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DER VERDÄCHTIGE
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:initial:`L`\ angsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein
besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der
andern, es ist ein Bad in der Brandung. Aber meine lieben
Berliner Mitbürger machen einem das nicht leicht, wenn man
ihnen auch noch so geschickt ausbiegt. Ich bekomme immer
mißtrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen den
Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für
einen Taschendieb.

Die hurtigen, straffen Großstadtmädchen mit den unersättlich
offnen Mündern werden ungehalten, wenn meine Blicke sich des
längeren auf ihren segelnden Schultern und schwebenden
Wangen niederlassen. Nicht als ob sie überhaupt etwas
dagegen hätten, angesehn zu werden. Aber dieser
Zeitlupenblick des harmlosen Zuschauers enerviert sie. Sie
merken, daß bei mir nichts ‚dahinter!‘ steckt.

Nein, es steckt nichts dahinter. Ich möchte beim Ersten
Blick verweilen. Ich möchte den Ersten Blick auf die Stadt,
in der ich lebe, gewinnen oder wiederfinden |ellipsis|

In stilleren Vorstadtgegenden falle ich übrigens nicht
minder unangenehm auf. Da ist gegen Norden ein Platz mit
Holzgerüst, ein Marktgerippe und dicht dabei die
Produktenhandlung der Witwe Kohlmann, die auch Lumpen hat;
und über Altpapierbündeln, Bettstellen und Fellen hat sie an
der Lattenveranda ihrer Handlung Geraniumtöpfe. Geranium,
pochendes Rot in träg grauer Welt, in das ich lange
hineinsehn muß. Die Witwe wirft mir böse Blicke zu. Zu
schimpfen getraut sie sich nicht, sie hält mich vielleicht
für einen Geheimen, am Ende sind ihre Papiere nicht in
Ordnung. Und ich meine es doch gut mit ihr, gern würde ich
sie über ihr Geschäft und ihre Lebensansichten befragen. Nun
sieht sie mich endlich weggehn und gegenüber, wo die
Querstraße ansteigt, in die Kniekehlen der Kinder schauen,
die gegen die Mauer Prallball spielen. Langbeinige Mädchen,
entzückend anzusehn. Sie schleudern den Ball abwechselnd mit
Hand, Kopf und Brust zurück und drehn sich dabei, und die
Kniekehle scheint Mitte und Ausgangspunkt ihrer Bewegungen.
Ich fühle, wie hinter mir die Produktenwitwe ihren Hals
reckt. Wird sie den Schupo darauf aufmerksam machen, was ich
für einer bin? Verdächtige Rolle des Zuschauers!

Wenn es dämmert, lehnen alte und junge Frauen auf Kissen
gestützt in den Fenstern. Mir geschieht mit ihnen, was die
Psychologen mit Worten wie Einfühlung erledigen. Aber sie
werden mir nicht erlauben, neben und mit ihnen zu warten auf
das, was nicht kommt, nur zu warten ohne Objekt.

Straßenhändler, die etwas ausschreiend feilhalten, haben
nichts dagegen, daß man sich zu ihnen stellt; ich stünde
aber lieber neben der Frau, die soviel Haar aus dem vorigen
Jahrhundert auf dem Kopf hat, langsam ihre Stickereien auf
blaues Papier breitet und stumm Käufern entgegensieht. Und
der bin ich nicht recht, sie kann kaum annehmen, daß ich von
ihrer Ware kaufen werde.

Manchmal möcht ich in die Höfe gehn. Im älteren Berlin wird
das Leben nach den Hinter- und Gartenhäusern zu
dichter, inniger und macht die Höfe reich, die armen Höfe
mit dem bißchen Grün in einer Ecke, den Stangen zum
Ausklopfen, den Mülleimern und den Brunnen, die
stehngeblieben sind aus Zeiten vor der Wasserleitung.
Vormittags gelingt mir das allenfalls, wenn Sänger und
Geiger sich produzieren oder der Leierkastenmann, der
obendrein auf einem freien Fingerpaar Naturpfeife zum besten
gibt, oder der Erstaunliche, der vorn Trommel und hinten
Pauke spielt (er hat einen Haken am rechten Knöchel, von dem
eine Schnur zu der Pauke auf seinem Rücken und dem
aufsitzenden Schellenpaar verläuft; und wenn er stampft,
prallt ein Schlegel an die Pauke, und die Schellen schlagen
zusammen). Da kann ich mich neben die alte Portierfrau
stellen — es ist wohl eher die Mutter der Pförtnersleute, so
alt sieht sie aus, so gewohnheitsmäßig sitzt sie hier auf
ihrem Feldstühlchen. Sie nimmt keinen Anstoß an meiner
Gegenwart und ich darf hinaufsehn in die Hoffenster, an die
sich Schreibmaschinenfräulein und Nähmädchen der Büros und
Betriebe zu diesem Konzert drängen. Selig benommen pausieren
sie, bis irgend ein lästiger Chef kommt und sie wieder
zurückschlüpfen müssen an ihre Arbeit. Die Fenster sind alle
kahl. Nur an einem im vorletzten Stockwerk sind Gardinen, da
hängt ein Vogelbauer, und wenn die Geige von Herzen
schluchzt und der Leierkasten dröhnend jammert, fängt ein
Kanarienvogel zu schlagen an als einzige Stimme der stumm
schauenden Fensterreihen. Das ist schön. Aber ich möchte
doch auch mein Teil an dem Abend dieser Höfe haben, die
letzten Spiele der Kinder, die immer wieder heraufgerufen
werden, und Heimkommen und Wiederwegwollen der jungen Mädchen erleben;
allein ich finde nicht Mut noch Vorwand, mich einzudrängen,
man sieht mir meine Unbefugtheit zu deutlich an.

Hierzulande muß man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht
man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für
unsereinen.

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Ich kann noch von Glück sagen, daß eine mitleidige Freundin
mir manchmal erlaubt, sie zu begleiten, wenn sie Besorgungen
zu machen hat. In die Strumpfklinik zum Beispiel, an deren
Tür steht: ‚Gefallene Maschen werden aufgenommen.‘ In diesem
düstern Zwischenstock huscht eine Bucklige durch ihr
muffiges wolliges Zimmer, das eine neue Glanztapete
aufhellt. Ware und Nähzeug liegen auf Tischen und Etageren
um Porzellanpantöffelchen, Biskuitamoretten und
Bronzemädchen herum, wie Herdentiere um alte Brunnen und
Ruinen lagern. Und das darf ich genau besehn und daran ein
Stück Stadt- und Weltgeschichte lernen, während die Frauen
sich besprechen.

Oder ich werde zu dem Flickschneider mitgenommen, der in
einem Hinterhaus der Kurfürstenstraße zu ebner Erde wohnt.
Da trennt ein Vorhang, der nicht ganz bis zum Boden reicht,
den Arbeitsraum vom Schlafraum ab. Auf einem gefransten
Tuch, das über den Vorhang hängt, ist bunt der Kaiser
Friedrich als Kronprinz dargestellt. ‚So kam er aus San
Remo‘, sagt der Schneider, der meinem Blick gefolgt ist,
und zeigt dann selber seine weiteren monarchentreuen
Schätze, den letzten Wilhelm photographiert und sehr gerahmt
mit seiner Tochter auf den Knien und das bekannte Bild des
alten Kaisers mit Kindern, Enkeln und Urenkeln. Gern will er
meiner Republikanerin das grüne Jackett umnähen, aber im
Herzen hält er's, wie er sagt, ‚mit den alten Herrschaften‘,
zumal die Republik nur für die jungen Leute sorge. Ich
versuche nicht, ihn umzustimmen. Mit seinen Gegenständen
kann es meine politische Erkenntnis nicht aufnehmen. Er ist
sehr freundlich mit dem Hunde meiner Freundin, der an allem
herumschnuppert, neugierig und immer auf der Spur gerade wie
ich.

Mit diesem kleinen Terrier gehe ich gern spazieren. Wir sind
dann beide ganz in Gedanken; auch gibt er mir Anlaß, öfter
stehnzubleiben, als es sonst einem so verdächtigen Menschen
wie mir erlaubt wäre.

Neulich ist es uns aber schlimm ergangen. Ich holte ihn aus
einem Hause ab, in dem wir beide fremd waren. Wir gingen
eine Treppe hinunter, in die ein Fahrstuhlgehäuse mit
Gitterwerk eingebaut war. Ein düstrer Eindringling war
dieser Lift in dem einst gelassen breiten Treppenhaus. Und
die bauschigen Wappendamen der bunten Fenster sahen irr auf
das Wanderverlies, und die Kleinodien und die Attribute
lockerten sich in ihren Händen. Sicher roch es auch sehr
diskrepant in diesem Ensemble verschiedener Epochen, was
meinen Begleiter von Gegenwart und Sitte derart ablenkte,
daß er auf der ersten Stufe der steilen Stiege, die zu Füßen
des Fahrgehäuses vom Hochparterre hinunterführte, — sich
vergaß! So etwas, hat mir später meine Freundin versichert,
konnte einem so stubenreinen Geschöpf nur in meiner
Gesellschaft passieren. Das nahm ich gern hin. Härter aber
traf mich der Vorwurf, den mir im Augenblick des peinlichen
Ereignisses der Portier des Hauses machte, der zum Unglück
gerade, als wir uns vergaßen, die Nase aus seiner Loge
steckte. In richtiger Erkenntnis meiner Mitschuld wandte er
sich nicht an das Hündchen, sondern an mich. Er zeigte mit
grau drohendem Finger auf die Stätte der Untat und herrschte
mich an: ‚Wat? Sie woll’n ein jebildeter Mensch sint?‘