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diff --git a/01-der-verdaechtige.rst b/01-der-verdaechtige.rst new file mode 100644 index 0000000..ad98261 --- /dev/null +++ b/01-der-verdaechtige.rst @@ -0,0 +1,165 @@ +.. include:: global.rst + +DER VERDÄCHTIGE +=============== + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`L`\ angsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein +besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der +andern, es ist ein Bad in der Brandung. Aber meine lieben +Berliner Mitbürger machen einem das nicht leicht, wenn man +ihnen auch noch so geschickt ausbiegt. Ich bekomme immer +mißtrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen den +Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für +einen Taschendieb. + +Die hurtigen, straffen Großstadtmädchen mit den unersättlich +offnen Mündern werden ungehalten, wenn meine Blicke sich des +längeren auf ihren segelnden Schultern und schwebenden +Wangen niederlassen. Nicht als ob sie überhaupt etwas +dagegen hätten, angesehn zu werden. Aber dieser +Zeitlupenblick des harmlosen Zuschauers enerviert sie. Sie +merken, daß bei mir nichts ‚dahinter!‘ steckt. + +Nein, es steckt nichts dahinter. Ich möchte beim Ersten +Blick verweilen. Ich möchte den Ersten Blick auf die Stadt, +in der ich lebe, gewinnen oder wiederfinden |ellipsis| + +In stilleren Vorstadtgegenden falle ich übrigens nicht +minder unangenehm auf. Da ist gegen Norden ein Platz mit +Holzgerüst, ein Marktgerippe und dicht dabei die +Produktenhandlung der Witwe Kohlmann, die auch Lumpen hat; +und über Altpapierbündeln, Bettstellen und Fellen hat sie an +der Lattenveranda ihrer Handlung Geraniumtöpfe. Geranium, +pochendes Rot in träg grauer Welt, in das ich lange +hineinsehn muß. Die Witwe wirft mir böse Blicke zu. Zu +schimpfen getraut sie sich nicht, sie hält mich vielleicht +für einen Geheimen, am Ende sind ihre Papiere nicht in +Ordnung. Und ich meine es doch gut mit ihr, gern würde ich +sie über ihr Geschäft und ihre Lebensansichten befragen. Nun +sieht sie mich endlich weggehn und gegenüber, wo die +Querstraße ansteigt, in die Kniekehlen der Kinder schauen, +die gegen die Mauer Prallball spielen. Langbeinige Mädchen, +entzückend anzusehn. Sie schleudern den Ball abwechselnd mit +Hand, Kopf und Brust zurück und drehn sich dabei, und die +Kniekehle scheint Mitte und Ausgangspunkt ihrer Bewegungen. +Ich fühle, wie hinter mir die Produktenwitwe ihren Hals +reckt. Wird sie den Schupo darauf aufmerksam machen, was ich +für einer bin? Verdächtige Rolle des Zuschauers! + +Wenn es dämmert, lehnen alte und junge Frauen auf Kissen +gestützt in den Fenstern. Mir geschieht mit ihnen, was die +Psychologen mit Worten wie Einfühlung erledigen. Aber sie +werden mir nicht erlauben, neben und mit ihnen zu warten auf +das, was nicht kommt, nur zu warten ohne Objekt. + +Straßenhändler, die etwas ausschreiend feilhalten, haben +nichts dagegen, daß man sich zu ihnen stellt; ich stünde +aber lieber neben der Frau, die soviel Haar aus dem vorigen +Jahrhundert auf dem Kopf hat, langsam ihre Stickereien auf +blaues Papier breitet und stumm Käufern entgegensieht. Und +der bin ich nicht recht, sie kann kaum annehmen, daß ich von +ihrer Ware kaufen werde. + +Manchmal möcht ich in die Höfe gehn. Im älteren Berlin wird +das Leben nach den Hinter- und Gartenhäusern zu +dichter, inniger und macht die Höfe reich, die armen Höfe +mit dem bißchen Grün in einer Ecke, den Stangen zum +Ausklopfen, den Mülleimern und den Brunnen, die +stehngeblieben sind aus Zeiten vor der Wasserleitung. +Vormittags gelingt mir das allenfalls, wenn Sänger und +Geiger sich produzieren oder der Leierkastenmann, der +obendrein auf einem freien Fingerpaar Naturpfeife zum besten +gibt, oder der Erstaunliche, der vorn Trommel und hinten +Pauke spielt (er hat einen Haken am rechten Knöchel, von dem +eine Schnur zu der Pauke auf seinem Rücken und dem +aufsitzenden Schellenpaar verläuft; und wenn er stampft, +prallt ein Schlegel an die Pauke, und die Schellen schlagen +zusammen). Da kann ich mich neben die alte Portierfrau +stellen — es ist wohl eher die Mutter der Pförtnersleute, so +alt sieht sie aus, so gewohnheitsmäßig sitzt sie hier auf +ihrem Feldstühlchen. Sie nimmt keinen Anstoß an meiner +Gegenwart und ich darf hinaufsehn in die Hoffenster, an die +sich Schreibmaschinenfräulein und Nähmädchen der Büros und +Betriebe zu diesem Konzert drängen. Selig benommen pausieren +sie, bis irgend ein lästiger Chef kommt und sie wieder +zurückschlüpfen müssen an ihre Arbeit. Die Fenster sind alle +kahl. Nur an einem im vorletzten Stockwerk sind Gardinen, da +hängt ein Vogelbauer, und wenn die Geige von Herzen +schluchzt und der Leierkasten dröhnend jammert, fängt ein +Kanarienvogel zu schlagen an als einzige Stimme der stumm +schauenden Fensterreihen. Das ist schön. Aber ich möchte +doch auch mein Teil an dem Abend dieser Höfe haben, die +letzten Spiele der Kinder, die immer wieder heraufgerufen +werden, und Heimkommen und Wiederwegwollen der jungen Mädchen erleben; +allein ich finde nicht Mut noch Vorwand, mich einzudrängen, +man sieht mir meine Unbefugtheit zu deutlich an. + +Hierzulande muß man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht +man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für +unsereinen. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Ich kann noch von Glück sagen, daß eine mitleidige Freundin +mir manchmal erlaubt, sie zu begleiten, wenn sie Besorgungen +zu machen hat. In die Strumpfklinik zum Beispiel, an deren +Tür steht: ‚Gefallene Maschen werden aufgenommen.‘ In diesem +düstern Zwischenstock huscht eine Bucklige durch ihr +muffiges wolliges Zimmer, das eine neue Glanztapete +aufhellt. Ware und Nähzeug liegen auf Tischen und Etageren +um Porzellanpantöffelchen, Biskuitamoretten und +Bronzemädchen herum, wie Herdentiere um alte Brunnen und +Ruinen lagern. Und das darf ich genau besehn und daran ein +Stück Stadt- und Weltgeschichte lernen, während die Frauen +sich besprechen. + +Oder ich werde zu dem Flickschneider mitgenommen, der in +einem Hinterhaus der Kurfürstenstraße zu ebner Erde wohnt. +Da trennt ein Vorhang, der nicht ganz bis zum Boden reicht, +den Arbeitsraum vom Schlafraum ab. Auf einem gefransten +Tuch, das über den Vorhang hängt, ist bunt der Kaiser +Friedrich als Kronprinz dargestellt. ‚So kam er aus San +Remo‘, sagt der Schneider, der meinem Blick gefolgt ist, +und zeigt dann selber seine weiteren monarchentreuen +Schätze, den letzten Wilhelm photographiert und sehr gerahmt +mit seiner Tochter auf den Knien und das bekannte Bild des +alten Kaisers mit Kindern, Enkeln und Urenkeln. Gern will er +meiner Republikanerin das grüne Jackett umnähen, aber im +Herzen hält er's, wie er sagt, ‚mit den alten Herrschaften‘, +zumal die Republik nur für die jungen Leute sorge. Ich +versuche nicht, ihn umzustimmen. Mit seinen Gegenständen +kann es meine politische Erkenntnis nicht aufnehmen. Er ist +sehr freundlich mit dem Hunde meiner Freundin, der an allem +herumschnuppert, neugierig und immer auf der Spur gerade wie +ich. + +Mit diesem kleinen Terrier gehe ich gern spazieren. Wir sind +dann beide ganz in Gedanken; auch gibt er mir Anlaß, öfter +stehnzubleiben, als es sonst einem so verdächtigen Menschen +wie mir erlaubt wäre. + +Neulich ist es uns aber schlimm ergangen. Ich holte ihn aus +einem Hause ab, in dem wir beide fremd waren. Wir gingen +eine Treppe hinunter, in die ein Fahrstuhlgehäuse mit +Gitterwerk eingebaut war. Ein düstrer Eindringling war +dieser Lift in dem einst gelassen breiten Treppenhaus. Und +die bauschigen Wappendamen der bunten Fenster sahen irr auf +das Wanderverlies, und die Kleinodien und die Attribute +lockerten sich in ihren Händen. Sicher roch es auch sehr +diskrepant in diesem Ensemble verschiedener Epochen, was +meinen Begleiter von Gegenwart und Sitte derart ablenkte, +daß er auf der ersten Stufe der steilen Stiege, die zu Füßen +des Fahrgehäuses vom Hochparterre hinunterführte, — sich +vergaß! So etwas, hat mir später meine Freundin versichert, +konnte einem so stubenreinen Geschöpf nur in meiner +Gesellschaft passieren. Das nahm ich gern hin. Härter aber +traf mich der Vorwurf, den mir im Augenblick des peinlichen +Ereignisses der Portier des Hauses machte, der zum Unglück +gerade, als wir uns vergaßen, die Nase aus seiner Loge +steckte. In richtiger Erkenntnis meiner Mitschuld wandte er +sich nicht an das Hündchen, sondern an mich. Er zeigte mit +grau drohendem Finger auf die Stätte der Untat und herrschte +mich an: ‚Wat? Sie woll’n ein jebildeter Mensch sint?‘ |