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+.. include:: global.rst
+
+FRIEDRICHSTADT
+==============
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`N`\ ovembernachmittag. Silbergraues Licht über dem
+Schiffbauerdamm. Vom gegenüberliegenden Reichstagsufer seh
+ich die Häuserreihe und als Abschluß ein Stück von der Halle
+des Friedrichstraßenbahnhofs, hinter der ferner und näher
+Kuppeln mit rauchdünnen Konturen in die Luft eingehn. Von
+dieser Gegend habe ich in Ebertys Erinnerungen eines alten
+Berliners gelesen, wie sie vor hundert Jahren aussah, als
+der Knabe mit seinem Hauslehrer sich hier erging und auf das
+jenseitige Ufer blickte, das damals ganz mit Gärten bedeckt
+war. Da sah man Laubengänge und Lusthäuschen, teils im
+chinesischen, teils im griechischen Geschmack. Sie
+schimmerten durch die Lücken im Laub und schienen dem
+kleinen Eberty der Inbegriff alles Wunderbaren. Er fragte
+den Lehrer nach den Bewohnern der lieblichen kleinen
+Paläste, und der lehrte in ernstem Ton, da drüben sei der
+Himmel, wo die guten Kinder hinkommen, die auf Erden recht
+artig gewesen sind und ihren Eltern Freude gemacht haben.
+Reizende Engel mit goldenen Flügeln warteten dort auf sie,
+um die schönsten Spiele mit ihnen zu spielen. Ja, damals muß
+da drüben ein schönes Jenseits der Spree gewesen sein. Es
+war die Zeit, als die nahe Dorotheenstraße noch die Letzte
+Straße hieß, in der die Rahel so gern spazierte. Geblieben
+sind aus dieser Zeit wohl nur Schloß und Garten Monbijou und
+ein paar Nachbarhäuser und noch Einzelnes nahe dem
+Hackeschen Markt. Sonst ist die Gegend jetzt alles andre als
+märchenhaft. Aber dort in der Vertiefung geht es noch heute
+zu einem Märchenpalast. Er heißt Großes Schauspielhaus, war
+früher ein Zirkus und ehedem eine Markthalle. Sein Innres,
+einst Stätte steiler Kunstreiter und taumelnder Clowns, dann
+des Thebanerchors, den Reinhardt gegen die Stufen des
+Palastes zum König Ödipus stürmen ließ, faßt jetzt die
+Tausendundeine Nacht und tausendundein Bein der großen
+Revuen. Die Meister dieser herrlichen Kindervorstellungen
+für Erwachsene (und das ist das höchste Lob, das ich
+auszusprechen vermag, denn diese Schöpfungen befriedigen
+sowohl unsre reiferen Lüste als auch unsre Kinderlust an
+Märchenwelten über Traumrampen) haben einen neuen Genre
+geschaffen zwischen Revue und Operette, getanztes zertanztes
+Bild, getanzte zertanzte Musik, bald für den Riesenraum
+hier, bald für die verwandten kleineren Bühnen. Und die
+Besten unsrer darstellenden Künstler haben ihnen geholfen.
+Ich meine nicht die Kammersänger, die mit gepflegtem
+Stimmvibrieren das erfreuliche Tanz- und Ausstattungswesen
+unterbrechen, ich meine Max Pallenberg und Fritzi Massary.
+Wir haben mit schweifenden Balken und Trichtertürmchen
+Titipu, die Märchenstadt des ‚Mikado‘ aufsteigen sehn,
+wallende Lampions, porzellanene Bäume und zwischen Drachen
+und bunten Garden, zwischen Pfauen und Zwergen die Tanzchöre
+in Wachstuch und Seide. Und Pallenberg als Koko
+schlimmheilig und verschmitzt auf Treppen trippelnd,
+porzellanen vor Porzellanbäumen hockend, Reime malmend und
+wegspuckend. Und in den Rahmen der auferstandenen
+Jahrhundertwende, der Schleppen, Korsettaillen und
+Riesenhüte, der Samtvorhänge und Blattpflanzen, des
+wiegenden Walzers und der Maxixe hat die wunderbare Frau ihr
+Chanson eingefügt mit schneidender Strenge und schimmerndem
+Übermut, mit sparsamer Kunst und zitternder Lust, in jeder
+Gebärde gehalten und gelöst.
+
+Ein paar Straßenecken vom Großen Schauspielhaus bekamen wir
+in neuen Reimen das alte Singspiel vom trotzigen Elend, die
+Lumpenballade, genannt ‚Dreigroschenoper‘, gepfiffen und
+gesungen.
+
+Drüben hinter der Weidendammerbrücke probt man jetzt wohl
+für den Abend Musik und Tanz in der Komischen Oper und im
+Admiralspalast. Ebertys Zaubergärten sind in die Kulissen
+gewandert, und am Tage ist hier im Freien keine sehr heitre
+Gegend. Hinterm Schiffbauerdamm beginnt mit großen und
+kleinen Kliniken, wissenschaftlichen Buchhandlungen,
+chirurgischen und orthopädischen Schaufenstern das Quartier
+der Medizin. Aber mittendrin in behütetem Abseits weiß ich
+unser Deutsches Theater und die Kammerspiele. Als ich vor
+einiger Zeit wieder einmal dort war, auf einem
+vortrefflichen Parkettplatz den Bühnengesichtern schminkenah
+saß und berühmte Glanzleistungen in einem amerikanischen
+Artistendrama vor mir hatte, mußte ich in den Pausen, ja
+auch während gespielt wurde, bisweilen verstohlen
+hinaufschauen nach den Mittelplätzen des zweiten Ranges.
+Ach, ihr Gleichaltrigen, wißt ihr noch? Es waren die Plätze
+19 bis 26. Man lief ein paar Tage vor der ersehnten
+Vorstellung früh an die Kasse, um noch die besten Plätze zu
+bekommen. Man saß dicht unter den Medaillons der Devrient
+und Döring an der Decke. Man sah Josef Kainz! — Ungeheuer
+wichtig und zentral war damals in unserm Leben das Theater.
+Warum ist es das nicht mehr? Ist es eine Frage des
+Lebensalters oder hat sich in der Zeit etwas geändert?
+Eigentlich waren die Berliner doch immer große
+Theaterenthusiasten. Wie mögen sie in alter Zeit für die
+Schmeling, die marmorn auf dem Schreibtisch des Königs stand
+und als billige Lithographie in der Stube des Handwerkers
+hing, wie für die Henriette Sontag geschwärmt haben! Nun, im
+Leben der Stadt spielt das Theater auch heut eine große
+Rolle. In der Trambahn und in der Gesellschaft wird viel von
+der Bühne gesprochen. Aber bei allem Anteil an neuen
+Problemen der Regie, der Erneuerung des Alten, der
+revolutionären Tendenzen, ein richtiges Theatervolk wie etwa
+die Wiener sind die Berliner doch nicht. Das hängt nicht nur
+mit dem jetzigen Stande des Schauspielwesens, sondern auch
+mit dem Volkscharakter zusammen.
+
+Die Berliner, und besonders die besseren, womit ich keine
+Stufe der Bildung, sondern einen Grad der Echtheit
+bezeichnen möchte, sind etwas mißtrauisch gegen das, was
+ihnen unmittelbar gefällt. Und so haben sie als Publikum
+nicht die Naivität des schlechthin Genußsüchtigen. Obendrein
+kommen sie auch nicht wie die Pariser behaglich nach dem
+Essen ins Theater mit der Aussicht auf eine angenehme
+Fortsetzung der Konversation bei Tische, sondern hungrig und
+kritisch. Es wird ihnen dann wohl so ziemlich das Beste
+geboten, was es heute an Regie und Schauspielkunst gibt. Der
+Namen sind so viel, daß ich keinen nennen will. Aber schau
+dir das Publikum an! Eine Mischung von Verdrossenheit und
+höflicher Andacht ist in den Gesichtern. Wenn sie dann
+ablehnen, sind sie entrüstet, sie lachen das Verfehlte nicht
+aus, sondern sind ungehalten, daß es ihnen zugemutet wird.
+Und wenn sie sich begeistern, geschieht es auch mit einer
+Art Entrüstung gegen einen imaginären Gegner, der sich nicht
+genug begeistert. Ob sie wohl jemals von Herzen glücklich
+sind im großen Theater? So glücklich wie das Publikum der
+Vorstadtbühnen? So zu Hause im Genuß?
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Dorotheenstraße. Ein Glücksfall öffnet mir die
+Dorotheenstädtische Kirche. Endlich einmal kann ich das
+Grabmal des Königskindes, des neunjährig verstorbenen Grafen
+von der Mark, sehn, Schadows berühmtes Erstlingswerk, den
+schlafenden Jüngling mit Schwert und Kranzgewinden und im
+Halbrund über ihm heidnische Parzen, denen der Tod die
+Christenkirche aufgetan hat. Der Kirche gegenüber steht
+inmitten höherer städtischer Nachbarn Schlüters letzte
+Schöpfung, ein Landhaus, das erst das Buen Retiro eines
+Staatsministers war, seit über hundertfünfzig Jahren aber
+merkwürdigerweise einer Freimaurerloge, der Royal York,
+gehört. Der vorspringende Mittelteil ist wie in sanfter
+Bewegung, die in den Gesten der Figuren auf dem Dach — zwei
+von diesen Statuen regen sich fast wie Tänzerinnen — sich
+leidenschaftlicher fortsetzt. Eine wunderliche Spielerei
+findet sich an einigen Seitenfenstern, nämlich
+steingemeißelte Fenstervorhänge. Zeitgenossen fanden, es sei
+‚ein überaus nettes, nach der neuesten Baukunst errichtetes
+Lusthaus‘. Ein Kunsthistoriker der siebziger Jahre des vorigen
+Jahrhunderts hat den Eindruck, daß die Willkürlichkeiten und
+Spielereien, die ursprünglich der malerischen Wirkung
+dienten, als die halb ländliche Umgebung noch bestand, jetzt
+in der städtischen Straße sich fremdartig ausnähmen. Aber
+ein Kunstrichter unserer Tage, Max Deri, nennt es das
+einzige ‚wirklich »europäisch« schöne historische Gebäude‘,
+das Berlin besitze. Es ist sehr verlockend, in dies
+verwunschene Gartenhaus einzutreten, aber es steht nur den
+Mitgliedern der Loge offen. Und so muß ich mich, was den
+Gartensaal, der sich innen befinden soll, betrifft, mit der
+Beschreibung von Friedrich Nicolai begnügen. Der lobt die
+eleganten Proportionen des Saales und seine schönen
+Deckenstücke: »Über den vier Türen sind die vier Weltteile
+von Schlüter in Gyps vorgestellt. An der Wand stellen vier
+kleine Basreliefs die Wachsamkeit, Weisheit, Vorsicht,
+Verschwiegenheit als die vier Haupttugenden eines Ministers
+vor«. Zu Nicolais Zeit ging der Garten bis an die Spree und
+in ihm war »ein großer Salon von hohen Kastanien und Ulmen
+und ein artig angelegter buschiger Hügel merkwürdig und die
+Aussicht auf die gegenüberliegenden mit Bäumen umpflanzten
+Wiesen ländlich reizend«.
+
+Im entgegengesetzten Teil der Dorotheenstraße hinter
+Bibliothek und Universität weiß ich nah dem kleinen Platz
+mit Hegels Kolossalbüste — diesem sanft dröhnenden Gesicht,
+das unentwegt behauptet, alles Seiende sei vernünftig —
+einige alte Häuser; besonders vertraut ist mir von
+Studententagen her das Seminargebäude, dessen lichte
+altfarbene Wand ein zarter Fries und Reliefs zieren. Aber so
+weit will ich heute nicht, ich lasse auch neben dem Museum
+für Meereskunde die beiden Büstenmänner in der Wand ruhig
+immer wieder den Rübenzucker entdecken und seine Industrie
+begründen. Ich biege an der Wintergartenecke in die
+Friedrichstraße ein. Einen Blick in das Café des
+Zentralhotels, wo um diese Nachmittagszeit oft recht
+merkwürdige Leute sitzen: ausländische Geschäftsmänner,
+einzeln reisende Damen, Familiengruppen aus der Levante,
+Artisten, zweifelhafte Lebemänner, eine rätselaufgebende
+Dämmerversammlung. Da der Wintergarten, Berlins altberühmtes
+Varieté, vor kurzem umgestaltet und festlich neu eröffnet
+worden ist, geziemt es sich seiner Geschichte zu gedenken.
+Zunächst war er, wie sein Name andeutet, nur bestimmt, eine
+Ruhe- und Erholungsstätte der Hotelgäste zu sein. Die Logen
+waren so angelegt, daß man sie bequem aus den Zimmern des
+Hotels erreichen konnte. Von dort sahen die Gäste hinunter
+in die Fülle der Schlinggewächse, Lorbeerbäume, Palmen, in
+Tropfsteinhöhlen und Aquarien, und zwischen alldem erschien
+im Gaslicht der ‚Sonnenbrenner‘ und Kandelaber eine kleine
+Bühne, auf der gelegentlich ein bißchen Singspiel stattfand.
+Dann aber kam die Zeit der beiden Direktoren, deren Namen
+schon sich zu einem so eindringlichen Firmenwort paaren,
+Dorn & Baron. Die Zeit der Loie Fuller, der Barrisons, der
+Otéro, der Cléo de Merode und aller europäischen
+Berühmtheiten des Trapezes und hohen Seils. Der
+Sternenhimmel an der blauen Decke strahlte als nahes Weltall
+der Sensationen über den Berlinern. Es war ‚kolossal‘, was
+hier geboten wurde. Und heute ist es, dem aktuellen
+Superlativ entsprechend, ‚zauberhaft‘.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Friedrichstraße. Das war einmal das Zentrum der berlinischen
+Sündhaftigkeit. Das schmale Trottoir war mit einem Teppich
+aus Licht belegt, auf dem sich die gefährlichen Mädchen wie
+auf Seide bewegten. Der Mode gemäß hatte ihr aufrechter Gang
+etwas Feierliches, das grausam persifliert wurde, wenn sie
+den Mund aufmachten, um sich im städtischen Idiom zu äußern.
+Ihre kastenhafte Abgetrenntheit von der Gesellschaft, der
+sündhafte Glanz ihres falschen Schmucks und echten Elends,
+all die naheliegenden Kontraste, mit denen damals junge
+Phantasie arbeiten konnte beim Anblick dieser schlimmen Feen
+im Federhut der Fürstin, die sie im hohen Rat ihrer
+bornierten Seelsorger aus den heimlichen Häusern auf die
+Straße verbannt hatte, — Bild und Begriff von all dem ist
+nun längst historisch geworden. Und in der heutigen
+Friedrichstraße gespenstert wenig von dieser Vergangenheit.
+Ihr Nachtleben ist ja längst von dem westlichen Boulevard
+überboten. Und was davon noch vorhanden ist, reizt mehr den
+Provinzler als den Berliner Bummler. In einigen Nachtlokalen
+kann die heutige Jugend vielleicht noch ironisch studieren,
+was früheren Generationen Spaß machte. Am Nachmittag aber,
+wenn erst einige der Vergnügungsfassaden erleuchtet sind wie
+jetzt, werden manche Tore und Fenster reizvoll wie
+Theaterkulissen, die hinter der Szene angelehnt stehn. Eine
+besondre Art Reklameliteratur treibt hier ihre Blüten. Von
+Torhütern und Patrouillen werden einem Zettel zugesteckt mit
+Empfehlungen interessanter Lokale, Brennpunkte des
+Nachtlebens werden verheißen, mondän und doch dezent,
+internationale Tanzaufführungen, ja sogar Nacktplastiken zum
+Pilsatorausschank im Originalkünstlerkeller, »Musik des
+Körpers, ästhetische Silhouetten, historische Visionen,
+indische Opfertänze wie auch Frühlingsstimmen und Humoresken
+des ganzen Ensembles, Nacht in Sevilla und das Dumme Herz«.
+Neuerdings haben einige dieser Lokale belehrende Vorträge
+von ‚Sexualethikern‘ in ihren Rahmen aufgenommen, die in
+merkwürdigem Wettbewerb mit den neuesten
+Aufklärungsschriften verschiedne erotische Bemühungen und
+Möglichkeiten rechtfertigen und unsern armen
+eingeschüchterten und verdrängten Instinkten ‚Neuland‘
+erobern. Aber das gibts erst abends. Indessen könnte man
+schon jetzt in dem großen 5-Uhr-Programm ‚die acht
+Pikanterien des bekannten Komikers Sascha Soundso‘ erleben.
+Es empfiehlt sich wohl eher, in eine der kleinen
+Konditoreien einzutreten, wo die, welche abends ihren Anteil
+am Nachtleben zu liefern haben, nachmittäglich verschlafen
+beisammen sitzen und unter ihresgleichen Meinungen über die
+Geschäftslage und das Leben überhaupt austauschen. Da wäre
+viel zu lernen über die Welt und über Berlin. Die Tanztees
+der Friedrichstadt haben auch ihre lehrreichste Stunde,
+bevor der Betrieb losgeht, wenn im Dämmer nah bei den noch
+eingehüllten Instrumenten die Ballettdame einen Imbiß
+einnimmt und sich dabei mit der Garderobefrau oder dem
+Kellner unterhält. Als tapferer Forscher sollte man
+eigentlich vormittags hier in gewisse Lokale der
+Nebenstraßen gehn, wenn die Nixengrotte aufgewaschen wird!
+Erstaunlich müßten um diese Zeit auch die Museen der
+Bauernschänken sein, falls sie noch bestehn, der Totenkopf
+Gottfrieds von Bouillon als dreijähriger Knabe und
+dergleichen . . . ‚Weißes Meer‘ leuchtet eine Inschrift auf
+dem Schürzenbauch eines dicken Pförtners mit einer Kochmütze
+auf dem Kopf. Er lädt in ein bekanntes Lokal ein, wo
+Weißbier ausgeschänkt wird. Das ist jetzt wohl schon eine
+Spezialität. Früher beherrschte die Weiße mit oder ohne
+Schuß (Himbeersaft) den Berliner Durst. In stilleren Straßen
+der Altstadt findet man noch einige der echten alten
+Weißbierstuben. Da sitzt man an blanken Holztischen vor der
+breiten Trinkschale und unter den Bildern des alten Kaisers
+und des Kronprinzen von dazumal und Bismarcks, Roons und
+Moltkes. Aber hier in der Friedrichstadt sind diese Stuben
+und Keller seit einem halben Jahrhundert verdrängt durch die
+Bierpaläste und -kathedralen, die jetzt ihrerseits
+historische Ehrwürdigkeit bekommen. Als neue
+Sehenswürdigkeiten beschreibt sie Laforgue. Türme und
+Türmchen dieser *curiosités architecturales* fallen ihm auf
+und er weiß von einer Magistratsverfügung, die verbieten
+mußte, daß noch höher getürmt wurde, sonst wären am Ende die
+Berliner Biertürme babylonisch in den Himmel gewachsen. Er
+ergötzt sich an den alfresco-Bemalungen außen und innen.
+»Der Stil dieser Etablissements, schreibt er, ist, was man
+deutsche Renaissance nennt. Sie haben Holzverkleidung an
+Decke und Wand, auch die Pfeiler sind bemalt und rings um
+den Saal läuft eine Etagere, wo aller Art Bierbehälter
+aufgereiht stehn, aus Porzellan, Steingut, Metall und Glas
+aller Epochen«. Wie lang sich dieses Kolossal-Nürnberg noch
+halten wird gegen das eilig laufende Band der
+Lichtreklameflächen, das jetzt die Fassaden von Berlin glatt
+und gleichmachend erobert, das weiß ich nicht. Historisch
+ist es jedenfalls schon jetzt wie seine Zeitgenossin, die
+nach dem Vorbild der Pariser Passagen erbaute Kaisergalerie.
+In die kann ich nicht ohne einen leisen Moderschauer
+eintreten, nicht ohne die Traumangst, keinen Ausgang zu
+finden.
+
+Kaum bin ich an dem Schuhputzer und dem Zeitungsstand unterm
+hohen Eingangsbogen vorüber, so beginnt eine gelinde
+Verwirrung. Täglichen Tanz verspricht mir ein Glasfenster
+und jenen Meyer, ohne den keine Feier ist. Aber wo soll der
+Eingang sein? Da kommt neben dem Damenfriseur wieder nur
+eine Auslage: Briefmarken und die seltsam benannten
+Utensilien der Sammler: Klebefälze mit garantiert
+säurefreiem Gummi und Zähnungsschlüssel aus Zelluloid.
+‚Aufgepaßt! Wolljacken!‘ herrscht eine Aufschrift aus dem
+nächsten Glaskasten mich an, aber das zugehörige Geschäft
+liegt ganz wo anders. Ich habe mich umgedreht und dabei fast
+an den Bilderautomaten gestoßen, vor dem ein armer einzelner
+Schuljunge, die Mappe unterm Arm, steht und sich kümmerlich
+in die ‚Szene im Schlafzimmer‘ vertieft.
+
+So viel Schaufenster ringsum und so wenig Menschen. Man
+fühlt die Bierhausrenaissance dieser hohen Wölbungen mit den
+bräunlichen Konturen immer mehr veralten; die Gläser dieser
+Galerie verdüstert Staub der Zeiten, der nicht wegzuwischen
+ist. Die Auslagen sind noch ziemlich dieselben wie vor
+zwanzig Jahren. Nippes, Reiseandenken, Perlen, Täschchen,
+Thermometer, Gummiwaren, Marken, Stempel. Neu hinzugekommen
+ist nur das Telefunkenhaus mit der überzeugenden Aufschrift:
+‚Ein Griff — und Europa spielt für Sie.‘ Beim Optiker kann
+man den ganzen Fabrikations-Werdegang einer Brille wie den
+von der Raupe zum Schmetterling in Etappen auf belehrendem
+Blatt studieren. ‚Des Menschen Entwicklung‘ winkt herüber
+aus dem anatomischen Museum. Aber vor dem graut mir noch zu
+sehr. Ich verweile bei ‚Mignon, dem Entzücken aller Welt‘,
+einer Taschenlampe, in deren Licht ein junges Paar sein
+Glück spiegelt, bei den Manschettenknöpfen Knipp-Knapp, die
+sicher die besten sind, bei den Dianaluftflinten, die gewiß
+der Jagdgöttin Ehre machen. Ich erschrecke vor Totenköpfen,
+die als grimmige Likörgläser eines weißbeinernen Services
+grinsen. Auf der Toilettenrolle ‚mit Musik‘ ruht das
+clownige Jockeigesicht des handgemachten Holznußknackers.
+Milchflaschen warten auf die Mitglieder des ‚Vereins
+ehemaliger Säuglinge‘ voll Likör! Wenn diese schon rauchen
+sollten, finden sie ‚Gesundheitsspitzen‘ in verwirrender
+Nähe der Gummipuppen, die neben hygienischen Schlupfern über
+der Inschrift: ‚Bedienung diskret und ungeniert‘ thronen.
+Ich will noch bei den tröstlich gelben Bernsteinspitzen des
+*‚first and oldest amber-store in Germany‘* verweilen, aber
+immer wieder schielt die anatomische Schöne des Museums
+herüber. Unter ihrem nackten Fleisch scheint das Skelett
+durch wie ein Marterkorsett. Im Leeren schwimmend umgeben
+sie ihre gemalten Organe, Herz, Leber, Lunge . . . Von ihr
+wende ich mich zu dem weißbekutteten Arzt, der sich über die
+Bauchhöhle einer schlummernden oder schon ausgenommenen
+Blondine beugt. Schnell fort, ehe ich den Ersatz der Nase
+aus der Armhaut erleben muß. Dann schon lieber den Buch- und
+Papierladen mit den Heften über Sinnlichkeit und Seele und
+die Liebesrechte des Weibes, dem kleinen Salonmagier und dem
+vollendeten Kartenkünstler, von dem Dinge zu lernen sind,
+mit denen man sich in jeder Gesellschaft beliebt macht.
+
+Die Galerie biegt in weitem Winkel, Stühle, Tische und
+Palmenkübel eines Restaurants erscheinen, das sich als
+*strictly kosher* bezeichnet. Im Gegensatz dazu scheint
+*strictly treife* das Kabinett des Porträtmalers su sein, zu
+dem ein teppichbelegter Eingang führt. Und hinten kann man
+ihn selbst sehn, ihn selbst im Vollbart, wie er den
+Reichspräsidenten abmalt. Hindenburg sitzt im Salon, ihm zu
+Füßen liegt sein Hund, und zwischen ihm und dem Maler ist
+das Bild, auf dem er noch einmal abgemalt ist, allerdings
+ohne Hund; und wie er sitzt und wie der Maler steht, sind
+sie — es ist verwirrend — auch nur gemalt, nicht anders als
+die Vergrößerungen nach Photographien rings umher. Hier kann
+man nämlich aus jeder Photographie ein Bild machen lassen.
+Von hundert Mark an, in Lebensgröße! Verstorbene werden nach
+den verblichensten Photographien porträtiert. Keine
+zeitraubenden Sitzungen. Viele Atteste hochstehender
+Persönlichkeiten. In einem gedruckten Schreiben wendet sich
+der Hofmaler an uns Passanten und erklärt, er habe sich im
+Gegensatz zu den modernen Porträtmalern, die eine solche
+Verwirrung des Geschmacks gefördert haben, Goethes (!)
+Auffassung ‚Kunst und Natur sei eines nur‘ zur Richtschnur
+gemacht. Ein junges Mädchen und eine Matrone aus der Provinz
+bleiben vor seinen vielen Schönen mit Hund und Wintergarten,
+seinen Ordensbrüsten und Würdenbärten stehn. Um ihre
+Bewunderung nicht zu stören, wende ich mich ein paar Fenster
+weiter zur Konkurrenz, den ‚Originalgemälden akademisch
+gebildeter Künstler zu konkurrenzlosen Preisen‘. Von
+Originalherbsten und -frühlingen wandert das Auge über
+Rothenburgs Mauern zu der bekannten Blinden im Kornfeld und
+der beliebten verkauften Sklavin. Dabei hat man mich aber
+beobachtet. ‚Das könn’ Se bei uns direkt haben‘, sagts neben
+mir und ich sehe in das Gesicht eines kleinen Alten mit
+schütterem Bart. Er zwinkert ins Nebenfenster, wo sich
+originalradierte unvollständig bekleidete Mädchen mit ihren
+Strumpf- und Achselbändern beschäftigen. Meine Kenntnisse zu
+erweitern, hätte ich mich mit ihm in ein Gespräch einlassen
+sollen. Aber mir grauts zu sehr hier unter falsch
+spiegelnden Lichtern und streifenden Schatten. Ich lasse ihn
+hinüberschleichen zu den verdächtigen Burschen mit den süßen
+Schlipsen, denen er Tricks mit einem Taschenspiegel zeigt.
+
+Leer ist die ganze Mitte der Galerie. Rasch eile ich dem
+Ausgang zu und spüre gespenstisch gedrängte Menschenmassen
+vergangener Tage, die alle Wände entlang mit lüsternen
+Blicken an Similischmuck, Wäsche, Photos und lockender
+Lektüre früherer Basare hängen. Bei den Fenstern des großen
+Reisebüros am Ausgang atme ich auf: Straße, Freiheit,
+Gegenwart!