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diff --git a/05-von-der-lebenslust.rst b/05-von-der-lebenslust.rst new file mode 100644 index 0000000..15501b6 --- /dev/null +++ b/05-von-der-lebenslust.rst @@ -0,0 +1,461 @@ +.. include:: global.rst + +VON DER LEBENSLUST +================== + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`D`\ iese Jugend lernt auch zu genießen, was doch +im allgemeinen dem Deutschen nicht leicht fällt. Der +Berliner von gestern verfällt in seinem Vergnügungseifer +immer noch der Gefahr der Häufung, der Quantität, des +Kolossalen. Seine Kaffeehäuser sind Gaststätten von +prätentiöser Vornehmheit. Nirgends die behaglichen +unscheinbaren Ledersofas, die stillen Winkel, wie sie der +Pariser und der Wiener liebt. Statt Kellner ruft er immer +noch das dumm titulierende ‚Herr Ober‘, einfacher +Bohnenkaffee heißt Mokka double, fünfzig Bardamen in einem +Verschank sind mehr als zehn. Immer wieder werden neue +‚Groß-Cafes‘ gegründet mit Platz für rund tausend Besucher. +Im Parterre ist eine ungarische Kapelle, im zweiten Stock +spielen zwei Kapellen zum Tanze auf. Erstklassige Kräfte +sorgen in den Tanzpausen für die Zerstreuung des Publikums. +‚Eigenartige‘ Vortragskünstlerinnen treten auf. +Internationale Attraktionen verheißen die Annoncen und +Anschläge, mondänen Betrieb usw. Ja, man bekommt etwas für +sein Geld. »Bei freiem Eintritt und Konsum von M 3 genießen +Sie von 8½ bis 12½ pausenlos das beste Kabarett +Deutschlands. Nachmittagsgedeck 2 M 50 mit Kuchen, soviel +Sie wollen.« + +Betrieb, Betrieb! Selbst die guten Alten wollen immer +mitmachen. + +Man muß einmal einen zweiten Feiertag, wo alles ausgeht, +weil doch auch die ‚Hausangestellte‘ Ausgang hat, in einem +Monsterspeisehaus erleben. Da läßt Vater was draufgehn. +Und manches Draufgängerische kann man ziemlich billig haben. +Es gibt die guten Hors d’œuvre-Mischplatten, wo alles dabei +ist, Hummer und Kaviar und Artischokenherz, und das Ganze +immer gleich für zwei Personen; Doppelportionen, wie das +gigantische Entrecôte, das mit lauter Gemüsebeilagen +garniert ist. Es gibt prima Dessertmischungen. Da fehlt +nichts. Der Sohn, der leise gelangweilt neben der +leichtgeschürzten Mutter sitzt, weiß natürlich schon, daß es +feiner ist, Apartes zu bestellen, und er wird vielleicht +Gelegenheit finden, dem Alten durch seine Sonderwahl zu +imponieren. Er benimmt sich dem Kellner gegenüber gelassener +als Vater. Lieber würde er ja drüben sitzen bei den beiden +einzelnen jungen Damen. Tippfräulein mögen das sein, die +heute allein ausgehn den Männern zum Trotz. Sie bestellen +sehr geschmackvoll: französische Gemüseplatten, Chicorée und +Laitu braisé, und dazu nur Cocktails und nachher zu den +Meringuen Tafelwasser. Er sieht hinüber und lernt. Sein +Hinterkopf ist amerikanisch rasiert und keine Speckfalte +drauf wie bei Papa |ellipsis| + +Die monströsen Riesendoppelkonzerte, welche die Hauptstadt +für Gaumen, Auge, Ohr und Tanzfuß veranstaltet, können der +neuen Jugend, unsern neuen Berlinerinnen nichts mehr +anhaben. Was das Essen, Trinken und Rauchen angeht, da haben +sie mancherlei neue Methoden, charmante Enthaltsamkeiten, +hygienische Kasteiungen, sportliche Grundsätze. Sicher wie +durch das Gedränge der Straße steuern sie durch das der +Vergnügungen, finden die paar Tanzpfade im Dickicht der +Menschenanhäufungen, wissen, in welchem Hotel oder Lokal man +allenfalls noch nachmittags tanzen kann und haben ihre +Cocktailsparties, wo man in geschlossener Gesellschaft +tanzt. Es ist bewundernswert, wie sie den Berliner Karneval +bewältigen. Der hört bekanntlich nicht mit Fastnacht und +Aschermittwoch auf, sondern geht noch wochenlang +ununterbrochen weiter. Und es gibt Nächte mit drei und mehr +wichtigen Festen, einem in den Sälen des ‚Zoo‘, einem bei +Kroll, einem in der Akademie zu Charlottenburg, einem in der +Philharmonie, und dazu kommt noch in dem und jenem Atelier +ein intimeres und besonders reizvolles. Da wissen sie zu +wählen, wissen, wo die beste Band spielt, erfinden eine +kluge Reihenfolge, um mehreres zu erledigen. Vor allem ist +es ihnen um gutes Tanzen zu tun. Der richtige Tanzpartner +ist eine sehr wichtige Persönlichkeit und nicht zu +verwechseln mit dem, den man gerade liebt. Seine Aufgabe ist +eine durchaus andre. Darüber haben mich meine jungen +Freundinnen belehrt, während sie sich für ein oder das andre +Fest zurechtmachten. Diese Vorbereitung, dies *‚Debarquement +pour Cythere‘*, ist ein bedeutender Augenblick und für uns +Zuschauer manchmal lehrreicher als das Fest selbst. Man muß +ihre ernsten Mienen vor dem Spiegel sehn, während sie Arme +und Schultern bräunen, das Gesicht ‚machen‘, Turbane und +Federkappen probieren. Sie eilen nicht, sie legen sorgsam +letzte Hand an das Werk des einen Abends wie ein Künstler, +der Dauerndes schaffen will. Sie erfinden wunderbare +Übergangsgebilde vom Maskenkostüm zum Gesellschaftskleid, +unschuldige Nacktheiten, lockende Verhüllungen und groteske +Übertreibungen, hinter denen sie sich gut verbergen können. +Da kann man in aller Ruhe ihre Gegenwart genießen, was sonst +nicht leicht ist. Denn im allgemeinen haben sie das Tempo +ihres Berlin, das unsereinen etwas atemlos macht. Es ist +erstaunlich, wieviel Lokale und Menschen sie an einem Abend +behandeln können, ohne zu ermüden. ‚Nun wollen wir Apéritif +trinken gehn‘, sagen sie plötzlich, wenn die Teestunde etwas +zu träumerisch geworden ist. ‚Apéritif?‘ frage ich +verwundert, ‚ich dachte, das gibt es hierzulande gar nicht.‘ +‚Sie unterschätzen wieder einmal den Fleiß unserer Stadt‘, +bekomme ich zu hören. Und ehe ich mich’s versehe, sitze ich +schon neben der eiligsten von ihnen im Auto, sie steuert die +Budapesterstraße entlang vorbei an den Glashallen, in denen +die ‚schnittigsten‘ aus- und inländischen Wagen ihren Salon +haben, und hält den Sauriern gegenüber, die auf die Wand des +Aquariums gemeißelt sind. Wir überschreiten die Glasplatte +am Hoteleingang, die leuchtende Platte mit der +paradiesischen Inschrift. In der Halle wechselt Maria (so +verlangt sie, daß ihre Freunde sie nennen, den lächerlichen +Marys, Miez und Mias ihrer Angehörigen zum Trotz) ein paar +Worte mit dem jungen Dichter, der demnächst im Film +auftreten wird, und erkundigt sich nach dem Befinden ihres +gemeinsamen Freundes, des Boxers, der so lange ausgesetzt +hat. Der Jüngling aber, der auf beide zueilt und ihr +geschwind etwas mitzuteilen hat, ist die jüngste Hoffnung +des Kabaretts. Maria kürzt ab und zieht mich weiter. Im +Vorraum der Bar, sozusagen in der Exedra, sitzen auf +Wandsofas Männergruppen im Gespräch; und wenn ich besser +Bescheid wüßte, würde ich gewisse Politiker oder Börseaner +erkennen. Wir treten in den angenehm niederen Raum mit den +roten Deckenbalken. Gern hätten wir auf den hohen Schemeln +an der Bar selbst Platz genommen, aber die sind alle +besetzt. Und so muß mich von unserm Tisch aus Maria +belehren, wer der schlanke englisch Redende im schönen +sandfarbenen Hemd da am Nebentisch und wer sein Begleiter +mit den Koteletten ist. Man grüßt Maria vom Tische der +jungen Attachés. Und das süße Geschöpf, das sie im +Vorbeistreifen rasch geküßt hat, das war das kleine neue +Revuewunder, das ich aus Bildern in den Magazinen kenne. Uns +zunächst sitzen zwei etwas zu frisch gemalte Mädchen. Die +rechts glaubt Maria in St. Moritz gesehn zu haben. ‚Warum +rümpft denn die Linke jetzt schon zum zweiten Male die +Nase?‘ ‚Das tut man jetzt viel. Die (sie nennt einen +Schauspielerinnennamen) machte es auf der Bühne. Es hat sich +eingeführt.‘ + +Rings an den Tischen wird geflüstert wie im besten Europa. +Man spricht nämlich im neuen Berlin nicht mehr so laut wie +im früheren. Man ist hier wie bei einem Empfang. Aber mehr +als eine Viertelstunde Aufenthalt erlaubt Maria nicht. Sie +hat Rendezvous zu frühem Essen im Neva Grill mit Freunden, +die nachher in die ‚Komödie‘ wollen. Sie überantwortet mich +einem ihrer Freunde, der mich zu Horcher mitnehmen soll. +Dort will sie uns in einer Stunde vorfinden. ‚Ihr könnt da +männlich langsam und gediegen speisen und Burgunder trinken. +Ich komme zum Dessert zurecht.‘ + +Die Seezunge, zu der Gert, mein Tischgenosse, nach einer +Beratung mit dem Sohn des Hauses sich entschlossen und mich +bestimmt hat, wird auf gut Pariser Art vor unsern Augen +behandelt. Und bei Nuit Saint-Georges lasse ich mir von +Gert, der bei jungen Jahren schon ein angesehener Mann in +Bank- und Diplomatenkreisen ist, Berliner Gesellschaft +erzählen. Ein schwer zu erfassender und zu begrenzender +Begriff. Die alte Trennung der Stände hört immer mehr auf. +Wohl gibt es noch einige mißvergnügte Noblesse in Potsdam +und auf Landschlössern, die den Glanzzeiten der exklusiven +Hofgesellschaft nachtrauert, aber gerade die Vornehmsten +suchen den Anschluß an die neue Zeit. Gastliche Häuser +vereinen Kunst und hohe Bourgeoisie, und am Tische großer +Bankherren begegnen sich sozialistische Abgeordnete mit +Prinzen aus dem früheren Herrscherhaus. Die großen +Sportklubs schaffen eine neue Haltung, die das Hackenklappen +ehemaliger Gardeleutnants und die alte +Korpsstudentenschneidigkeit ausschließt. Mit jugendlichem +Eifer stürzt sich der ehrgeizige Berliner in die neue +Geselligkeit, und die Minister und Staatssekretäre müssen +mehr Zweckessen mitmachen, als am Ende der Politik günstig +ist. Wir kommen auf die Frauen zu sprechen und gerade hat +Gert von einem Diner erzählt, bei dem er zwischen zweien +saß, von denen die zur Rechten vorsichtig und korrekt +unterhalten sein wollte, während die Linke jeder Äußerung +eine zweideutige Anspielung abzugewinnen suchte oder selbst +Themen anschlug, bei denen unsre Mütter vor Scham in den +Boden gesunken wären — da erscheint Maria und kommt uns vor +wie die junge Königin eines neuen Amazonenstaates, für den +der alte Begriff Gesellschaft nicht mehr existiert. Sie geht +nicht weiter auf unsere theoretischen Gespräche ein, sondern +will uns nur rechtzeitig abholen zu einem wichtigen +Russenfilm. Gert wollte eigentlich den des Pariser +Amerikaners sehn, der nur mit Hilfe von ein paar +Ateliergegenständen, Hemdkragen und Händen gemacht ist. Aber +den kennt Maria schon vom letzten Pariser Aufenthalt. Sie +hat ihn im kleinen Saal der Ursulinerinnen im Quartier Latin +gesehn. + +Nach dem Kino sitzen wir im ‚Casanova‘ unten, nicht weit vom +Klavier, an dem der durch einen Schlager berühmt gewordene +Komponist diesen allabendlich vorspielt und singt. Gert und +Maria beraten, was man noch unternehmen könnte. ‚Warum geht +ihr Jungen nicht hinauf tanzen?‘ frage ich. ‚Ich mag nicht,‘ +sagt Maria, ‚aber Gert findet vielleicht Anschluß im blauen +Salon.‘ ‚Eigentlich hätte ich heute um Mitternacht in die +»Ambassadeurs« kommen sollen.‘ Meiner Unerfahrenheit wird +mitgeteilt, daß dies die neueste Abzweigung der ‚Barberina‘ +ist. Gert und Maria diskutieren die Güte der verschiedenen +Jazzbands und Tangokapellen in den großen Hotels, im ‚Palais +am Zoo‘, in der ‚Valencia‘ usw. Ich bringe etwas schüchtern +meine Erfahrungen aus der kleinen ‚Silhouette‘ vor. ‚Wollen +wir nicht ganz einfach hier gegenüber ins »Eldorado« gehn? +Da ist das richtige Durcheinander, ihr seid doch für Chaos, +Smokings und Sportjacken, Transvestiten, kleine Mädchen und +große Damen. Sie sind natürlich wieder mehr fürs Korrekte, +Gert, Sie wollen soignierten Tanz und Rahmen, Sie wollen in +die »Königin«.‘ Aber schließlich entscheiden wir uns ganz +anders. + +Im dunkleren Teil der Lutherstraße ein einzelnes Licht. Ein +paar Privatautos vor der Tür. Schon der schmale Gang des +Vorraums ist überfüllt. Ein freundlicher Manager verheißt +uns Unterkunftsmöglichkeiten. Und in der Tür des zweiten +Zimmers reicht uns der Herr des Hauses die Hand. Es ist +nützlich, sich seiner persönlichen Protektion zu versichern, +denn hier ist, so sagt man mir, durchaus nicht jedermann +willkommen. Das heißt, er kommt wohl hinein und ißt und +trinkt, aber wenn seine Nase dem Besitzer dieses +merkwürdigen Zimmers mißfällt, so läßt er den Kellner keine +Bezahlung annehmen, sondern nähert sich selbst dem Tisch des +Fremdlings, bittet ihn, für diesmal sich als eingeladenen +Gast zu betrachten und — nicht wiederzukommen. Daher ist +hier ein erlesenes Publikum. Köpfe gibt’s hier! Und +Schultern! Und Augenbrauen. Dort in der Ecke sitzen sie +beide, die wohltätig üppige und die schmal lächelnde, die in +der Revue das Lied von der besten Freundin sangen. Und nah +dem Klavier — auch als stille Zuschauerin imponierend — die +rothaarige Meisterin der Groteske. Sie lacht auf, als schräg +gegenüber der dicke Riese von der Wasserkante, der tags +deutsche Dichtung und abends welsche Getränke umsetzt, +seinen bekannten Kriegsruf ausstößt, mit dem er den zweiten, +lebhafteren Teil seines Abends einzuleiten pflegt. Aber die +Nachbarn machen sanft psst! Denn jetzt steht auf dem +Klavier, den Kopf deckennah geduckt, ein Persönchen in +Matrosenbluse und gestikuliert vorbereitend für das Lied von +den Jungfern zu Camaret, das sie singen soll. Sie singt +französisch wie ihre Landsmännin, ihr Vorbild am +Montparnasse. Und wer lang genug in Paris war, versteht auch +die gefährlichen Worte des Liedes, das nun in einer Art +Kirchenmelodie anhebt. Die andern lachen ahnungslos und +dankbar mit. Wir haben im Gedränge stehend zugehört. Jetzt +bekommen wir Plätze im Winkel an der Bar. Während Gert und +Maria tanzen, schau ich umher. Die wenigen von der Kunst und +Lebenslust, die ich persönlich kenne, sind fast alle hier. +Sanft dröhnend ruft mich beim Vornamen die Stentorstimme +dessen, der einst in Paris aus einem kleinen Eckrestaurant +den ‚Dôme‘ gemacht hat und nun hier ein berühmter Maler ist. +Die schöne Russin, die sich neben ihn drängt, kenn ich doch +auch. Er gönnt ihr seine breite Nachbarschaft und betrachtet +durch kritische Brillengläser ein paar Jünglinge von der +allerneusten Literatur, die ihm in andächtiger Gruppe +gegenüber sitzen. Das wohlwollend langsame Lächeln im +Abbatengesicht dessen, der ein gut Teil der deutschen und +ausländischen Literatur in sein Bestiarium gesperrt hat, +gilt den beiden nun schon erwachsenen Poetentöchtern, die er +als Kinder hat spielen sehn, und inzwischen sind sie +Weltreisende und Eroberinnen geworden. Ein neuer Schub +Kömmlinge drängt den schmalen Tanzgang her und aus Mänteln +schälen sich Inder und Indianer beiderlei Geschlechts, +soweit sich das unterscheiden läßt. Sie kommen von einem +Fest und ehe sie auf das andre gehn, besuchen sie uns und +wollen uns zum Mitkommen verführen. Ach, das klirrende +Armband an Pucks Schenkel, ach, die Adlerfeder über Sonjas +Haar! Aber wir bleiben. Der junge Mixer ist ein zu guter +Schenke. Wir bleiben, bis es — mit einmal — drei Uhr ist +und einige Stühle schon auf den Tischen kopfstehn. Maria +will uns noch in den Damenklub hier in der Nähe bringen, +aber mit dem habe ich kein Glück. Selbst heute, da wir +Gefolge eines Mitglieds sind, bleiben seine Pforten uns +geschlossen. Dafür schafft uns Gert ungehindert ins +‚Künstler-Eck‘, wo wir unter gotischen Wölbungen eine +herrliche Hühnersuppe löffeln. Und nun könnten wir noch +weiterziehn in den dämmernden Morgen. Schwannecke hat für +die Seinen eine Seitenpforte noch offen. Und obendrein weiß +Gert einen Verband von Gastwirtangestellten, der mitten in +der Nacht aufmacht und bis Mittag zu essen und zu trinken +gibt. Auch hier ist er Mitglied. Da könnten wir zwischen den +Letzten vom Abend und den Ersten vom Morgen sitzen, zwischen +Sängern und Kellnern, Schauspielerinnen und Aufwartefrauen. +Aber für heute ist es genug. Das Bewußtsein, man könnte noch +lange weitermachen, schläfert so angenehm. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Gewisse Zeitungsannoncen und von Reklamemännern getragene +Plakate waren mir schon öfter aufgefallen. »Walterchen der +Seelentröster mit dem goldenen Herzen, Berlins bekannteste +Stimmungskanone |ellipsis| Wieder täglich Treffpunkt aller +Verlassenen |ellipsis| Witwenball für die ältere Jugend im +herrlichen Prunksaal Ackerstraße |ellipsis| Altdeutscher Ball, nur +ältere Jugend, flotte Ballmusik |ellipsis| Clärchens vornehmer +Witwenball das Tagesgespräch. Nur Auguststraße trifft sich +die Elite.« Manchmal heißt es auch zusammenfassend: +Elitewitwenball, wobei Elite sowohl auf Witwen als auf Ball +bezogen werden kann. In der Elsässerstraße hieß es: +‚Klassefrauen, Herren unter 25 Jahren haben keinen Zutritt.‘ +Ja, das haben sie wirklich nicht. An solch einem +Tanzpalasteingang habe ich beobachtet, wie einer seine +Papiere vorweisen wollte zum Beleg seiner Reife, aber der +Mann an der Kasse lehnte überlegen ab und sagte: ‚Das sehen +wir so!‘ Und ließ ihn nicht herein. + +Da ich nun sichtlich das nötige Alter besitze, habe ich mich +neulich, ich glaube, es war in der Kaiser Friedrichstraße zu +Charlottenburg, in solch einen Ball für die ältere Jugend +gewagt. Ich war mit Leuten, die eine Flasche Wein ‚anfahren‘ +ließen; Samos hieß, glaub ich, der Unglückliche. Das machte +Eindruck. Mit höflichem ‚Sie gestatten wohl‘ setzte sich der +Leiter der Veranstaltung zu uns. Er trug einen Gehrock, +ähnlich jenem, den unser Ordinarius von Untersekunda während +des Wintersemesters in der Klasse auftrug. Der Verein, sagte +er, sei noch jung, erst im Begriff, Statuten zu bekommen. +Dies Haus, müßten wir wissen, gehörte früher einer +Freimaurerloge, die Kaiser Friedrich selbst eingeweiht habe. +Hier an den Wänden könnten wir noch die aufgemalten Ringe +aus der Logenzeit sehn. Damals war dieser Raum +Andachtshalle. (Richtig, da waren unter den Trinksprüchen +von der Art, wie man sie auf Bierfilzen liest, wirklich +solche Ringe.) Und unten, wo jetzt die Evangelische +Gemeinschaft G. m. b. H. einlogiert ist, stand damals der +Sarg für den Eid. + +Er sprang auf und leitete mit einer würdigen Dame, die +schwere Stickereien auf ihrem Samtkleid und etwas +ungleichmäßig dicke Beine hatte, die Polka mazurka ein. +Diesen historischen Tanz konnten mehrere Paare ausführen, +ohne auf die Bewegungen des vortanzenden Paares sehn zu +müssen. Danach kam der Vereinsgründer wieder zu uns und +teilte mit, am Tage sei er handwerklich tätig (so drückte er +das aus) und mit seiner Gründung hier beabsichtige er +gemütliches Beisammensein von Mensch zu Mensch. Störende +Elemente, die zum Beispiel eventuell einer Dame zu nahe +treten, sollten ausgeschieden werden. (Wir waren hier zu +fremd, um derartiges zu riskieren.) + +Inzwischen führte der eigentliche angestellte Tanzleiter den +sogenannten Schlittschuhtanz an. Er war mager, und was er +anhatte, war ein Frack. Bei bestimmten Wendungen dieses +Tanzes klatschte seine Partnerin einmal kurz in die Hände +und die andern ahmten ihr das nach. Der Tanzleiter aber +machte nur eine elegant geschwungene Geste mit der Rechten. +Manche Paare hatten eine überaus zierliche Art, mit +abgespreizten Fingern und hohen Ellenbogen einander zu +halten. Einige Herren hatten zwischen ihre Hand und den +Rücken der Dame ein Taschentuch getan. Ich machte die +Beobachtung: je reifer die Jugend der Herren war, um so +tiefer gerieten ihre Hände an der Dame hinab. Waren das +‚Elemente‘? Damen, die miteinander tanzten, legten dabei +nicht die Innigkeit an den Tag, die wir aus gewissen Lokalen +kennen, sondern ironisierten mit Blicken und Bewegungen die +ungewohnte Verkuppelung. Häufig war Damenwahl und dabei +durften die Damen, die gerade frei waren, jeder Tänzerin +ihren Tänzer ‚abklatschen‘ — so lautet der Kunstausdruck. +Das gab artige Momente. + +Wenn man erst Mitglied geworden ist, belehrte uns der +Vereinsvorstand, wird auch die Garderobe billiger. Dann +erhob er sich wieder zu einer kurzen Ansprache, in welcher +er die Vorzüge der altdeutschen Tänze hervorhob und die +Herrschaften aufforderte, zur Gemütlichkeit beizutragen. +Dieser Gemütlichkeit brachte die Kapelle, als sie frisches +Bier bekam, ein Prosit dar. + +Nach diesem Erlebnis habe ich mir eine Vorstellung von den +Bällen für die ältere Jugend gebildet, die doch eine gewisse +Rolle im Leben von Berlin zu spielen scheinen. Man findet da +sicher Anschluß. Sie sind vielleicht sozial von ähnlicher +Wirkung wie die Eheanbahnungsinstitute, deren Ankündigungen +man in Zeitungen und auf Hausanschlägen liest. Wenn ich nun +lese: Rundtänze außer Montag, Donnerstag und Freitag +verkehrter Ball und dergleichen, dann weiß ich Bescheid. + +Weniger sozialmoralische Zwecke scheinen die Bälle zu +verfolgen, bei denen der Anschluß durch sogenannte +Tischtelephone hergestellt wird. Sie haben mitunter auch +hängende Springbrunnen und stets das, was ihre Annoncen +‚urfidelen Hochbetrieb‘ nennen. Sie verheißen ‚Prunkvolles‘, +‚Künstlerisches‘, ‚Intimes‘, sie finden statt in den +‚kultiviertesten Luxusstätten der Welt‘ auf Glasparkett, +nahe den ‚High Life Bars‘ und ‚exquisiten Küchen‘. In dem +berühmtesten dieser erheblich erleuchteten Prachtsäle gibt +es eine wunderbare Kombination von Wasser und Licht in +drehenden farbenwechselnden Schalen. Diese Wasser- und +Lichtwunder haben laut Programm nicht nur die Aufgabe, das +Auge zu erfreuen und die Stimmung zu erhöhen, sie sorgen +auch für frische Luftzufuhr. Die Erfindung des +Tischtelephons ist sehr seelenkundig: der mittlere Berliner +ist nämlich gar nicht so selbstsicher, wie er gern +erscheinen möchte. Am Telephon aber faßt er Mut (Der +Fernsprecher ist ihm ja überhaupt sehr gemäß. Statt ‚Auf +Wiedersehn‘ pflegt er heutzutage zu sagen ‚Na, klingeln Sie +mal an‘ oder ‚Ich rufe Sie nächster Tage an‘) und darin +bekräftigt ihn noch der Versappell der Direktion, die er auf +dem interessanten Programm findet: + + + | :smallerfont:`‚Genier' dich nicht und läute an,` + | :smallerfont:`Ob sie dich mag, erfährst du dann.‘` + +Ja, das Ballhaus ist, wie es mit dem beliebtesten Verbum des +neuen Deutschlands erklärt, ganz auf seine Gäste +‚eingestellt‘. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Im Schummerlicht farbiger Ampeln bewegen sich in einer +Anzahl kleinerer Säle und Zimmer des Nordens wie auch des +Westens Pärchen gleichen Geschlechtes, hier die Mädchen, da +die Knaben. Bisweilen sind in mehr oder weniger erfreulicher +Art die Mädchen als Männer, die Knaben als Damen angezogen. +Ihr Treiben, früher einmal ein kühner Protest gegen die +herrschenden Sittengesetze, ist mit der Zeit ein ziemlich +harmloses Vergnügen geworden, und es sind zu diesen sanften +Orgien auch Besucher zugelassen, die gern mit dem jeweils +andern Geschlechte tanzen. Sie finden hier eine besonders +günstige Umgebung. Die Männer lernen von den weiblichen +Kavalieren, ihre Partnerinnen von den männlichen Damen neue +Nuancen der Zärtlichkeit, und die eigne Normalität wird zu +einem besondern Glücksfall. Ach, und rührend sind die +Beleuchtungskörper. Da sieht man zackig gerandete +Ampelhüllen aus Holz oder Metall, die an die +Laubsägearbeiten unserer Knabenzeit erinnern. + +Früher, so kommt es mir vor, muß das alles sündhafter +gewesen sein. Da waren offenbar die Angelegenheiten der Lust +mehr auf Gefährlichkeit abgestimmt. Wo heute Reinhardts +Kammerspiele erlesene Kunstleistungen darbieten, dunstete +ehedem ein purpurn und goldener Tanzsaal. Da drehten sich +vor unseren erschrockenen jungen Augen hohe Korsettgestalten +in vertragenen Ballroben mit Büsten, die manchmal bis an die +Brustwarze nackt waren, welche Tüll verhüllte und betonte. +Knisternde Jupons quälten unsere Sinne, und wenn zu einem +etwas schwerfälligen Cancan die Röcke gerafft wurden und +grelle Stimmen den Gassenhauer von der Pflaume am Baume +sangen, erging es uns nicht gut. Verständigere fanden in den +Sälen der Vorstädte etwas fürs Herz, in Südende und +Halensee, wo brave Mädchen mit Grundsätzen und Beruf den +sogenannten ‚Bruch‘ überwogen. Sie hatten rotgewaschne Hände +und merkwürdige Veilchenparfums, die in dauerndem +Widerstreit mit der Natur lagen. + +Das war die Zeit, in der für die Verschwenderischen unter +uns in der Stadt das ‚Palais de Danse‘ blühte. Dort waren +die Damen Babylon und Renaissance mit gewissen +präraffaelitischen Einlagen und Spielarten. Manche von +denen, die dazumal mit der Droschke oder dem Auto aus ihrer +Zweizimmerwohnung im bayrischen Viertel einliefen, dem +Portier das Geld für Kutscher oder Chauffeur distinguiert in +die Hand drückten und sich auf die Stühlchen an der Bar +setzten, haben Karriere gemacht. Bäckerstöchter sind +Herzoginnen geworden. Eine soll es sogar bis zur Königlichen +Hoheit gebracht haben, dafür aber in der Gesellschaft nicht +in demselben Grade *‚reçue‘* sein wie die neuen Gräfinnen +und Herzoginnen. Nun, heute ist dies Palais nicht +wiederzuerkennen. Was sah ich, als ich vor kurzem einmal +hineingeriet? Einige lebenslustige Leute aus Meseritz oder +Merseburg waren mit Berliner Verwandten, bei denen sie zu +Besuch waren, ‚ausgegangen‘, um hier die halbe Welt zu sehn, +von der nur ein abnehmendes schüchternes Viertel +auftauchte |ellipsis| |