+
+In der Marienkirche findet sich noch etwas, wovon ich
+sprechen muß, und zwar in der Turmhalle. Da läuft ein über
+zwanzig Meter langes Fresko die Kirchenwand hin, das man
+erst vor einem halben Jahrhundert unter der Tünche
+entdeckt hat, mit der es bilderfeindliche Zeiten verbargen.
+Vor blauem Himmel und grünem Anger bewegen sich zwischen den
+tanzführenden Toden geistliche und weltliche Gestalten.
+Neben der Kanzel des braunbekutteten Franziskaners, zu
+dessen Füßen teuflische Fratzenungeheuer den Tanz lauernd
+und musizierend verfolgen, beginnt den Reigen der Küster im
+Chorhemd, von einem Tode angefaßt, der seine Linke dem
+nächsten Geistlichen reicht, den verbindet der grausige
+Nachbar mit dem grauen Augustiner, den wieder einer mit dem
+Kirchherrn in rotem Gewand, und so geht es weiter über den
+Kartäuser, den Doktor — den zählte das Mittelalter auch zu
+der Geistlichkeit und ließ ihn mit frommem Schauer die
+Flüssigkeit in seinem Glase beschauen —, den zierlichen
+Domherrn, den feisten Abt, den prunkenden Bischof, den roten
+Hut des Kardinals bis zu des Papstes dreifacher Tiara.
+Hinter dem Papste bildet die Wand eine Ecke, und da ist der
+Tanz durch das Bildnis des Gekreuzigten unterbrochen, zu dem
+die Mutter und der Lieblingsjünger betende Hände erheben.
+Dann kommen die Weltlichen. Zunächst wird hier der Kaiser
+mit Zepter und Krone und blau-golden gekleidet vom Tode zur
+Kaiserin hingetanzt, die ihr Schleppgewand rafft. Sehr jung
+in seinen hellen Tuchschuhen ist der König. Im Harnisch muß
+der Ritter, in pelzverbrämter Schaube der Bürgermeister sich
+zum Tanze bequemen und sich’s gefallen lassen, daß, nur eine
+Todesbreite von ihm entfernt, der Wucherer, nicht minder
+vornehm und verbrämt angetan, denselben Reigen tritt. Der
+Junker in Joppe und prallem Beinkleid, der Handwerksmann im
+Kittel und ein
+armer stolpernder Bauer folgen. Den Abschluß aber macht im
+Schellenkleid der Narr. Der immer selbe und immer
+verschiedene Tod, der bald schreitend, schleifend, bald mit
+erhobenem Fuße hüpfend die Menschenkinder zum Reigen
+vereint, ist nicht eigentlich als Gerippe dargestellt wie
+auf den meisten Totentänzen, sein magerer Leib ist nur
+umrissen, nicht Skelett, auf den spitzigen Knochen seines
+Gesichtes wechseln in reicher Variation die Grimassen
+starren und belebteren Hohnes. Um die Schultern hängt ihm
+als Mantel, der seinen Leib frei läßt, das weiße Grabtuch.
+Und einmal in der Gestalt, die nach dem Heiligen Vater
+greift, ist er ganz nackt.
+
+Es ist das älteste Stück Berliner Malerei, was wir hier im
+Kirchendämmer wandentlang wandern sehen. Und in altem
+Niederdeutsch stehen, zum Teil erloschen, bittere Reime
+darunter, die von der Unabwendbarkeit des Reigens reden. Der
+ist ja nicht so berühmt wie die Totentänze von Lübeck,
+Straßburg, Basel usw., aber er hat ergreifende Realität und
+berlinische Helle und Kühle. Die Menschen, für die dieses
+Bild gemalt wurde, haben übrigens das große Sterben und
+die Lebenslust mit einem wirklich getanzten Reigen gefeiert,
+der Totentanz hieß. Der kam nach einem der großen Pestjahre
+auf, in einer Zeit, in der, wie immer nach der furchtbaren
+Seuche (und oft schon, während sie wütete, ihr zum Trotz),
+die Freude am Dasein besonders stark war. Bei diesem Tanze
+traten jung und alt unter Jubel und Gelächter zu einem
+Reigen zusammen. Plötzlich hörte die muntere Musik mit einer
+schrillen Dissonanz auf, eine leise düstere Melodie
+hob langsam an und ging in einen Trauermarsch über, wie er
+bei Begräbnissen gespielt wurde. Währenddessen legte sich
+ein junger Mann auf den Boden und blieb dort regungslos
+ausgestreckt wie ein Toter. Die Frauen und Mädchen tanzten
+um ihn herum gaben ihrer Trauer in komischer, höhnischer
+Weise Ausdruck und sangen lustig ein Trauerlied dazu, dem
+allgemeines Lachen Echo machte. Dann traten sie eine nach
+der andern an den Toten heran und suchten ihn durch Küsse
+ins Leben zu rufen. Eine Ronde der ganzen Gesellschaft
+beschloß den ersten Teil der grotesken Zeremonie. Beim
+zweiten Teil tanzten Männer und Jünglinge um eine, die die
+Tote spielte. Ging es dann ans Küssen, war des Jubels kein
+Ende.
+
+Wir kreuzen die Spandauerstraße. Eh wir südlich wenden, ein
+Blick auf die Heiligegeistkapelle. Sie ist erhalten
+geblieben, indem man ein neues Haus, die Handelshochschule,
+ihr anbaute und sie diesem Hause so einfügte, daß sich in
+ihrem tief herabreichenden Ziegeldach mit den
+Mansardenfenstern das Dach der Hochschule fortsetzt. Innen
+ist sie jetzt Vortragssaal. Zu dem gotischen Sterngewölbe
+steigen Belehrungen über Bilanz, Buchführung und Bankwesen
+empor. Im Mittelalter lag sie am Armenhospital zum Heiligen
+Geist. Viel Efeu rankt um die spitzbogigen Fenster.
+
+Wir kommen an der Hauptpost vorbei und zum Ratshaus, dem
+‚Roten Hause‘ aus Ziegelstein und Terrakotta. Den hohen Turm
+mit den schmalen Säulen an den durchbrochenen Eckvorsprüngen
+haben wir auf unserer Fahrt schon ein paarmal über alle
+Dächer ragen sehn und er wird uns noch ein ganzes
+Stück nachschauen. Von dem alten Ratshause, an dessen Stelle
+dies Gebäude in den sechziger Jahren des vorigen
+Jahrhunderts errichtet worden ist, gibt es in dem Park des
+Schlosses Babelsberg bei Potsdam noch einen Rest zu sehn,
+die Gerichtslaube mit ihrem allegorischen Zierat, dem Affen
+der Wollust, dem Adler des Raubes und Mordes, dem
+Wildschwein der Verkommenheit und einem seltsamen Vogel mit
+Menschengesicht und Eselsohren, dem blutsaugenden Vampir der
+Habsucht und des Wuchers.
+
+Nun fahren wir die Königstraße bis zur Spree und erreichen
+die ‚Lange Brücke,‘ die jetzt Kurfürstenbrücke heißt. Da
+läßt unser Führer halten, um uns das berühmte Denkmal des
+Großen Kurfürsten zu erklären. Während unten am Sockel die
+Sklaven grollend sich ducken, einer die gefesselten Hände zu
+dem stolzen Überwinder hebt, der Führer von Schlüters
+Entwurf und von Johann Jacobis Erzguß berichtet, denke ich
+an die Volkssage, nach welcher der da oben in seinem
+Imperatorenmantel auf seinem ehern schreitenden Roß in der
+Neujahrsnacht Schlag zwölf mit einem Geistersprung das hohe
+Postament verläßt und durch seine gute Stadt reitet, zu
+sehen, was aus ihr geworden ist. Vor ihm auf dem Sattel
+sitzt dann das Kind von Fehrbellin, welches er selbst aus
+dem brennenden Hause gerettet hat, in dem die Schweden alle
+andern Lebendigen erschlagen hatten, und das sein
+schützender Engel wurde. Schlag ein Uhr kehrt er auf seinen
+Sockel zurück. Unter diesem Sockel aber ruht ein reicher
+Schatz. Diesen Hort darf nur der Preußenfürst heben und der
+auch nur, wenn er in großer Not ist.
+
+Der Führer zeigt uns von hier teils rekapitulierend, teils
+ankündigend Ausblicke auf das Dammühlengebäude, das Rathaus
+und die ältesten Teile des Schlosses, den grünen Hut und die
+Schloßapotheke, erzählt uns dabei von der kleinen Zwingburg
+des zweiten Zollernkurfürsten und dem Renaissanceschloß, das
+Kaspar Theyss für Joachim II. erbaute. Das hören ein paar
+Straßenjungen mit an. Denen kommen wir armen Fremden recht
+lächerlich vor. Sie machen des Führers erklärende Gebärden
+nach und rufen ‚Det da drüben is Wasser und die ins Auto
+sind Zoologscher Jarten‘.
+
+Wir dulden still, bis der Wagen weiterfährt, um vor dem
+Neptunsbrunnen und den herrlichen Säulen und Pilastern an
+der Südfassade des schönen Schlüterbaues wieder zu halten.
+
+Etwas zu lange verweilt unser Führer bei dem Brunnen, an
+dessen Rand es immerhin eine gut lagernde Nixe mit einem
+Fischnetz im Schoße gibt, und dem ehemaligen königlichen
+Marstall drüben, von dem nur zu sagen ist, daß er stattliche
+Breiten- und Höhenmaße aufweist und jetzt eine städtische
+Bibliothek mit vielen interessanten Büchern über Berlin
+enthält. Ich bleibe während seiner Erläuterungen mit den
+Augen auf Schlüters Pilastern, Fensterfassungen und den
+Statuen über dem Gitter des Balkons. Auf diesem Balkon mußte
+am 19. März 1848 König Friedrich Wilhelm IV. erscheinen, um
+die Bürgerleichen zu sehen, die von der Breiten Straße nach
+dem Schloß angefahren wurden. Die Volksmenge sang und schrie
+und alles hatte den Kopf entblößt, nur der König hatte die
+Mütze auf, da hieß es gebieterisch ‚Die Mütze herunter!‘
+und er nahm sie ab. Die Leichen wurden durchs Schloß nach
+dem Dom gefahren. Auf dem innern Schloßhof machte der Zug
+halt und dort mußte wiederum der König auf der Galerie
+erscheinen, vieles anhören und das Haupt entblößen.
+
+Wir fahren um die Ecke und halten vor dem Eosanderportal.
+Hier zwingt der Erklärer unsere Blicke, statt sie auf diesem
+barock gesteigerten Severusbogen von Berlin zu lassen,
+hinüber zu den Steinfalten, Allegorien, trophäenraffenden
+Löwen und Umbauten des Begasschen Nationaldenkmals für
+Kaiser Wilhelm I., dem da oben eine Balletteuse sein
+Zirkuspferd gängelt, und er behauptet, das Portal und
+darüber die Kuppel der Kapelle komme erst recht zur Geltung,
+seit das Nationaldenkmal die alten Gebäude der
+Schloßfreiheit verdrängt habe.
+
+Da kann man andrer Meinung sein und sich nach dem bescheiden
+gedrängten Holz- und Mauerwerk zurücksehnen, wie man es auf
+alten Stichen sieht. Es hat gewiß das Königsschloß
+gesteigert wie in alten Städten Marktbude und angelehnte
+Häuschenschar die Kathedrale, von der sie überschattet und
+gehegt wurden in den Tagen, als echte Pracht gut inmitten
+echter Armut wohnte.
+
+Unter dem Portal ist der Eingang in das Schloßmuseum. Im
+Erdgeschoß und einem Teil des ersten Obergeschosses ist seit
+einigen Jahren Kunstgewerbe untergebracht. Es ist ja noch
+nicht lange her, da wohnten hier die Letzten von der
+Familie, der man dies Schloß gebaut hat. Wir haben sie noch
+herausfahren sehn aus den Portalen und auf dem Balkon
+stehen, von dem aus sie zu dem Volk sprechen konnten. Nun
+sind alle Räume des Riesenbaus Museum geworden. Außer den
+richtig zu Museenzwecken eingerichteten Räumen kann man nun
+auch die andern, die Königskammern und Repräsentationsräume
+und sogar die historischen Wohnräume jederzeit besichtigen.
+Meistens ist leider ein Führer dabei. Es wird einem nicht
+leicht gemacht, Schlösser anzusehn. In manchen, wie dem
+reizenden Gartenschlößchen Monbijou, welches das
+Hohenzollernmuseum birgt, kann man ungestört herumgehn und
+Krückstöcke, Uhren, Porzellan und Prunktabaksdosen des alten
+Fritzen, die Zimmer seiner Mutter, das chinesische Kabinett,
+die kuriosen Wachsbilder der Fürsten und Fürstinnen usw. in
+aller Ruhe betrachten. Aber so gut hat man es sonst in
+Berlin, Charlottenburg und Potsdam selten. Meist wird man
+geführt, und was der Führer erzählt, steht besser,
+prägnanter und wissender im Baedeker. Und was das Schlimmste
+ist, das Tempo der Betrachtung hängt ganz von ihm und seiner
+Herde ab. Wenn man nicht Gelegenheit zu einer Sonderführung
+bekommt, bleibt einem also nichts übrig, als auf gut Glück
+vor einem schönen Möbel oder Bilde zu verweilen, während der
+Fremdenwärter sein Sprüchlein über den ganzen Saal aufsagt.
+Manchmal empfiehlt sich’s auch, statt der Altertümer die
+drollige Gegenwart des Kunst- und Fürstenportiers und seiner
+filzpantoffelschlurfenden Herde, welche die Anwesenheit von
+Sehenswürdigkeiten mit merkwürdigen Ausrufen und Aussprüchen
+begutachtet, zu genießen. Während wir uns freuen, die Räume,
+die im Berliner Schloß der letzte Kaiser bewohnt hat, in den
+Zustand zurückversetzt zu finden, in dem seine Vorfahren sie
+ihm hinterließen, meint der Kundige, der uns nun herumführt und der
+die letzte Pracht noch gekannt hat, die Räume seien jetzt
+etwas kalt, und beschreibt ausführlich, was hier vor zehn
+Jahren an Perserteppichen gelegen, an Schlachtenbildern und
+Porträts gehangen habe. Er zeigt uns sogar die Stelle, wo
+die hochmodernen elektrischen Zigarrenanzünder von damals
+waren. Wenn er in die Zimmer der Kaiserin kommt, muß der
+Kunstfreund die ganze Zeit, die jener über ihre Gewohnheiten
+und Lieblingsgegenstände spricht, nutzen, um mit einiger
+Gründlichkeit die herrlichen Watteaus zu betrachten, die
+sich als verwunderte Fremdlinge in den Zimmern dieser
+watteau-fernsten aller denkbaren Damen befinden. Und wenn im
+Charlottenburger Schloß der Wanderwart die gräßliche
+Trompetenuhr aufzieht und blasen läßt, von der er behauptet,
+sie habe Napoleon, als er hier übernachtete, aus dem Schlafe
+geschreckt, halte man sich die Ohren zu und sehe so lange
+die süße Seide um den Schlaf der hübschen munteren Königin
+Luise an, ihre kleinen Öfchen oder ihr apartes Bild in
+Totenhusarentracht. In solchen Räumen müßte man lange allein
+oder unter seinesgleichen sich aufhalten dürfen, um mit den
+Geistern derer zu verkehren, für die einst die Schlüter und
+Schinkel und ihre Schüler und Helfer gearbeitet haben, und
+die großen Zeiten des älteren Berlin, das preußische Barock
+und Rokoko und den preußischen Klassizismus zu erleben.
+
+Einiges wird einem vielleicht auch auf den ersten Blick
+zuteil, die strotzend blühende Pracht im Rittersaal, den
+Schlüters Gruppen der vier Erdteile schmücken, die reinen
+Formen und angenehmen Farben des Parolesaals mit Schadows
+Marmorgruppe der jugendlichen Kronprinzessin Luise und ihrer
+Schwester, das Gold und Grün des runden Kuppelkabinetts, das
+Friedrichs des Großen Schreibzimmer war. Und nach
+Herzenslust verweilen kann man in dem innern Schloßhof vor
+Schlüters Bogenhallen. Die Höfe nämlich versperrt uns kein
+König mehr und kein Führer zwingt hier zur Eile.
+
+Wir halten an der Lustgartenseite des Schlosses vor den
+beiden Rossebändigern, die der russische Kaiser dem
+Preußenkönige in den vierziger Jahren geschenkt hat. Der
+Berliner Volkswitz nannte sie den gehemmten Fortschritt und
+den beförderten Rückschritt.
+
+Aus dieser Zeit stammen auch die einzelstehenden Säulen aus
+geschliffenem Granit an den Ecken der Terrasse, auf denen
+goldne Adler horsten. Varnhagen, der als kritischer
+Zeitgenosse beobachtete, fand diese Verzierung zu elegant
+für das mächtige, schwerfällige, düstre Gebäude und diese
+Sucht, zu schmücken, sehr geschmacklos. »Die Leute«,
+schreibt er, »stehen davor und machen ihre Bemerkungen
+darüber, sie finden die Sache unnötig, man vergleicht sie
+mit den Achselklappen der königlichen Lakaien, die waren dem
+König auch zu einfach, es mußte eine Krone hinein.« Den
+einen goldnen Adler an der Ecke nannten die bösmäuligen
+Berliner den ‚größten Eckensteher‘ — anspielend auf die
+vielbewitzelten, etwas faulen und versoffenen Vorläufer des
+Berliner Dienstmanns. Und sie meinten: Nun weiß man doch,
+wie das Hotel heißt, das Schild sagt’s: ‚Zum goldenen
+Adler.‘ Zu dieser Zeit kurz nach den Revolutionstagen 1848
+waren immer noch viel Aufläufe von Arbeitergruppen und
+Studenten und Lehrburschen
+unter den Linden und vorm Schloß, da ließ ein
+Hofmarschall Eisengitter an die Schloßportale befestigen.
+Die Bürgerwehr konnte nicht verhindern, daß ein großes
+Gitter von den Arbeitern ausgerissen und an der
+Kurfürstenbrücke in die Spree geworfen wurde, ein andres,
+kleineres schleppten die Studenten auf die Universität.
+Später ließ man alles ruhig geschehen und sah die Gitter als
+Denkmal des 18. März an, das Schloß, sagte man, sei dadurch
+zum Käfig geworden, der König bemitleidenswert, und es sei
+ein Schildbürgerstreich von ihm, Gitter nach der Gefahr zu
+machen. Die Adler gibt es noch, die Gitter sind gefallen.
+Das Schloß ist von der Lustgartenseite gesehen schöner,
+ehrwürdiger und historischer denn je.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Der große weite Platz dem Schloß gegenüber, der Lustgarten,
+geht bis an die Stufen des Alten Museums und die führen in
+ein wunderbares Eiland mitten in der Stadt. Es ist nicht nur
+topographisch richtig, daß dieser von schützenden Wassern
+umflossene Stadtteil die Museumsinsel genannt wird. Die
+Welt, die hier mit Schinkels jonischer Säulenhalle beginnt,
+ist des jungen Berliners Akademoshain — oder war es
+wenigstens für meine Generation — und was er auch später im
+Louvre und Vatikan, in den Museen von Florenz, Neapel, Athen
+wird zu sehen bekommen, er kann darüber die Säle des Alten
+und Neuen Museums und unserer großen Bildergalerien nicht
+vergessen, ja selbst die Wandelgänge hinter den Säulen hier
+nach dem Platz zu und innen am Neuen
+Museum entlang und rings um die Nationalgalerie sind ihm
+dauernder Besitz und Stätte unvergeßlicher Stunden.
+
+Doch wir wollen in der Stadt und auf der Straße bleiben. Für
+einen kurzen Besuch der Museen unterrichtet der Baedeker
+ausgezeichnet, seine einfachen und Doppelsternchen
+orientieren über das, was eine Art *consensus gentium*
+letzthin für besonders schön und wertvoll hält, und das
+hindert niemanden, seine eignen Entdeckungen zu machen.
+
+Aus der Vorhalle des Alten Museums gelangt man unter die
+Kuppelwölbung der Rotunde, die mit meist römischen
+Nachbildungen griechischer Statuen ins Eigentliche einlädt.
+Es ist schön, in dem Kreis dieser Marmorwesen zu sein, ohne
+sie genauer anzusehen, und seine Kräfte zu sammeln für all
+das Wunderbare, was uns im archaischen Saal und in den Sälen
+des 5. und 4. Jahrhunderts, der Spätzeit und bei den Römern
+erwartet. Im Oberstock versammelt das Antiquarium die
+Kleinkunst in Bronze, Gold und Silber, Schmucksachen und die
+grotesken und reizenden Terrakotten der Meister von Tanagra
+und ihrer Schüler. In Stülers Neuem Museum wirst du, wenn
+ich dir raten darf, Fremder, dich nicht allzu lange in dem
+großen Treppenhaus mit den riesigen Fresken von Kaulbach
+aufhalten, die sich bekanntlich mit den Hauptmomenten der
+Weltgeschichte befassen und als Anschauungsunterricht für
+Volksschulen vielleicht nicht allzuviel Schaden anrichten.
+Du wirst in der ägyptischen Abteilung gewaltige Statuen und
+Sarkophage und die holden kleinen Köpfe der Königinnen Teje
+und Nefretete finden, und bei schwarz- und rotfigurigen
+Vasen in den Dämmerzustand versinken, in dem man nicht weiß: fließt draußen die
+Seine oder der Tiber? Werden wir auf dem Posilipp oder im
+Savoy frühstücken? Gibts bestimmt eine Gegenwart? Fürs
+Kupferstichkabinett laß dir etwas Zeit, sieh nicht nur an,
+was an den Wänden hängt oder in den Glaskästen ausliegt. Man
+gibt dir gern eine der vielen schönen Mappen, einen guten
+Platz, und du kannst dich ein Stündchen gebärden wie ein
+Kunstgelehrter. Es lohnt. Bis diese Zeilen in deine Hand
+kommen, ist vielleicht auch schon der Museumsneubau endlich
+vollendet, den Alfred Messel begonnen hat. Dann wirst du den
+herrlichen Altar von Pergamon aufgebaut sehn mit seinen
+Göttern und Giganten. Was die Nationalgalerie anbetrifft, so
+muß ich als dein Führer durch Berlin dich besonders auf die
+Bilder hinweisen, in denen Berlinisches verewigt ist.
+Menzels wunderbares Balkonzimmer und sein Schlafzimmer, das
+höfische Ballsouper, den Palaisgarten des Prinzen Albrecht,
+die alte Berlin-Potsdamer Bahn, ferner die Maler des alten
+Stadtbildes und Volkslebens, vor allen Theodor Hosemann, und
+Franz Krügers Porträts und seine großen Paradebilder.
+Berliner Romantik wirst du in den Landschaftsbildern des
+großen Schinkel, der ja eigentlich kein Maler, sondern ein
+Baumeister war, finden. Er hat sie für eines der alten
+Patrizierhäuser in der Brüderstraße gemalt und wenn du Muße
+dafür hast, so lies, was Hans Mackowsky in seinen ‚Häusern
+und Menschen im alten Berlin‘ darüber schreibt, und lies
+weiter, was er von diesem Haus und andern berichtet, das
+wird dir eine vergangene Stadt mitten in der gegenwärtigen
+aufbauen. Über das Kaiser Friedrich-Museum, das nach dem Manne, der es zu einer
+Weltberühmtheit gemacht hat, besser Wilhelm von Bode-Museum
+hieße — statt sich auf den recht kunstfreundlichen Herrn zu
+beziehen, dessen garstiges Reiterdenkmal leider vor der Tür
+dieser Schatzkammer steht — über diese Welt von Bildern und
+Bildwerken habe ich hier nichts aufzuschreiben, denn wenn
+sie auch höchster Ruhm von Berlin ist, so hat sie doch mit
+unserer guten Stadt selbst nichts zu tun. Man ist hier von
+ihr noch weiter fort als in den Sälen der griechischen
+Bildwerke, nach denen doch in den Versuchen des preußischen
+Klassizismus eine Sehnsucht — nüchtern abgeblaßt, verhalten,
+prunkfeindlich und redlich bemüht — hindrängt.
+
+Aber zurück aus dieser schönen Ferne zum Lustgarten und
+unseren Rundfahrtwagen. Die weite Fläche dieses Platzes hat
+auch schon etwas inselhaft Ruhevolles. Von der langen
+Schloßfront mit den breiten Portalen ist — hoffentlich auf
+recht lange Zeit — keinerlei Gegenwart vorauszusehen. Die
+einzige Unruhe an dieser gelassenen Stätte ist der Dom mit
+seinen vielen Hochrenaissanceeinzelheiten, Nischen, Hallen,
+Kuppelaufsätzen. Er macht sich da breit, wo noch bis in die
+neunziger Jahre ein kleinerer aus Friedrichs Tagen stand. Er
+bedeckt eine Fläche von 6270 qm, während der Kölner Dom es
+nur bis zu 6160 qm gebracht hat. Es ist höchst überflüssig,
+hineinzugehen, denn auch innen verletzt dieses Riesengefüge
+aus eitel Quantität, Material und schlecht angewandter
+Gelehrsamkeit jedes religiöse und menschliche Gefühl. Die
+Akustik soll übrigens ausgezeichnet sein, und
+um sie zu verstärken, hängen eigens noch Bindfäden von der
+Innenkuppel des Mittelbaues. Mit Recht verkündet ein
+marmorner Engel ‚Er ist nicht hier, Er ist auferstanden‘.
+Wahrhaftig, hier ist Er sicher nicht. Schade um ein paar
+schöne Sarkophage, mit denen die Namen Peter Vischers und
+Schlüters verbunden sind. Vielleicht kommt noch einmal eine
+Zeit, in der man dieses Gebäude und manches andre so kurz
+entschlossen abreißt, wie man es jetzt mit häßlich
+gewordenen störenden Privathäusern tut. Dann wird diese
+Stätte ganz der Vergangenheit und Ruhe gewidmet sein.
+
+Belebt wird sie auch jetzt immer wieder nur, wenn
+Volksversammlungen sich ihrer bemächtigen, und dafür ist sie
+sehr geeignet, seit der Lustgarten nichts als ein großer
+Sandplatz ist. Sein Name erinnert noch an eine ganz andre
+Zeit, die der Parkkunst, der Grotten und Grottierer. In des
+Großen Kurfürsten und seines Sohnes Tagen waren hier ein
+Kolossalneptun mit Grotten und Wasserstürzen zu sehen,
+Vexierspringbrunnen und die Riesenmuscheln an Meinhards
+Lusthaus. Da hatten die ‚Grottenmeister, Sprützenmacher und
+Stukkateure‘ reichlich Arbeit wie später wieder unterm
+Großen Friedrich, dem sie in Sanssouci eine Neptunsgrotte,
+im Neuen Palais einen Muschelsaal bauten. Auf der Remusinsel
+zu Rheinsberg schufen sie das chinesische Haus. Und später
+hat dann noch der Erbauer des schlichten Landschlößchens zu
+Paretz in einem Parkwinkel als eine Art Relikt aus der
+Rokokozeit ein muschelbuntes japanisches Tempelchen
+errichtet. Die letzten Nachklänge dieser Grottenkunst aber
+sind mitten in der Großstadt die schaurigen
+Tropfsteingebilde an den
+Aufgängen zu veralteten Nachtlokalen und an den Bühnenrahmen
+verstaubter Tingeltangel. Den nüchtern verständigen
+Friedrich Wilhelm I. verdrossen die Blumenparterres und
+Lusthäuser dieses Paradieses seiner Vorfahren.
+‚Alfanzereien‘ nannte er das und machte aus dem
+Pomeranzenhaus eine Tapetenfabrik mit einer Art Börse im
+oberen Stockwerk und aus den Blumenparterres einen
+Exerzierplatz für seine Grenadiere. Seit hier nun nicht mehr
+exerziert wird, kann das freie Volk seine Versammlungen
+abhalten. Da kann man mit Fahnen und Fähnchen zum Beispiel
+die Kommunisten demonstrieren und lagern sehen. Rote
+Pfingsten: Sie sind weither gekommen aus allen Teilen
+Deutschlands, Textilproleten aus dem Erzgebirge, Kumpel aus
+den Zechen in Hamm und in der Kanonenstadt Essen, die eine
+Hochburg der Rotfront geworden ist, dazu rote Marine von der
+Waterkant. Aber auch das fernere Europa und die weite Welt
+senden ihre Vertreter; die Schutzwehr der Schweizer
+Arbeiterschaft, die tschechische Arbeiterwehr rückt an mit
+Fahnen und Plakaten, und ehrfürchtig wird die
+Sowjetstandarte begrüßt. In langen Zügen sind sie
+hermarschiert von den Enden der Stadt, seltsame
+Musikinstrumente wandern ihnen voran, Trompeten mit mehreren
+Schlünden, Jazztuben, Negertrommeln. Diese Kämpfer sind
+uniformiert, wie auch die es waren, die sie kämpfend ablösen
+wollen. Kriegerisch gegürtet sind die grauen Blusen und
+braunen Kittel. Und wie einst von den Tressen der
+Chargierten wird jetzt das Wanderbild des Zuges skandiert
+von den roten Armbinden der festleitenden Flügelmänner.
+Sogar die Kinder haben ihre Uniform.
+In weißen Hemdblusen mit rot flatternden Krawatten
+haben sie ihr Lastauto erklommen, dessen Aufschrift die
+Abschaffung der entwürdigenden Prügel verlangt. So einen Zug
+hab ich begleitet von der Bülowpromenade im Südwesten her,
+die Yorkstraße hin unter den Bahnübergängen, deren
+Eisenbrücken das ‚Rot Front!‘ und das ‚Seid bereit!‘ mächtig
+widerhallten. Von den bürgerlichen Klebebalkons der langen
+Avenuen schauten etwas verdrossen alte Männer und Frauen auf
+das muntre Volk, das waren vielleicht pensionierte Beamte,
+die sich noch nicht ‚umgestellt‘ haben. Aus den
+Seitenstraßen aber wehten rote Fahnen von den Häusern, und
+ein paar Jungen auf Rädern, deren Reifen rot umwickelt
+waren, schlossen sich an. So ging es weiter das Planufer hin
+und über die Kanalbrücke in die Altstadt. In der Alten
+Jakobstraße stand auf einem Altan, das Haar im Wind, ein
+graues Weib wie eine Parze des Weltgeschicks oder Furie der
+neuen Begeisterung. Jüngere lagen sonntäglich träge mit
+nackten Armen auf ihren Fensterkissen und freuten sich an
+dieser Musik und Menge wie ehedem am Aufmarsch der
+Soldatenkompagnien. Die Geschäftshäuser der Markgrafenstraße
+waren ganz menschenleer. Nur auf einem hohen Dach bewegte
+sich ein Wesen und winkte mit einem winzigen Fähnchen. In
+der Oberwallstraße wehte dem Zug eine tiefe Stille entgegen
+von dem Torbogen, der die verträumte Auffahrt und die alten
+Balkone und Mansardenfenster des Prinzessinnenpalais
+abschließend schützt vor aller Gegenwart. Durch dies Tor
+drang der Zug, um auf dem Platz vor dem Zeughaus mit den
+Zügen aus andern Vorstädten zusammenzutreffen.
+Eine unabsehbare Menge erfüllte in Einzelgruppen und Zügen
+von der Schloßbrücke bis zur Kaiser Wilhelmsbrücke den
+ganzen Lustgarten und die Schloßfreiheit. Die Schloßfront
+entlang liefen an den Gittern rote Plakatbänder, hinter
+denen sowohl die Bronzestandbilder der niederländischen
+Fürsten und des Admirals Coligny wie auch die der beiden
+liberalen Rossebändiger fast verschwanden, abgetan von den
+flammenden Buchstabenbändern. Auf der obersten Stufe der
+Domtreppe stand ein Redner, dessen verkündigende Schlußworte
+die Menge unten wiederholte wie die Gläubigen in der Litanei
+des Priesters Worte. Rings auf dem Anstieg zum Denkmal
+Friedrich Wilhelms des Gerechten, der seinen Luftritt
+beklommen fortsetzte, und um die Granitschale herum und auf
+der Museumstreppe unter der Amazone, die den Tiger abwehrt,
+und unter dem Löwenkämpfer lagerten die Massen und sahen
+hinunter auf die vielen hin und her wandernden Züge mit
+ihren Fahnen, Plakaten und Karikaturpuppen, die den Genfer
+Völkerbund verhöhnten, und hinüber zu der
+Meetingsbevölkerung des Kaiser Wilhelms- und
+Nationaldenkmals an der Schloßfreiheit.
+
+Den Dom, von dem ich wegschaue, so gut es geht, erspart uns
+der Rundfahrtführer nicht, er läßt eine schrecklich lange
+halbe Minute vor ihm halten und nennt ihn ‚sehr hübsch,
+besonders innen‘. Aber mir zum Trost ist hier dicht vor uns
+an der Bordschwelle ein holdes kleines Gefährt gelandet. Auf
+roten Kinderwagenrädern bauen sich zwei Etagen auf mit
+Glasscheiben, darinnen stehen blinkende Nickelmaschinen mit
+Tellerchen und Löffelchen. Ein Eisverkauf: eine niedliche
+Zwergenwirtschaft, durchschimmernd wie Schneewittchens
+Sarg.
+
+Ein Blick übers Wasser auf die Börse in der Burgstraße. Von
+ihren ‚Renaissanceformen‘ gilt, was schon über die
+Reichsbank gesagt wurde. Sie ist der erste Bau aus echtem
+Sandstein im neueren Berlin. Für uns ist das Innere des
+Gebäudes erheblich interessanter als seine Architektur und
+Skulptur. Mir ist einmal gestattet worden, von der Galerie
+auf die drei großen Säle hinunterzusehn, in denen sich die
+Berliner Kaufmannschaft zur Mittagszeit versammelt. Ich sah
+die vereidigten Makler hinter ihren Schranken, die wilde
+Menge, welche sich um ihre beweglicheren Kollegen schart,
+die Gebärden des Kaufs und Verkaufs, erhobene Hände, die
+‚Brief‘ winkten, gespitzte Finger, die ‚Geld‘ bedeuteten,
+sah die Nischen der Großbanken, die Tische der kleineren,
+viel Lebhaftes im Saal der Industriepapiere, Gelinderes im
+Saal der Banken und in dem des Getreides die Tüten und
+blauen Kästchen mit Roggen- und Weizenproben in den Händen
+der Händler. Man könnte stundenlang niedersehen auf dies
+Meer von Glatzen, unruhigen Schultern, winkenden Händen, auf
+die Schicksalszahlen, welche auf den Tafeln sinkend und
+fallend wechseln, auf die gelben und blauen Lichter, die,
+besondre Winke bedeutend, in den Ecken aufflammen. Vor dem
+Ausgang zur Burgstraße warten allerlei Händler und Bettler;
+und aus der Art, wie ihre Gegenwart von den heraustretenden
+Handelsherren berücksichtigt wird, könnte man Schlüsse auf
+die guten oder schlechten Geschäfte machen, von denen sie
+kommen.
+
+Wir fahren über die Schloßbrücke, deren schöner Schwung und
+gußeiserne Brüstung auf Schinkel zurückgeht. Die berühmten
+acht Marmorgruppen: Kriegs-und Siegesgöttinnen, junge
+Krieger lehrend, erwachsene geleitend, habe ich leider nie
+mit ernsten Blicken ansehen können, da in meiner
+Schuljungenzeit so unvergeßliche, nicht zu wiederholende
+Witze über ihre besondre Art von Nacktheit gemacht wurden.
+Nun lese ich in Varnhagens Tagebüchern, der Kultusminister
+Raumer habe an den König Friedrich Wilhelm IV. den Antrag
+gestellt, die nackten Bildsäulen von der Schloßbrücke wieder
+abnehmen zu lassen und sie im Zeughaus zu verwahren.
+Erfreulicher ist, daß um dieselbe Zeit Bettina von Arnim zu
+Varnhagen sagte, auch sie verdamme die Schloßbrückengruppen,
+aber nicht aus Nacktheitsgründen. Er selbst notiert, daß sie
+wohl schön gearbeitet seien. ‚Aber das Antike ist nicht
+antik genug, ist wider Willen modern, ohne zu den andern
+Bildsäulen, denen der Generale, zu passen. Sie stehen auch
+zu hoch.‘ Brummig fügte er hinzu: ‚Ein Unstern waltet über
+unserm Kunstwesen, nie etwas Rechtes, Ganzes,
+Übereinstimmendes.‘ Nun, wir wollen das nicht weiter
+erörtern, sondern lieber einen raschen Blick werfen auf eine
+Berliner Sehenswürdigkeit, die kein Reisebuch verzeichnet.
+
+Ich meine da rechts unten im Wasser, dessen Ufer am Zeughaus
+entlang geht, den angeketteten Spreekahn. Den habe ich vor
+kurzem zum erstenmal besichtigt. Ich kam zufällig vorüber
+und sah auf dem Brettersteg, der zu dem Kahn hinüberführt,
+ein paar Straßenjungen stehen, die
+wollten sich gerne den großen Walfisch ansehn, der seit
+vielen Jahren in dem Kahn hausen soll. Ich war, als ich im
+Alter dieser Jungen stand, auch immer sehr neugierig
+gewesen, ob da ein wirklicher Walfisch liege, und nie hatte
+man diese Neugier befriedigt. So ist es wohl zu begreifen,
+daß ich mit den kleinen Burschen an die Kasse gegangen bin.
+Es war sehr billig, ein Programm bekam ich gratis dazu und
+das ist ganz besonders schön und jedem Besucher, ja auch
+Liebhabern älterer Druckschriften zu empfehlen. Sein
+Titelblatt lautet: ‚Das größte Säugetier der Welt und sein
+Fang. 22m 56cm lang, vollständig geruchlos präpariert.
+Herausgegeben von der Direktion der Walfischausstellung.‘
+Ist das nicht ein schöner Anfang? Und dann lernen wir, daß
+dieser Koloß wie wir rotes warmes Blut hat und lebendige
+Junge zur Welt bringt, ‚welche von der Mutter gesäugt und
+mit Aufopferung eigner Lebensgefahr verteidigt werden.‘ Da
+liegt er, präpariert nach einer damals ganz neuen Methode,
+und sieht aus, als wäre er aus Papiermache, riecht gar nicht
+nach Tran, nur nach Kahn. Man möchte sich durch Anfassen
+überzeugen, ob das da auch wirklich keine Pappe ist. Aber es
+steht angeschrieben: Nicht berühren! Giftig! Eine Zeitlang
+schauen wir ihm in den Schlund und auf die berühmten Barten,
+aus denen, wie wir lernen, das Fischbein gewonnen wird. Dann
+wenden wir uns der Sonderausstellung zu, wo des Riesen
+Bestandteile ausgeweideterweise im Einzelnen uns breiteren
+Volksschichten zum Studium zugänglich gemacht sind. Da ist
+zum Beispiel der sogenannte Heringssack, worin das Tier zwei
+bis drei Tonnen Heringe aufnehmen kann. ‚Denn — so lehrt
+das Programm — die
+Nahrung spielt bei solch einem Riesentier die Hauptrolle.‘
+Wir bekommen im Extrakasten die Schwanzflosse zu sehn, von
+der — immer laut Programm — die Erfindung der Dampfschraube
+angeregt worden sein soll. Und außer den Knorpelschichten,
+Rückenfinnen, Ohren und Augen des Wals gibt es noch andre
+Tiefseetiere seiner Umgebung zu sehen, und darunter finden
+sich einige Namen, die nach Christian Morgensterns Verskunst
+verlangen, wie zum Beispiel die Kammeidechse und der
+Seestier oder Kofferfisch.
+
+Daß ich mich so ausführlich über diese bemerkenswerte
+Walfischausstellung auslasse, hat seinen Grund: ich getraue
+mich nicht recht, über das benachbarte Zeughaus etwas zu
+sagen. Es ist zu vollkommen, um gepriesen zu werden.
+Preußisch ist es und barock, berlinisch und dabei
+phantastisch, übersichtlich gegliederte Maße und schön
+verschwendeter Schmuck, breite Phalanx des Sieges und
+schlanke Trophäe. Herrlich sind Schlüters Panoplien auf der
+Balustrade und Schlußsteine der Fensterbögen. Da hat er auf
+den vier Außenseiten Helme angebracht, die lebendige Antike
+sind, und innen im Lichthof die Köpfe sterbender Krieger,
+deren grausige Todesgrimasse schürzender Steinknoten der
+Fensterwölbungen, Agraffe des Gewandes, Zierat ist.
+
+Für den Waffen- und Kriegskundigen finden sich innen unter
+Gewölbejochen in düstern Hallen die ältesten Kanonen,
+morgenländische Säbel, Prunkharnische für Mann und Roß,
+Standarten, Uniformen der Feldherren und Könige, Zietens
+Zobelmütze und Pantherfell und der letzte Soldatenrock des
+Großen Königs.
+
+Das ehemalige Kronprinzenpalais dem Zeughaus gegenüber ist
+von außen kein sehr erfreulicher Anblick. Hohe Säulen tragen
+einen breiten Balkon, hinter welchem das aufgesetzte
+Stockwerk niedrig erscheint. Besonders wenn man von einem so
+wohlproportionierten Gebilde, wie es das Zeughaus ist,
+herüberschaut. Und es hilft nichts zu wissen, daß dies
+Palais früher einmal besser beschaffen war und seine jetzige
+Gestalt erst in den fünfziger Jahren bekam, als es für den
+damaligen Kronprinzen, spätern Kaiser Friedrich III.
+umgebaut wurde. Im Innern aber erfüllt es, seit es keine
+Fürsten mehr beherbergt, eine würdige Aufgabe. Die moderne
+Abteilung der Nationalgalerie ist hier untergebracht. Um
+auch hier als Fremdenführer nur auf das speziell Berlinische
+hinzuweisen, man findet manches wertvolle Stück
+Stadtlandschaft, berlinische Geschichte und märkische
+Landschaft in den unzähligen Blättern der Menzelmappen, in
+einigen Bildern Liebermanns, Lesser Urys und jüngerer
+Künstler, auch manches Porträt bedeutender Berliner
+Persönlichkeiten innerhalb der reichen Sammlung
+impressionistischer und zeitgenössischer Malerei. Eine
+Flanke des Palais stößt an den Schinkelplatz, an dessen
+Südseite im oberen Stockwerk eines schöneren Gebäudes
+wiederum ein Teil Nationalgalerie beherbergt ist, die große
+Bildnissammlung, die an Malern und Gemalten ein gut Teil
+Berliner Kunst- und Kulturgeschichte veranschaulicht. Das
+Haus, das diese Schätze birgt, ist die Bauakademie, die
+Schinkel in rotem Backstein mit schön eingefügter
+Terrakotta erbaut und in den letzten Jahren seines
+Lebens bewohnt hat. Der Platz vor der Akademie trägt den
+Namen des Meisters und außer seinem Standbild noch zwei
+andre erzene, einen ‚Begründer des wissenschaftlichen
+Landbaus‘ und einen um die industrielle Entwicklung
+verdienten Mann, Männer, deren Namen wir Halbgebildeten
+meist nur als Straßennamen kennen, weshalb ich sie erst gar
+nicht nennen will. Aber die Reliefs auf ihren Sockeln muß
+man ansehn. Da sind kuriose Musterbeispiele der echt
+berlinischen Mischung aus Klassizismus und Realismus,
+antikisierte Maschinen und Herren im togaähnlichen
+Bratenrock.
+
+Daß diese Mischung bei Uniformen besser glückte als bei
+Zivil, beweisen Rauchs erzene Feldherren, zu denen wir nun,
+am Prinzessinnenpalais vorbei, den Lindentunnel überquerend,
+gelangen. Wie der alte Blücher in Wirklichkeit war, ist aus
+dem Allerlei von Berichten, Bildern, Urteilen schwer zu
+entnehmen, aber für uns ist sein Wesen dauernd verwirklicht
+in dieser Erzgestalt im Soldatenmantel, in der Faust den
+gezogenen Säbel, den Fuß auf das Kanonenrohr gestellt. Die
+nachdenklicheren und, wie die Kriegswissenschaft lehrt,
+bedeutenderen Strategen, Gneisenau und York, zu seiner
+Rechten und Linken umgeben neidlos sein munteres Kriegertum.
+Bülow und Scharnhorst, die den drei Erzenen gegenüber bei
+der Neuen Wache stehen, sind marmorn. Warum, das habe ich
+mich schon als Kind gefragt und gemeint, es bedeute einen
+andern Grad des Heldentums, eine höhere Milde. Aber es wird
+wohl, zumal die zwei früher aufgestellt worden sind als die
+drei, sinnfälligere und vernünftigere Gründe haben.
+Die Neue Wache, die nun außer ihnen beiden niemand mehr
+bewacht, Schinkels schönes ‚römisches Castrum‘ mit den
+mächtigen dorischen Säulen, jetzt innen leer — nur die
+klassischen Gewehrständer sind geblieben — ist ganz Denkmal
+und Altertum geworden. Es ist besser so, aber manche
+Berliner denken mit einer gewissen Wehmut zurück an die
+Stunden, als noch die Wache aufzog.
+
+Unterhaltend zu lesen ist, was der Franzose Jules Laforgue
+aufgezeichnet hat, der als Vorleser der Kaiserin Augusta in
+dem gegenüberliegenden Prinzessinnenpalais seine
+Dienstwohnung und somit oft Gelegenheit hatte, diesen
+Vorgang zu beobachten. Er freute sich über die wartenden
+Straßenjungen am Gitter und die Spatzen oben am Relief des
+Giebels. Er beschreibt, wie sich vom Brandenburger Tor her
+die Truppe nähert. »Die Pfeifen spielen die herb monotonen
+Melodien, welche die Berliner Straßenjungen *en flânant*
+pfeifen. Kurz vor dem Palais (nämlich dem des alten Kaisers
+jenseits des Opernplatzes) gibt der Tamburmajor ein Zeichen,
+die Pfeifen schweigen und die Musik beginnt. Merkwürdig ist
+die Standarte, die der Musik vorangeht. Man stelle sich
+einen silbernen Stern vor, über dem mit ausgebreiteten
+Flügeln ein Adler schwebt, über dem Adler regen sich die
+Glöckchen eines *chapeau chinois*, der seinerseits einen
+Halbmond trägt, von dessen Spitzen zwei Roßschweife, ein
+roter und ein weißer, hängen. In der Höhe des Palais machen
+die Soldaten Stechschritt, wobei sie wütend mit den Sohlen
+aufprallen, und fixieren alle mit gestrecktem Hals des
+Kaisers Eckfenster. *L’heure culminante, l’heure militaire
+...*« Ausführlich beschreibt er
+auch, wie es zuging, wenn die Wache
+herausgerufen wurde. Erst den Ruhezustand. »Vorn sind
+zwischen Gitter und Portikus in zwei Reihen die vierzig
+Piquets, jede mit einer Gewehrstütze, aufgestellt. Diese
+Piquets bezeichnen den Platz eines jeden der Soldaten und
+erleichtern die genaue Reih- und Gliedstellung. Bemalt sind
+sie in Preußens Farben wie die Schilderhäuser. Am letzten
+hängt die Trommel, die kleine flache preußische Trommel, die
+so trocken klingt. Eine Schildwache, die nicht auf und ab
+geht, sondern stillsteht, gibt nach rechts und links acht.
+Sobald ein Hofwagen erscheint, schon von weitem erkennbar an
+Achselband und Hutbord des Kutschers, und der Kutscher
+deutet durch die Haltung seiner Peitsche an, daß der Wagen
+nicht leer ist, wendet sich die Schildwache zum Portikus,
+legt die Hand an den Mund und brüllt ‚Raus!‘ (Abkürzung von
+Heraus). Gleich steht alles in Reih und Glied. Der Trommler
+hat seine Trommel umgehängt, der Offizier hält sich bereit,
+mit dem Degen zu grüßen. Der Wagen fährt vorbei. Die Wache
+präsentiert, der Tambour schlägt seinen Wirbel. Und wer saß
+im Wagen? Zwei Gouvernanten mit Prinzenbabys auf dem Schoß.
+Trommel gerührt wird nur für die kaiserliche Familie. Für
+einen General kommt die Wache nur halb heraus.«
+
+Laforgue beschreibt vortrefflich das militärische Aussehen
+und Wesen, das dieser Platz und die Straße Unter den Linden
+und ganz Berlin in den achtziger Jahren hatten. Einmal
+bleibt er in einem *moment de torpeur involontaire* wie im
+Traume Ecke Linden und Friedrichstraße stehen. Da hört er
+nur das beherrschende Geräusch der Straße: das eines
+nachschleppenden Säbels. Diese Zeiten, da sich unter den Linden
+die komischen kleinen Kadetten steif grüßten, da der
+militärische Gruß in allen Ständen gang und gäbe war, sind —
+bis auf einige Reste — ja nun vorüber.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Solange wir an der Neuen Wache halten, wirf auch einen Blick
+auf das kleine Kunsttempelchen da hinten, halb von Laub
+verdeckt. Das ist die Singakademie, Zelters, des
+Goethefreundes Werkstatt, nachdem der Maurermeister ein
+Musikmeister geworden war. Die kleine Büste im Grünen vor
+dem Gebäude, das ist Zelters Lehrer und der Begründer des
+Vereins, aus dem die Singakademie hervorgegangen ist, lange
+bevor sie hier dieses mitten in der Stadt schön abseits
+liegende Haus bezog. Das Leben dieses Mannes, er hieß David
+Christian Fasch, hat Zelter selbst in seinem handfesten und
+dabei klassischen Deutsch beschrieben. Und aus seinem
+Büchlein erfahren wir, wie der Hofmusikant in der
+Privatkapelle Friedrichs des Großen und seines Nachfolgers
+eine junge vortreffliche Demoiselle Dieterich unterrichtete
+und accompagnierte. In dem Hause dieser edlen
+Musikliebhaberin fanden sich öfters noch zwei oder drei
+Musiklustige ein; daraus entstand sehr bald ein kleines
+Vokalkonzert, für das Fasch fünf- und sechsstimmige Stücke
+komponierte. Diese Gesellschaft, die sich erst nur ‚wie von
+ongefähr‘ zusammengefunden, bestimmte nun gewisse Tage zu
+ordentlichen Singübungen und wuchs durch Zutritt neuer
+Mitglieder, bis dann eine andre würdige Freundin des Schönen
+ihren größeren Saal hergab. Schließlich
+bekam die Gesellschaft von den Kuratorien der Kgl. Akademie
+einen der Säle des Akademiegebäudes. ‚Im Jahre 1796 ward es
+durch das ordnungsgemäße und eifrige Bestreben der Rendantur
+so weit gebracht, daß |ellipsis| die Frauenzimmer der Gesellschaft
+bei einem mäßigen Zuschuß zur Kasse in Wagen abgeholet und
+wieder zu Hause gefahren werden konnten.‘ Und bald hatte die
+Singakademie zu Mitgliedern und Zuhörern ‚die Blüte des
+schönen Berlin, die Jugend und das Alter, Adel und
+Mittelstand‘. An diesen Verein und seine Kunststätte hier
+hinter den Büschen knüpft sich ein gut Teil Berliner
+Musikgeschichte zu den Zeiten Zelters und Mendelssohns, und
+mehr als das, ein Stück Leben der besten Berliner
+Gesellschaft, die es bisher gegeben hat, jener meist
+ziemlich eingeschränkt lebenden bürgerlichen Menschen der
+ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, in deren Stammbücher
+die besten Maler Landschaften tuschten, die besten Dichter
+mit der anmutig fließenden Schrift von damals Gedichte
+schrieben. In allen Künsten Liebhaber zu sein, in der guten
+alten Bedeutung des Wortes zu dilettieren, war eine
+gesellige, zwanglose und eifrige Gewohnheit, die bisweilen
+ans Rührend-Komische streifen mochte, aber doch an der
+erfreulichen Einheit des Empfindens, Gebahrens und somit
+auch des Stadtbildes mitschuf.
+
+In dieser Zeit wurde aus dem nächstfolgenden Gebäude, dem
+ehemaligen Palais des Prinzen Heinrich, des Bruders
+Friedrichs des Großen, die Universität. Und die beiden
+Männer, die davor recht bequem auf ihren marmornen
+Lehnsesseln sitzen, die Brüder Humboldt, haben bald aus
+unmittelbarer
+Nähe, bald aus römischer und überseeischer Ferne die
+geistigen und wissenschaftlichen Bedürfnisse der Berliner
+Gesellschaft gesteigert.
+
+Das Gebäude ist der nördliche Abschluß des jetzt Kaiser
+Franz Joseph-Platz, ehemals Platz am Opernhaus heißenden
+‚Forum Fridericianum‘, dessen Südhälfte durch die Alte
+Bibliothek, jetzt Aulagebäude der Universität, und das
+Opernhaus flankiert werden. Friedrichs Baumeister, der große
+Knobelsdorff, hatte für dies Palais Schöneres geplant, als
+dann gebaut worden ist, er wollte seinem Opernhause
+gegenüber ein ähnliches Gebilde aus Tempel und Palast
+schaffen und der ganzen Nordhälfte des Platzes so
+monumentale Gestalt geben, wie er es am Opernhause
+unternahm. Wenn nun auch sein großer Plan nicht ausgeführt
+wurde, so kam doch auf Grund seiner Pläne unter der
+Bauleitung Boumanns des Älteren etwas recht Imposantes
+zustande. Aber dieser Palast stand meist öde, der Prinz
+liebte Berlin nicht und blieb gern in seiner Rheinsberger
+Solitude. 1810 wurde die Friedrich Wilhelms-Universität hier
+gegründet und ihr erster vom Senat erwählter Rektor war
+Fichte. Aus den 300 Studenten des ersten Jahres sind mit der
+Zeit 10.000 geworden. Ob die Wissenschaft sehr durch diesen
+Zuwachs gewonnen hat, darüber wollen wir uns lieber jeder
+Meinung enthalten und nur schüchtern äußern, daß es vor
+zwei, drei Jahrzehnten angenehmer war, sich in den Räumen
+der Alma Mater aufzuhalten. Es gab noch nicht so viel
+examensüchtige Gesichter. Auch war dazumal der Vorgarten
+noch nicht so überfüllt mit berühmten Männern aus Marmor und
+Bronze, die weder das würdige
+Behagen der beiden freundlichen Humboldts vor dem Garten,
+noch den steinernen Schwung der neuen Statuen Savignys und
+Fichtes vor dem Aulagebäude drüben haben. Dies Gebäude,
+einst Bibliothek, soll Friedrich der Große nach wienerischem
+Vorbild, und zwar nach einem Fassadenentwurf des großen
+Fischer von Erlach haben bauen lassen. Im Volksmund heißt es
+die ‚Alte Kommode‘ und eine anzuzweifelnde Anekdote läßt den
+König seinen Baumeistern ein geschweiftes Rokokomöbel als
+Vorbild hinstellen. Das paßt zu der Geschichte, die über den
+Bau der pantheonähnlichen runden Hedwigskirche im
+Hintergrunde des Platzes überliefert wird: es kamen einst
+die Katholiken Berlins zum Alten Fritzen und baten, er möge
+ihnen in Berlin eine schöne Kirche bauen. Der König saß
+gerade beim Frühstück, war gut gelaunt und
+‚wohlaffektioniert‘. Als sie ihn dann fragten, wie die
+Kirche, deren Erbauung er ihnen versprach, aussehen werde,
+nahm Friedrich seine Kaffeetasse, stülpte sie um und sagte:
+‚So soll sie aussehen.‘ So kam es, daß der Baumeister die
+Kirche ganz rund machte und eine runde Kuppel daraufsetzte.
+Laterne und Kreuz, die wir heute über der Kuppel erblicken,
+stammen erst aus den achtziger Jahren des vorigen
+Jahrhunderts. Aus dieser Zeit ist auch der wunderbar grüne
+Kupferbelag der Kuppel, einer der wärmsten Farbflecken auf
+dem immer noch etwas zu grauen Bilde Berlin.
+
+An unserer Oper, dem Meisterwerk Knobelsdorffs, haben Zeiten
+und Menschen allerlei verändert und nicht gerade zu ihrem
+Vorteil. Immerhin können wir uns freuen, daß beim letzten
+Umbau die scheußlichen Eisentreppen weggefallen sind,
+die der letzte kaiserliche Besitzer zum Schutz
+gegen Feuersgefahr außen anbringen ließ und die, wie
+Mackowsky sagt, ‚dem edlen Gebäude das Aussehen einer
+Bauattrappe für Feuerlöschübungen gaben‘.
+
+Eingeweiht wurde das Opernhaus im Jahre 1742 mit ‚Cäsar und
+Cleopatra‘ von Graun, einem der Lieblingskünstler
+Friedrichs. Der König nahm den lebhaftesten Anteil an den
+Aufführungen, er stand oft hinter dem Kapellmeister, der die
+Partitur vor sich hatte, und sah fleißig mit hinein. ‚Er ist
+wirklich ein ebenso guter Generalmusikdirektor hier als
+Generalissimus im Felde‘, sagt ein Zeitgenosse. Er ließ
+seinem Geschmack entsprechend viel Französisches aufführen.
+Wir hören von Werken wie *Le Mercure galant, Le Cadi dupé*.
+Nun, in späteren Zeiten hat man hier bedeutendere Musikwerke
+zu hören bekommen, als jene Opern gewesen sein mögen. Aber
+die Könige und Kaiser haben dem Kapellmeister nicht mehr ins
+Notenblatt geguckt. Dafür haben oben im höchsten Rang
+Musikschüler und -schülerinnen mit aufgeschlagener Partitur
+gesessen und jeden Ton verfolgt, und wir haben als junge
+Studenten neben ihnen gesessen und durften mit
+hineinschauen. Das alte Opernhaus und dieser alte Platz sind
+uns Berliner Kindern lieb geblieben, trotz aller
+Veränderungen. Seitdem nun noch das Kaiserinnendenkmal mit
+seinen Anlagen entfernt worden ist, erweckt der Platz in
+seiner pflasternen Leere oft deutlich das Bild der alten
+Zeiten. Man kann ihn sich vorstellen, wie die Stiche um 1800
+ihn zeigen, kann alte Herren in Dreispitz und Wadenstrumpf
+neben jüngeren im damals neumodischen Taillenfrack
+und in Stulpstiefeln als Begleiter von Damen mit
+hoher Empiretaille und breitem Umschlagetuch übers Pflaster
+promenieren lassen.
+
+Wand an Wand mit der ‚Kommode‘ steht das Palais Kaiser
+Wilhelms I., ein bescheidenes Fürstenschloß. Wilhelm I. war
+schon in seiner Jugend ein sparsamer Haushalter, und der
+Baumeister, der in den dreißiger Jahren dem Prinzen von
+Preußen dies Haus aus einem alten Privatpalais umgestaltete,
+mußte von allem unnötigen Aufwand Abstand nehmen. Da man
+immer sagte, daß innen nichts Besondres zu sehen sei, bin
+ich früher nie hineingegangen, bis ich vor kurzem Laforgues
+Berliner Aufzeichnungen las. Der erzählt so hübsch von der
+Stille dieser Räume, in denen nur das Monarchenpaar mit
+einem halben Dutzend Kammerfrauen der Kaiserin hauste,
+während der sonstige Hofstaat im großen Schloß, im
+Prinzessinnenpalais und in dem benachbarten Niederländischen
+Palais untergebracht war. Wenn er, um sich zur Kaiserin zu
+begeben und ihr vorzulesen, morgens eintrat, hörte man nur
+das Ticktack der Uhren und den Fall der Wassertropfen im
+Wintergarten. Und den ganzen Tag dauerte die Stille, nur
+minutenweise unterbrochen vom Sporengeklirr einer Ordonnanz,
+die mit einer Meldung eintrat. Da las er denn der Fürstin
+das Wichtigste aus den Pariser Zeitungen *Le Temps*, *Les
+Débats*, *Figaro* und aus der *Revue des deux Mondes*,
+ferner Auszüge aus Romanen und Memoiren. Den Kaiser bekam er
+selten zu sehen. Das Fürstenpaar lebte ziemlich getrennt
+unterm gemeinsamen Dach. Von den Hofdamen hörte er, daß der
+alte Herr ‚goldig‘ sei,
+und die Gemahlin, die sehr empfindliche Nerven hatte, wie
+ein höheres Wesen schone und respektiere. Wenn es doch
+Gegensätze gab und Auguste heftig wurde, pflegte Wilhelm
+verständnisvoll zu sagen: ‚Es regt sich wieder einmal ihr
+russisches Blut‘. Sie war meist abgespannt, mit langer
+blasser Hand fuhr sie sich über die Stirn. Sehr soigniert
+war die alte Dame und gar nicht populär. Die Berliner sagten
+von ihr ‚Sie ist nicht von hier‘. Was Laforgue erzählt,
+machte mich neugierig auf das Interieur der beiden alten
+Leute, und so bin ich denn kürzlich mit einem Schub
+Besichtiger eingetreten. Wir bekamen Filzpantoffeln zum
+Schlittern, und die Sichersten sahen alles an, als ob sie
+hier mieten wollten; sie überzeugten sich diskret — mit
+Rücksicht auf die Führerin, die den Vormieter vertrat (er
+war vielleicht noch gar nicht ausgezogen, war vielleicht
+nebenan) — von der Lage der Zimmer und erwogen, welche
+Gegenstände man eventuell übernehmen könnte.
+
+Ja, da war es nun wirklich, das Arbeitszimmer mit dem
+historischen Eckfenster, an dem der Kaiser sich zeigte, wenn
+draußen die Wache vorüberzog. Er soll jedesmal, wenn die
+Musik näher kam, mitten im Gespräch den Überrock über der
+weißen Weste zugeknöpft und den Orden pour le mérite
+zwischen den Aufschlägen der Uniform vorschriftsmäßig
+zurechtgerückt haben. Es ist derselbe Orden, den wir auf
+vielen Porträts seiner Zeitgenossen sehen, er nimmt sich gut
+aus am Halse all dieser würdigen Männer, die sich so gerade
+hielten, wie das heute kaum mehr möglich ist. Einer von
+ihnen, erzählt man, hat noch kurz vor seinem Tode es
+vermieden, sich in seinem Stuhl anzulehnen, und den
+Angehörigen erklärt, er wolle das nicht, es könne zu einer
+schlechten Angewohnheit werden. Gleich diesem Manne hielt
+sich sein alter König aufrecht zwischen all den unbequemen
+Möbeln, die hier sein Arbeitszimmer überfüllen. Es ist noch
+ganz in dem Zustande erhalten, in dem er es verlassen hat,
+um ein paar Türen weiter in einem bescheidenen Hofzimmer,
+welches das Nachbargebäude verdunkelt, sich sterben zu legen.
+Tische, Etageren, Vertikows, Stuhl und Sofa sind bedeckt mit
+Souvenirs, Mappen und Büchern. Der alte Herr behielt das
+alles eng um sich und fand sich mit peinlicher Genauigkeit
+darin zurecht.
+
+So viel Gerahmtes und Briefbeschwerendes, eine solche Menge
+von wert- und geschmacklosen Photographien, Vasen, Kissen
+und Statuetten hat wohl selten ein Sterblicher geschenkt
+bekommen wie dieser freundliche Greis, und alles hat er mit
+rührender Pietät aufgehoben. Was Tisch und Wand nicht mehr
+fassen konnten, hat er einfach auf den Boden gestapelt, und
+da steht es noch. Die ausführlich gemalten Ölbilder und
+Porzellanmalereien glaube ich alle zu kennen, das römische
+Landmädchen, das den Handrücken in die Hüfte stützt, die
+frommblickende Älplerin mit dem tressengeschmückten Mieder
+und dem süßen von Lockenschnecken gerahmten Ovalgesicht, das
+Prinzeßchen in Miniatur mit Höschen unterm Rock und Kranz in
+der Hand. Und dort die offenhaarige Dame, die über einer
+Blume sinnt, war gewiß in einer ‚guten Stube‘ bei Großeltern
+oder Großtanten. Und über den Polstern der guten Stube waren
+auch meistens Bezüge, wie wir sie hier finden. Nur daß hier
+Krönchen darauf gewebt sind, weil der bewohnende Bürgersmann
+König war. Aus dem nächsten
+Zimmer schaut leibhaftig das altvertraute Märchen von
+Thumann her. Im Samtrahmen lauscht’s herüber, mit dem
+blendenden Ellenbogen der Linken, die das Haupt stützt, ins
+Walddunkel vorstoßend. Auf dem Absatz des Bücherschranks
+stehen Photographien kostümierter Familienmitglieder zur
+Erinnerung an kleine Verkleidungsfeste, den intimen
+Maskenball guter Bürgerfamilien. Und auf demselben Absatz
+wurde dem Kaiser das zweite Frühstück serviert, das er
+stehend einnahm. Aus der Bibliothek führt eine schmale
+Wendeltreppe hinauf in die oberen Räume. Diese
+beschwerlichen Stufen stieg Wilhelm I. noch in hohem Alter
+empor, um in die Gemächer seiner Gattin zu gelangen. Wir
+nahmen dahin den weiteren, bequemeren Weg, kamen durch das
+Vortragszimmer, wo auf einem der steifen Stühle, mit dem
+eingepreßten Preußenadler auf der Rückseite, Bismarck etwas
+unbequem sitzen mußte, wenn er seinem lieben Herrn als
+treuer Diener seine Politik zu insinuieren hatte. Wir traten
+ins marmorne Treppenhaus, da heben Viktorien von Rauch ihre
+Kränze, friedlich anmutende Göttinnen lang vergangener
+Kriege. Oben die Räume der Kaiserin sind festlicher und
+prächtiger als die, welche wir verlassen haben. Schon als
+Prinzessin hat sich Augusta viel mit Inneneinrichtung
+beschäftigt und soll behauptet haben, an ihr sei ein
+Dekorateur verlorengegangen. Wir Fremde trieben etwas
+stumpfsinnig an Repräsentation und Behagen dieser lichten
+Zimmer, an Malachit und Alabaster der üblichen
+Russengeschenke vorbei, sahen viel aus dem Fenster und
+wurden erst wieder aufmerksam, als man uns im Tanzsaal ein
+Echo vorführte,
+das zufällig, sozusagen aus Versehen, hier miteingebaut
+worden ist. Einige aus unserer Herde machten schüchterne
+Versuche, es selbst zu wecken, was unsere Führerin lächelnd
+zuließ. Unser Rundfahrtführer hat dies immerhin denkwürdige
+Haus mit ein paar Worten abgetan und um so ausführlicher auf
+die schrecklich ‚maßvollen Barockformen‘ der
+gegenüberliegenden riesigen neuen Staatsbibliothek
+hingewiesen. Dort ist überm Tor zwischen seinem
+perückentragenden und seinem gezöpften Ahnherrn der letzte
+Zollernfürst als Büste mit marmorn gezwirbeltem Schnurrbart
+zu sehen. Im Innern gibt es unglaublich viel Bücher und eine
+große Handschriftensammlung, Musik- und Kartenabteilungen,
+Grammophonplatten von zweihundert Sprachen, allerlei
+Institute, die man alle besichtigen kann; am schönsten aber
+ist es, sich hinter einen Wall von Büchern in den
+kreisrunden Lesesaal zu setzen und die unterschiedlichen
+Männlein und Weiblein zu beobachten, die in konzentrischen
+Ringen um eine leere Mitte studieren, notieren, frühstücken
+und träumen.
+
+Ach, frühstücken! Wir sind ja wieder bei dem Alten Fritz und
+unserm Ausgangspunkt angelangt. Wollen wir nicht hinübergehn
+in Habels altväterische Weinstube in dem schönen
+hundertjährigen Hause, uns an einen der blankgescheuerten
+Tische setzen und die große Weinkarte studieren? Leider
+fahren wir weiter, unser Pensum ist noch nicht beendet. Wir
+dürfen nur einen raschen Blick auf Vasen, Masken und
+Weinlaub des Reliefs überm Eingang werfen.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Die Straße Unter den Linden, noch immer mit ihren vier
+Baumreihen, schönen Läden, Gesandtschaften, Ministerien und
+Bankhäusern Herz und Mitte der Hauptstadt — um sie ganz zu
+würdigen und im Gegenwärtigen das Vergangene zu erleben,
+müßte man all ihre Epochen heraufbeschwören, seit der Große
+Kurfürst sie als vorstädtische Allee zu seinem Jagdpark, dem
+Tiergarten, hin anlegte. Über die fritzische Zeit müßte man
+in der vortrefflichen Beschreibung der Haupt- und
+Residenzstädte Berlin und Potsdam von Friedrich Nicolai
+nachlesen, da steht jedes Haus der Straße verzeichnet,
+Gasthäuser wie die Stadt Rom, das spätere Hotel de Rome,
+Ecke der Stallgasse, jetzt Charlottenstraße, dessen
+stattlicher Neubau erst vor kurzem Bureau- und
+Geschäftshäusern Platz machen mußte, Palais, wie das des
+Markgrafen von Schwedt, mit Benennung all seiner
+Vorbesitzer, aus dem dann das Palais des Alten Kaisers
+geworden ist, oder das der Prinzessin Amalie von Preußen,
+Äbtissin von Quedlinburg, nahe der Wilhelmstraße, wo jetzt
+die russische Botschaft wohnt, und das eines von Rochow und
+das eines Grafen Podewils usw. Sodann müßte man den
+berühmten Lindenfries im Märkischen Museum betrachten, der
+alle Häuser Unter den Linden im Jahre 1820 festhält. Tust du
+nun noch das Bild der Gegenwart mit den Auffahrten der
+Hotels Bristol und Adlon (der Neubau des letzteren hat das
+herrliche Redernsche Palais verdrängt), dem stattlichen
+Kultusministerium und den vielen wohlerhaltenen älteren
+Gebäuden hinzu, die altberühmte Läden und Geschäftshäuser
+enthalten, so ergeht es dir vielleicht wie Varnhagen, der
+über einen Spaziergang die Linden bis
+zum Tor hinab und zurück notiert: ‚Der Anblick erweckte in
+mir eine großartige Bilderreihe der Vergangenheit und
+Zukunft, eine herrliche Geschichtsentwicklung, die gleich
+einem wogenden Meere das kleine Schiff des eigenen Daseins
+trug.‘
+
+Auch als altbewährte Promenade der Lebensfreude empfehlen
+sich die Linden. Dafür gibt es neben Heinrich Heines
+berühmtem
+
+ | Blamier’ mich nicht, mein schönes Kind,
+ | Und grüß mich nicht unter den Linden
+
+Zeugnisse weniger bekannter Poeten, zum Beispiel die
+Berliniade oder Lindenlied eines F. H. Bothe, die der letzte
+der hübschen Berliner Kalender von Adolf Heilborn zitiert:
+
+ | Unter den Akazien
+ | Wandeln gern die Grazien
+ | Und der Mädchen schönste finden
+ | Kannst du immer untern Linden
+ | In Berlin, in Berlin,
+ | Wenn die Bäume wieder blühn.
+ |
+ | Liebende gehn Arm in Arm
+ | Einsam durch den bunten Schwarm.
+ | Und es sagt ein Händedrücken
+ | Und ein Streifkuß ihr Entzücken
+ | In Berlin, in Berlin,
+ | Wenn die Bäume wieder blühn.
+ |
+ | Untern Linden auf und ab
+ | Wallen Herr’n in Schritt und Trab,
+ | Schöne Herr’n und hübsche Herrchen,
+ | Große Narren, kleine Närrchen,
+ | In Berlin, in Berlin,
+ | Wenn die Bäume wieder blühn.
+ |
+ | Freilich ist dann wohl Mama,
+ | Auch Papa wohl plötzlich da.
+ | Doch nicht oft wird sich’s begeben;
+ | Denn warum? Man weiß zu leben
+ | In Berlin, in Berlin,
+ | Wenn die Bäume wieder blühn.
+
+Merkwürdige Varianten dieses Liedes enthält ein Stück der
+Scherzhaften Lieder eines gewissen Karl Müchler vom Jahre
+1820:
+
+ | Untern Linden, wie ihr wißt,
+ | Wandeln die da rufen: Pst.
+ | Mild gesinnte Herzen finden
+ | Kannst du immer untern Linden
+ | In Berlin, in Berlin,
+ | Wenn die Bäume wieder blühn.
+ |
+ | Für acht Groschen ist Mama
+ | Hinten auf dem Hofe da,
+ | An den Herrn und an Jeannettchen
+ | Leiht sie Kammer, Licht und Bettchen
+ | In Berlin, in Berlin,
+ | Wenn die Bäume wieder blühn.
+
+Inwieweit seither der Charakter unserer ehrwürdigen
+Hauptpromenade sich gleich geblieben ist oder sich geändert
+hat, dies zu behandeln wollen wir erfahrenen Forschern der
+Sittengeschichte überlassen und beim bloßen Anblick der
+Gegenwart bleiben.
+
+Der neugierige Fremde interessiert sich wohl vor allem für
+die berühmte Ecke Friedrichstraße und fragt nach Café Bauer
+und Kranzler. Nun, Bauer heißt nicht mehr Bauer, sondern
+schlechthin Café Unter den Linden, die wacker dionysischen
+und elysäischen Wandgemälde sind verschwunden und eigentlich
+ist im gegenüberliegenden Café König ‚mehr los‘ — womit ich
+nichts gegen die Annehmlichkeiten eines Aufenthalts im Café
+Unter den Linden gesagt haben will, im Gegenteil! Und
+Kranzler? Da sind zwar noch die merkwürdigen Eisenpfähle und
+Ketten, über die schon die eleganten Offiziere des alten
+Regiments Gensd’armes zur Zeit der Königin Luise ihre
+enghosigen Beine hängen gelassen haben, aber seit dem
+letzten Umbau hat es sein altes Cachet verloren, womit ich
+wiederum nichts gegen die Kuchen, die man dort verspeisen
+kann, sagen will.
+
+Von der Friedrichstraße, auf die du Fremder in Eile einen
+heftigen Blick wirfst, will ich dir noch nichts sagen, sie
+muß mit ihren alten, veraltenden und lebendig gebliebenen
+Geheimnissen und Sichtbarkeiten einem Abendspaziergang
+vorbehalten bleiben.
+
+Aber gern würde ich dich auf ein paar Minuten durch den
+Torweg dort in die kleine Mauerstraße entführen. Der Anblick
+der Torwölbungen von der Innenseite dieser alten Steinwelt,
+die mehr ein Durchgang als eine Straße ist, der
+anschließende Rundbau, die Balkongitter, der Glaserkergang,
+das Hellgrau und *‚cafe au lait‘* aller Nachbarhäuser ist
+rein erhaltene Vergangenheit. Der jenseitige Torbogen aber
+führt dich in die ‚Zentrale des deutschen Zahlungsverkehrs‘,
+die Mauerstraße und ihre Nachbarn. Vor allem findest du dort
+die mächtigen Gebäude der Deutschen Bank, die durch
+neuzeitliche Seufzerbrücken miteinander verbunden sind.
+
+Vorbei an kleinen, vornehm aussehenden Häusern, die mit
+ihren klassizistischen Fensterrahmungen wohlerhalten
+zwischen den jüngeren größeren Nachbarn stehn, und den
+Reihen schöner Privatautos vor den Hotels und parkenden in
+der Mitte des Dammes sind wir an den Pariser Platz gekommen.
+Die Form dieses Platzes mit dem abschließenden Tor, den
+zurückweichenden Fassaden der einfachen Palais und dem
+erfrischenden Rasengrün zur Rechten und zur Linken bewahrt
+eine Stille und Geschlossenheit, die vorübertosender Lärm
+und Betrieb nicht stören kann. Wohltuend ist der
+einheitliche Stil der Gebäude, den nur das Palais Friedländer etwas
+unterbricht, während das Barock der französischen Botschaft
+gut eingeht. Und erfreulich ist es, zu wissen, daß hier
+neben Akademien, Botschaften, Reichtum und Adel ein Maler
+und ein Dichter hausen.
+
+Das Brandenburger Tor mit den beiden Tempelhäuschen, die
+Schinkel dem stolzen Bau des älteren Langhans anfügte, ist
+zwar den athenischen Propyläen — etwas ungenau und, wie der
+Erbauer selbst berichtet, nur nach Beschreibungen der Ruinen
+— nachgebildet, aber in seiner stämmigen sandsteinernen
+Geradheit für unser Gefühl eigentlich mehr altpreußisch als
+antikisch. Es ist das Tor von Berlin. Und bei der Victoria,
+die oben ihre Quadriga lenkt, denken wir Kinder von hier
+nicht nur an die Entführung durch Napoleon und ihre
+siegreiche Wiederkehr, sondern auch an die Rolle, die sie in
+‚Teufelchens Geburtstag‘ in den entzückenden Berliner
+Märchen von Walther Gottheil spielt, in denen auch der Große
+Kurfürst und der Goldfischteich und die Spree so
+unvergleichlich verewigt sind.
+
+Wir umkreisen nun den Platz vor dem Tor. Sieh bitte nicht
+auf die marmornen Balustraden, Bänke, Springbrunnen und
+fürstlichen Herrschaften, die wir wilhelminischen
+Architekten und Baumeistern verdanken. Nimm dies grelle Weiß
+vor dem holden Grün des Tiergartens für Blendung und
+Augenweh! Wir wollen zusehn, daß das verunglückte
+Kaiserpaar, Friedrich III. und seine Gattin Viktoria, mit
+Gottes Hilfe entfernt ist, wenn du das nächste Mal nach
+Berlin kommst. Schau auf die schönen Bäume und Büsche an der
+Allee. Aber da schimmert schon wieder ärgerlich greller
+Marmor durchs Grün, und nun sind wir in der Siegesallee. Ja,
+da sind nun rechts und links 32 (in Worten: zweiunddreißig)
+brandenburgisch-preußische Herrscher und hinter jedem eine
+Marmorbank und auf jeder Bank sitzt — nein, sitzen kann da
+niemand, es ist zu kalt — aber auf jeder Lehne hocken zwei
+Hermen jeweiliger Zeitgenossen des betreffenden Herrschers.
+Es hilft nichts: unser Wagen fährt unerbittlich die ganze
+Reihe entlang und man nennt dir die Namen. Ob wir bis zu
+deinem nächsten Besuch das alles werden entfernt haben?
+Berlin ist ja jetzt sehr tüchtig, was Aufräumungsarbeiten
+betrifft, aber verarbeiteter Marmor soll keinen rechten Wert
+haben. Man müßte doch das Material verkaufen können. 32
+Herrscher nebst Bänken und Zeitgenossen! Da weiß ich keinen
+Rat. Du machst dir aber vielleicht einen Begriff, wie schön
+diese Allee hinauf zur braven alten Siegessäule und hinunter
+zur Viktoriastraße früher war. So, jetzt haben wir die eine
+Seite bis zu Friedrich Eisenzahnen geschafft. Hier sind wir
+am Kemperplatz, und das da soll, weil wir keinen alten mehr
+haben, der neue Roland von Berlin sein. Hier um die Ecke
+könnten wir in das etwas prunkvolle Café Schottenhaml gehn
+(bei diesem Namen denkt man eigentlich an etwas behaglich
+Münchnerisches) und oben das Porzellankabinett bewundern,
+alte Muster der Berliner Manufaktur. Aber unser Wagen wendet
+und erledigt die zweiten 16 von den 32. Da wirf einen Blick
+auf Otto den Faulen, den einzigen von diesen Herren, der
+sich einer gewissen Popularität erfreut, er hat eine so nett
+verdrießliche Art, das Repräsentieren
+nachlässig mitzumachen. Und nun harre aus, bis
+wir zur Siegessäule kommen! Sie ist nicht gerade schön, das
+kann man nicht behaupten. Immerhin erinnert der hohe
+Säulenschaft mit den Geschützrohren an einen Schachtelhalm.
+Und Schachtelhalme sind schön. Und das Ganze gehört nun
+einmal zu unserer Spielzeugschachtel Berlin. Du mußt
+zugeben, daß die Säule trotz der Kanonen etwas Harmloses
+hat. Wenn du übrigens Rundsichten liebst, da oben ist eine
+mit Baedekerstern, da kannst du über den ganzen Tiergarten
+weg nach Süden und Westen und nördlich Moabit sehn und
+östlich über die Reichstagskuppel die ganze Altstadt und
+alle Kuppeln und Türme, die wir heute aus der Nähe gesehen
+haben, noch einmal überschauen.
+
+Weniger harmlos, selbst noch in Begas’ eiliger Pathetik, ist
+dort der Riese auf dem roten Granitsockel. Der bronzene
+Kürassier mit der Faust auf der Urkunde der Reichsgründung
+schaut, seines eigenwilligen Werkes sicher, über alles
+Erreichte hinweg in die Fernen, welche die nicht mehr
+erreichten, die nach ihm kamen. Um das Volk an seinem
+Sockel, den Atlas mit der Weltkugel, den Opernsiegfried am
+Reichsschwert und die verschiedenen Damen, die
+Staatsweisheit und Staatsgewalt bedeuten, kümmert er sich
+nicht. Und das mächtige Reichstagsgebäude hinter ihm scheint
+sich zu ducken mit Kuppel und Türmen. Die Reichstagskuppel
+ist übrigens überhaupt nicht so hoch geworden, wie der
+Baumeister Wallot plante. Aber auch so wie es geworden ist,
+hat dies grollend lagernde Riesentier seine massive
+Schönheit und ist für die Zeit, in der es entstand, eine
+gewaltige Leistung.
+
+Hast du Lust an Glasfenstern mit Reichsadlern, Wandgemälden
+von Städten und Landschaften, Kardinaltugenden, marmornen
+und bronzenen Kaisern, gepreßten Ledertapeten von der
+Vornehmheit internationaler Speisewagen, ‚reichem
+Renaissanceschmuck‘, allegorischen Damen, so laß dich durch
+die Wandelhallen, Lesesäle, den großen Sitzungssaal,
+Erfrischungsraum, Vorsäle und Ausschußsäle führen. Es dauert
+immerhin dreiviertel Stunden. Hast du unter Abgeordneten
+oder Leuten von der Presse einen Freund, laß dir von ihm
+eine Eintrittskarte zur Tribüne verschaffen und wohne einer
+Sitzung bei. Da mußt du dann vor allem achtgeben, daß du
+Rechts und Links nicht verwechselst. Es ist wie bei gewissen
+Bühnenvorschriften vom Schauspieler, nicht vom Zuschauer aus
+gemeint. Also orientiere dich gut, damit du die Kommunisten
+nicht für Völkische hältst und umgekehrt. Nach
+Zeitungsbildern, Kinowochenschau und Karikaturen wirst du
+unsere größeren und kleineren Politiker erkennen, und das
+macht ja immer Vergnügen. Im übrigen empfehle ich dir die
+Lektüre gewisser Seiten von Eugen Szatmaris Berlin-Buch. Das
+führt dich auf muntere Art in diese Welt ein, in der ich
+mich etwas fremd fühle.
+
+Wo in Berlin ein Bismarck errichtet ist, pflegt Moltke nicht
+weit zu sein und auch auf Roon ist bisweilen zu rechnen.
+Unser Wagen bringt dich an beider Denkmälern vorüber und
+zwischendurch an der neuen vor einigen Jahren umgebauten
+Staatsoper, die einst als Krollsches Opernhaus in
+sommerlichem Garten stand.
+
+Dies Etablissement hatte eine besondre Glanzzeit, als noch
+das Gaslicht vorherrschte. Da wurde der Garten ‚märchenhaft‘
+illuminiert, wie wir blasierten Zeitgenossen der Berliner
+Lichtwoche, der A.E.G. und der Osramlampen es uns gar nicht
+mehr vorstellen können. Schon damals lockte Licht Leute
+hierher wie in den Pariser Jardin und Bal Mabille.
+
+Am Reichsministerium des Innern, das früher
+Generalstabsgebäude und Moltkes Heim war — es gibt dort ein
+Moltkegedächtniszimmer — kommen wir vorbei und die
+Alsenstraße hinauf, ein Stück am Kronprinzenufer entlang und
+über die Brücke. Da zur Rechten rund und weiß das
+Lessingtheater. Und jetzt hinter der mächtigen Schwebebrücke
+der Humboldthafen, an dessen Becken sich nördlich der Anfang
+des Spandauer Schiffahrtskanals anschließt, der Wasserweg
+zur Oder. Einer der sympathischsten älteren Berliner
+Bahnhöfe taucht auf, der nach der kleinen Stadt Lehrte
+heißt, aber gar nicht dahin seine Züge sendet, sondern vor
+allem nach Hamburg. Das ist eine schöne rasche Fahrt durch
+die Elb-Ebene und große mecklenburgische und
+niedersächsische Wälder und Felder. Mit alten Glaskuppeln
+und allerlei etwas unordentlich herumliegenden Gebäuden,
+Panoramen und Gartenrestaurants, erscheint, von der
+Stadtbahn überquert, der Ausstellungspark, früher im Sommer
+und wenn die Große Bilderausstellung die Säle füllte, ein
+‚Treffpunkt‘, jetzt ein bißchen veraltet, wie eingeregnet
+von lauter Vergangenheit, überholt von jüngeren
+Unternehmungen. Moabit mit Kriminalgericht, Zellengefängnis,
+der Meierei Bolle, den Kraftwerken, das ist ein Kapitel für
+sich. Wir fahren wieder über eine Spreebrücke und kommen zu den
+‚Zelten‘.
+
+Die großen Gartenrestaurants erheben sich jetzt da, wo
+früher einmal wirkliche Zelte waren. Der Alte Fritz hatte
+französischen Kolonisten gestattet, hier Leinwandzelte
+aufzuschlagen und Erfrischungen an die Spaziergänger zu
+verkaufen. Später gab es hier Gerüste, auf denen musiziert
+wurde. In den Märztagen von 1848 scharte sich um die Gerüste
+das revolutionäre Volk, beriet Adressen an den König, Druck-
+und Redefreiheit, Volksvertretung usw. Eine Weile lang ließ
+man sie gewähren, umstellte sie aber mit Reiterschwadronen.
+Es ging hier noch alles mit Maß und Haltung zu. Varnhagen
+berichtet von den schweigsamen Massen, die in dunkler Nacht
+ruhig von den Zelten durch das Brandenburger Tor in die
+Stadt zurückkehrten. Auch in den Novembertagen 1918 zog an
+den Gärten der großen Restaurants die Menge schweigend
+entlang und wieder waren die Zelte eine Stätte verhalten
+maßvoller Revolution. Im allgemeinen aber ist hier friedlich
+kleinbürgerliche Erholung mit viel Musik, Vorstellungen,
+Tanz und den mächtigen Platten der ‚Zeltentöpfe‘ und
+‚Stammessen‘ oder mitgebrachtem Abendbrot. Es geht beim
+Tanzen bieder zu; auch die Vorführungen sind ziemlich
+harmlos. So ist hier noch heute mitten in der Stadt eine Art
+Ausflugsrast für die unendlich vielen kleinbürgerlichen
+Familien, Gruppen, Vereine Berlins. Schönstes stilles Berlin
+ist die Straße, die sich im Anschluß an die Restaurants am
+Tiergartenrand hinzieht. Aber das kann man so im
+Vorbeifahren nicht sehn, das muß man mit Morgen
+und Abend erleben. Hier wohnt sich’s altertümlicher und
+heimlicher als in den bekannten schönen Straßen am südlichen
+Tiergartenrand.
+
+Grausam schnell saust unser Wagen den Spreeweg entlang am
+Garten und Schloß Bellevue vorbei zum Großen Stern.
+Bellevue: früher spähte man durch den Zaun, um zu sehen, ob
+da die kleinen Prinzenkinder spazierten. Jetzt kann man in
+den Alleen des alten Gartens sich ergehn, in den runden Saal
+zu ebner Erde im Seitengebäude schauen und sich dazu
+königliche Sommerfeste denken, Gartengrabmäler entziffern,
+hinübersehn nach der Altberliner Straße, die Brückenallee
+heißt, wo in verwitternden Balkons Altfrauenblumen sich
+halten. Auf der Schloßterrasse nach der Gartenseite zu saß
+viel in seinen letzten Jahren der tafelfrohe und
+lebenstraurige Friedrich Wilhelm IV., zeichnete vielleicht
+seine romantischen Gartenprospekte, wie man deren im
+Hohenzollernmuseum sehen kann, empfing seine Minister, die
+über seinen seelischen Zustand ihre Bedenken bekamen, und
+träumte sein verlorenes Kaiserreich, in dem ‚kein Blatt
+Papier zwischen ihm und seinem Volke sein sollte‘, während
+die liberalen Berliner sich mit Parlament und Freiheit
+befaßten.
+
+Zu Zeiten des Großen Friedrich hatte Knobelsdorff, der
+Meister von Sanssouci, hier Meierei und Landhaus, nach
+seinem Tode ging der Besitz durch verschiedene Hände, bis er
+endlich an Prinz Ferdinand, Friedrichs jüngeren Bruder, kam,
+dem Boumann der Jüngere das Schloß gebaut hat; der zierliche
+Pavillon aber mit den korinthischen Säulen ist Schinkels
+Werk.
+
+Während wir am Großen Stern den Hubertusbrunnen und
+die Jagdgruppen passieren, brave Bronze, gegen die sich
+nichts einwenden läßt, versuche ich doch diesen Platz in
+alten Zeiten vorzustellen, als hier die echten Parkhüter des
+Jägerkreuzwegs standen, Gartengötter, die später noch auf
+den Korso der schönen Welt schauten. Oh, es hat schon viele
+Berliner Tiergarten und Große Sterne gegeben vor dem, den
+jetzt der Rundverkehr durchtost und in dem vor kurzem als
+Sinnbild des helleren Berlins ein Lichtturm grell
+aufleuchtete.
+
+Bei der Fahrt die Charlottenburger Chaussee hinauf zeig ich
+dem Fremden schnell, wo im Grünen der Weg zu dem alten
+Gartenrestaurant Charlottenhof führt. Das war einmal ein
+schönes Privathaus und ist nun eines der wenigen Cafés im
+Tiergarten selbst, die zum Verweilen einladen. Noch hat der
+Berliner in seinem Park seine Art Luxus und Behagen nicht
+ins beleuchtete Laubwerk verpflanzt. Was würde Paris aus so
+schön gelegenen Plätzen, wie dies Charlottenhof oder das
+kleine Gasthaus bei der Bootanlegestelle am Neuen See es
+ist, gemacht haben!
+
+An dem Stadt-Bahnhof Tiergarten findest du in einer kleinen
+Auslage die Schalen und Teller, die dort die
+Porzellanmanufaktur ausstellt; ich lege dir dringend ans
+Herz, ein paar freie Stunden dem Besuch der nahegelegenen
+Fabrik zu widmen. Das ist ein Stück bestes Altberlin. Längs
+eines stillen Wasserarms zweigt hier die nach dem
+Privatbegründer der Manufaktur, Wegely, benannte Straße ab
+und führt zu den Verwaltungsgebäuden und zu der Fabrik.
+Während die Verkaufs- und Ausstellungsräume in der Leipziger
+Straße allgemein bekannt sind, ist dieser abgelegne Komplex
+mit seinem
+Museum und all den Hallen und Zimmern, in denen das
+Porzellan gewonnen, gebrannt und bemalt wird, bei weitem
+nicht so berühmt und besucht, wie er es verdient. Durch den
+gartenhaften Hof gehen wir an den langen schmucklosen
+Gebäuden entlang und durch einen Torweg in die Fabrik, deren
+Bau auch schon historischen Reiz hat. Dort führt man uns den
+ganzen Weg, den das Porzellan von der Schwemmerde bis ins
+Atelier des Blumenmalers zurücklegt. In den niederen
+Schlämmereikellern setzen sich in der ruhig gleitenden Masse
+in einem weiten Kanalsystem von Rinnen die festen Teile ab;
+aus denen wandert die Flüssigkeit in Kästen, wo auch die
+feineren Bestandteile sich vom Wasser scheiden. Der
+‚Hallischen Erde‘ wird Feldspat, der vor unsern Augen in
+mächtigen Kollergängen grob und in Trommelmühlen staubfein
+zerkleinert worden ist, beigegeben. Die Gesamtmasse wandert
+weiter, erlebt Filterpressen und Masseschlagmaschinen, die
+moderne Form der alten Knetbänke. Auf runden Tischen wird
+sie unter einen Walzengang gebracht. Wir dürfen die
+Gipsformer und die Arbeiter an der Töpferscheibe bei ihrem
+Werk beobachten. Wir besuchen die leichtgewärmten
+Trockenräume, wo die ausgeformten Gegenstände bleiben, bis
+sie reif zum ersten Brande sind, die Brennkammern der
+Gasringöfen, die Stockwerke des Rundofens, Gutbrandraum und
+Verglühraum und die Ateliers, wo die Tonnen zum Glasieren
+stehn. Eine seltsame Unterwelt, halb Backofen, halb Gang zum
+Eisenhammer. Zuletzt langen wir bei den Malern an, die auch
+heut noch treu-inniglich die alten Blümchen mit spitzen
+Pinseln in Metallfarbe aufsetzen, welche
+sich beim Einbrennen verwandelt. Man zeigt uns die Teller
+und Schüsseln in allen Zuständen, vor und nach dem
+Einbrennen, vor und nach ihrem Aufenthalt in den Muffelöfen,
+in denen in schwachem Feuer das Flußmittel von der Farbe
+abschmilzt.
+
+Ein freundlicher Bibliothekar führt uns in den Büchersaal
+und gewährt uns Einblick in die Kabinettsorders des Alten
+Fritz, der sich als Fabriksherr um alle Einzelheiten seiner
+‚Porcellainfabrique‘ kümmerte. Alle Berichte von Bedeutung
+mußten an ihn direkt gehen, er versah sie mit seinen
+gestrengen ‚Erinnerungen‘. Er war ein guter Kaufmann und
+wußte seine Ware anzubringen. Wollten zum Beispiel Juden
+sich niederlassen, ein Gewerbe eröffnen oder heiraten, so
+mußten sie königliches Porzellan kaufen. Dem Philosophen
+Moses Mendelssohn wurden zu einer Zeit, als er schon einen
+großen Namen hatte, zwanzig lebensgroße massive Affen
+zugemutet. Durch große Geschenke, die er gern mit Hilfe
+seiner Fabrik machte, vermehrte der König ihren Ruhm.
+Weltberühmt wurde der Tafelaufsatz, den er der Kaiserin
+Katharina II. von Rußland-überreichen ließ. Unter der
+Fürsorge des Königs gedieh das Unternehmen, immer neue Öfen
+wurden aufgestellt, und die technischen Errungenschaften des
+beginnenden neunzehnten Jahrhunderts kamen der königlichen
+Fabrik zugute. Wohl hatte sie Preußens schwere
+wirtschaftliche Kämpfe mit durchzumachen, bewahrte aber
+durch alle Zeiten die künstlerische Qualität und Eigenart
+ihrer Erzeugnisse. Ein Gang durch die Ausstellungssäle hier,
+ergänzt durch einen Besuch der Geschäftsräume in der
+Leipziger Straße, die Bruno Paul ihre neue Inneneinrichtung und ihm
+und Künstlern wie E. R. Weiß, Renée Sintenis, Edwin Scharff,
+Georg Kolbe, ihren Schmuck verdanken, zeigt uns das Berliner
+Porzellan durch alle Stilperioden als getreues Spiegelbild
+des Zeitgeschmacks. Da sind die Putten und Parzen des
+Rokoko, die allegorischen Gruppen wie etwa das ‚Wasser‘ als
+Schäferin mit einem winzigen Krug, Cupido als Kavallerist.
+Nach den mehr malerischen Blumen aus der Zeit des Neuen
+Palais-Services und des Breslauer Stadtservices mit seinem
+leuchtenden Dunkelblau erscheinen die zeichnerisch schönen
+Buketts des Empire, die klassizistischen Grazien,
+Kaffeetassen, deren Zierformen griechische und etrurische
+Vorbilder haben, die zarten Biskuitgebilde nach Schadows
+Entwürfen, die Luisenbüsten, die schöngestalteten
+Henkelvasen nach Schinkelzeichnungen. Im Berliner
+Stadtschloß, in Schloß Monbijou, in Potsdam, aber auch in
+altem Familienbesitz begegnen uns immer wieder diese Formen
+und Gestalten.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Wo die Charlottenburger Chaussee den Landwehrkanal
+überschreitet, erhebt sich ein etwas umständliches
+Torgebäude, das vermutlich hervorheben soll, daß hier eine
+neue Stadt beginnt. Es ist ziemlich neu, und man glaubt ihm
+nicht. Es gibt hier ebensowenig wie anderswo für das Gefühl
+eine Grenze zwischen Berlin und Charlottenburg.
+Schwesterlich hat Charlottenburg der Nachbarin auch etliche
+Wissenschaft und Kunst abgenommen, so zum Beispiel gleich
+hier zu unserer Linken die Technische Hochschule. Das
+mächtige Gebäude feiert noch einmal mit aller Pracht von Säulen, Gesimsen und
+Skulpturen eine Welt, die mit Säulen, Gesimsen und
+Skulpturen eigentlich nichts zu tun hat. In der Vorhalle hat
+der Dämon des Dampfes ein Bronzedenkmal bekommen wie ein
+Renaissanceheld. Ein Stückchen weiter macht die Berliner
+Straße einen Knick, den man das Knie nennt. Schon Fontane
+sagt von diesem Knie: ‚Seine Rundung ist heute völlig
+reizlos.‘ Reizvoller ist sie seither nicht geworden. Und
+ihre Form verschwindet ganz in dem Durcheinander von Autos
+und Bahnen, die hier die Kreuzung mehrerer Straßen
+überqueren. Die stillste dieser Straßen ist immer noch die
+Fortsetzung der Berliner Straße. An ihr liegen zwischen den
+neuen noch eine ganze Reihe älterer kleiner Häuser aus der
+Zeit, als der Weg von Berlin nach Charlottenburg ein Ausflug
+war, eine Kremserpartie. Man fuhr mit dem Wagen vom
+Brandenburger Tor aus richtig über Land hierher. Man bezog
+Sommerwohnung in den idyllischen Behausungen, die an der
+Straße lagen, welche die Hauptstadt mit der Sommerresidenz
+verbanden, die einst der erste Preußenkönig seiner Gemahlin
+im Dörfchen Lietzow geschaffen hatte und die nach ihr den
+Namen Charlottenburg trägt.
+
+Die Ankunft vor dem schönen Schloß dieser Königin wird uns
+etwas verleidet durch ein großes Reiterdenkmal Kaiser
+Friedrichs mit Umbau und Göttern von 1905 auf den Pylonen.
+Fort damit! Die Anlagen des Platzes sind doch dem Schutz des
+Publikums empfohlen! Dem Schloß gegenüber die beiden
+erfreulichen Kuppelbauten, die — man glaubt es kaum — einmal
+Kasernen waren, erinnern an die etwas unbestimmten
+Gartenarchitekturen, die der romantische Friedrich Wilhelm IV.
+zeichnete, und blicken ehrfürchtig zu Eosanders grüner
+Kuppel mit dem schwebenden Tanzgott hinüber.
+
+Im Schlosse sind schöne, etwas leere Empirezimmer der
+Königin Luise mit viel unbesessenen Sesseln und zierlichen
+Kachelöfen. Im östlichen Flügel, den Knobelsdorff für
+Friedrich den Großen anbaute, ist ein weitläufiger Tanzsaal,
+die goldne Galerie genannt. Und noch älteren Prunk findet
+man auf der Gartenseite in den Gemächern, in Kapelle und
+Porzellankammer des ersten Königs. Durch das Ganze wird man
+leider pantoffelschlurfend geführt. Ungestört aber darfst du
+Fremder in dem großen Park spazieren. Auf dem Weg dahin ist
+ein Durchgangsraum. Pilaster und reiche Kapitelle und
+Medaillons in Stuck, der so aussieht, als müßte er im
+nächsten Windstoß bröckeln, und hält doch schon zweihundert
+Jahre. Dieser wenig beachtete Raum ist ganz besonders voll
+Vergangenheit. Im Garten gehst du an schöner Schloßfront und
+den Büsten der römischen Kaiser entlang und stille Wege zum
+Mausoleum. Das ist auch in seiner in neuerer Zeit
+erweiterten Gestalt noch immer ein würdiges Gebäude, aber
+unvergeßlich ist für jeden, der es noch gekannt hat, das
+erste nach Schinkels Plänen erbaute Todestempelchen, das nur
+den Marmorschlaf der Königin Luise und ihres Friedrich
+Wilhelm hütete. Man hätte für ihren Sohn und ihre
+Schwiegertochter eine andre Ruhestätte bauen und Rauchs
+Meisterwerke allein lassen sollen. Es gibt in diesem Park
+noch ein merkwürdiges Gebäude weit hinterm Karpfenteich und
+nah dem Fluß, das Belvedere, in welchem
+in den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts
+Friedrich Wilhelm II. zu Füßen seiner ‚Gräfin Lichtenau‘
+saß. Fontane hat das Innere des »seltsamen jalousienreichen
+Baus mit den vier angeklebten flachen Balkonhäusern und dem
+kupfernen Dachhelm« besucht (heut ist es eine Art
+Beamtenwohnung und unzugänglich). In den saalartigen
+Rundzimmern war er und in dem dämmerigen Kabinett, wo der
+König die Geister der Abgeschiedenen beschwor, die ihn
+mahnten, auf den Weg der Tugend zurückzukehren. Heut sind
+die Gespenster, die Fontane noch spürte, von ziemlich
+banaler Gegenwart vertrieben, und Vergangenheit wohnt eher
+in manchen Büschen und Wegen des Parks, der sich weit nach
+Norden und Westen hin erstreckt.
+
+Unser Wagen aber lenkt südwärts ins neueste Charlottenburg
+auf den Kaiserdamm bis zum Reichskanzlerplatz. Auf die
+Reichsstraße werfen wir nur einen Blick und ahnen dahinten
+die werdende Kolonie Heerstraße. Südlich vom Kaiserdamm
+bekommen wir die Messehallen, die großen Ausstellungsbauten,
+Funkhalle und Funkturm zu sehen. Groß angelegt und mit Recht
+ein Stolz des neuen Berlin ist diese ganze Straße, die vom
+Brandenburger Tor hieher und weiter führt. Unser Rückweg
+passiert in der Hardenbergstraße die Hochschulen für Musik
+und bildende Kunst, einen einheitlich entworfenen Komplex
+von Gebäuden in hübschem Sandstein. Und dann geht es unterm
+Stadtbahnviadukt hindurch und zur Kaiser
+Wilhelm-Gedächtniskirche, vor der unser Wagen hält. Der
+Führer erklärt, dies Gebäude sei eine der schönsten Kirchen
+Deutschlands.
+
+Nun ist leider noch heller Tag, da sieht man sie zu
+deutlich. Ach, wenn hier eine echte alte Kirche stünde — aus
+Zeiten stammend, die eine der andern den Torso ihrer Träume
+zu langsamem Weiterbauen übergab — und wenn nun heut an die
+altersgrauen Mauern und Zacken unter Engelleibern und
+Teufelsfratzen der wilde Rundverkehr der Trambahnen, Autos,
+Autobusse und Menschenmassen mit einem Echo aus Ruinenstein
+prallte — der ‚Broadway‘ von Berlin-Charlottenburg mit
+seinen Cafés, Kinos, Leuchtbuchstaben und Wanderschriften
+hätte ein Herz, eine Mitte, eine Resonanz. Statt dessen
+steht, seit dreißig Jahren immer noch wie neu, hier das
+Schulbeispiel einer sogenannten ‚spätromanischen
+Zentralanlage‘ mit Hauptturm und Nebentürmen als massives
+Verkehrshindernis mitten auf dem Platz, und gegenüber dem
+Hauptturm einerseits und dem Chor andrerseits sind von
+demselben Architekten — wir wollen seinen Namen vergessen —
+noch aus Stilgefühl zwei gleichfalls romanische Häuser
+errichtet. Es muß abends schon gewaltig von ‚Capitol‘ und
+‚Gloriapalast‘ und der Ufa am Zoo Licht herüberdonnern, um
+die steingewordne Schulweisheit etwas aufzulösen. Wir
+Älteren denken manchmal an die Zeit, als hier einer der
+wunderbaren vom alten Tiergarten übriggebliebenen Bäume
+seine Zweige breitete (Zeitgenossen dieses herrlichen Baumes
+stehen noch heut, der eine in der Wichmann-, der andre in
+der Viktoriastraße), doch das ist belanglos, heut ist heut.
+Aber wenn diese Kathedrale mit dem langen Namen wenigstens
+ein bißchen altern und zerfallen wollte. Da steht sie mitten
+im Gerassel und Gedröhn preußisch
+unerschüttert und macht Augen rechts nach dem
+lieben Gott.
+
+Und das Innere? Schon in dem Vorraum, der vermutlich an den
+Narthex der echten romanischen Kirchen erinnern soll, gehts
+marmorn los. Als Knabe bekommt Wilhelm vom Vater das
+marmorne Schwert gereicht, reitet als junger Kriegsprinz
+durchs Schlachtfeld von 1814 hinter lagernden Schützen, die
+marmorn nach dem Innenportal der Kirche zielen, ratschlagt
+mit Bismarck und Moltke zwischen stilisierten Blumen über
+einer Feldzugskarte und sitzt marmorn zwischen Sohn und
+Enkel, sich huldigen zu lassen. Von den vielen
+Kirchenfenstern ist zu sagen, daß fast unter jedem der
+Stifter leserlich verzeichnet steht. Viel Prinzen sind
+darunter, aber auch Städte und einzelne Mäzene. Deren Enkel
+können, bis diese Inschriften eines schönen Tages verlöschen
+oder verschwinden, noch ein kleines Jahrhundert lang sich
+ärgern, daß Großpapa und Urgroßmama etwa einen glasgemalten
+lächerlichen Satan, der in roten Flammen neben dem
+ruhevollen Heiland brennt, gestiftet haben. In der großen
+Fensterrose bemühen gebildete kleine Propheten sich mit
+ihren Spruchbändern um ein naiv mittelalterliches Benehmen
+und auf dem Goldgrund der Deckenmosaiken halten strebsame
+Leute mit Heiligenschein sich so katholisch, wie es ihre
+protestierenden Gliedmaßen irgend zulassen. Und das alles
+muß unter elektrischer Beleuchtung ein Heiland segnen. Er
+hat den vornehmen Bestand aufzunehmen. Außer den Statuen
+rings ein Taufbecken aus kostbarem Material, eine Ringkrone
+von 5'5 m Durchmesser, eine Orgel mit einem
+Prospekt in getriebenem Kupfer, 80 Registern und 4800
+klingenden Stimmen. — So, hier will ich, ehe der Wagen
+weiterfährt, aussteigen, nicht um in die Kirche, sondern ins
+Romanische Café zu gehen. Es ist Spätnachmittag, da ist es
+noch nicht zu voll. Ich finde die alten Münchner und Pariser
+Freunde. Fahrt ohne mich weiter, ihr richtigen Fremden!