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TIERGARTEN
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:centerblock:`\*`
:initial:`H`\ erbstsonntag. Dämmerung. Die Erde dampft ein
wenig, nicht so feucht wie Feld, mehr wie Kartoffelacker.
Auf den vielen, vielen ins Halb- und Ganzdunkel verstreuten
Bänken an den schlängelnden Pfaden sitzen Liebespaare.
Manche scheinen mir noch ein bißchen ungeschickt in der
Liebkosung, sie könnten von einem Pariser Arbeiter, der sein
Liebchen streichelt, lernen. Manche haben für ihre
Zweieinsamkeit eine ganze Bank erwischt, aber auch die,
welche mit andern Pärchen teilen müssen, lassen sich nicht
stören.
Ich suche nach dem bärtigen Apoll unsres Kinderspielplatzes.
Von dem habe ich übrigens inzwischen gelernt, daß er aus dem
achtzehnten Jahrhundert ist, ursprünglich vor dem Potsdamer
Stadtschloß, dann vor dem Brandenburger Tor stand. Er kommt
sogar im Baedeker vor, wenn auch nur kleingedruckt. Ich
finde ihn nicht, ich gerate an den Goldfischteich. Das
Dreimusikerdenkmal da am Ende mit seinen Halbfiguren in den
Nischen lasse ich weitab liegen und gehe zu den Putten in
den natürlichen, von Buschwerk gebildeten Nischen. Da ist
ein Merkurbübchen mit Flügelkappe und Schlangenstab, der
seine winzige nackte Landwirtin, die eine Garbe zu halten
scheint, streichelt. Das bedeutet gewiß den Bund von Handel
und Landbestellung. Am Ufer gegenüber finde ich einen Putto
mit preußischer Pickelhaube und einer Art Seitengewehr bei
einem Mitmännlein, das von ihm weg Tuba bläst. Die beiden
erinnern an reizende Allegorien der Porzellanmanufaktur.
Einer dritten Gruppe fehlt zuviel von den Armen, als daß ich
erriete, was sie hielten und bedeuteten. Sie sind besonders
schön, so wie sie sind. Das soll kein ästhetisches Urteil
sein! Mit Ästhetik komm ich nicht weiter, muß es auf andre
Art versuchen.
Durch einen Seitenweg schimmert von der Siegesallee herüber
ein Stückchen Markgraf. Ich laß es von fern locken, werde
mich wohl hüten hinüberzugehn zu den unglücklichen
Zweiunddreißig mit der wechselnden Beinstellung. Wieder ein
Busch und ein Sandsteinpärchen, sie mit Flachs versehn, er
auf ein Rad gestützt. Steuermann? Preußische Seehandlung?
Und hier führt ein Weg vom Teich fort zu dem Rasenrund, auf
dem Tuaillons Amazone, eine größere Nachbildung des
Originals vor der Nationalgalerie, ruhevoll und gespannt zu
Pferde sitzt, die erste Berlinerin, die den Rücken in
korsettlos sanfter Biegung gehalten hat im Gegensatz zu
ihrer fürstlichen Zeitgenossin, die nicht weit von hier
eingeschnürt, in immer schlimmer werdendem Hut, bei den
Blumen des Rosengartens auf Abholung wartet.
Ich gehe weiter ohne bestimmte Richtung, weiß nicht, ob ich
zur Rousseau- oder zur Luiseninsel kommen werde. Und
glücklich verirrt, steh ich mit einmal vor dem Apoll, den
ich nie wiedergefunden habe seit Jahren. Ich sehe ihn im
Profil. Mondlicht bewegt die Hand, mit der er in seine
steinerne Leier faßt. Er hat eine kräftige Art, zuzugreifen,
nicht distinguiert klassizistisch, sondern wie von alters
her, er braucht sich keine Mühe zu geben, Antikisches zu
tun, er kann noch Barock, der gute Gartenmusikant unseres
Spielplatzes. Aber Spielplatz ist hier nicht mehr.
Immerhin ist es jetzt im veraltenden Halbdunkel noch so
buschig und labyrinthisch hier wie vor dreißig, vierzig
Jahren, ehe der letzte Kaiser den Naturpark in etwas
Übersichtlicheres, Repräsentativeres umschaffen ließ. Daß
auf seinen Befehl das Unterholz gelichtet, viele Wege
verbreitert und die Rasenflächen verbessert wurden, ist
verdienstlich, aber darüber sind dem Tiergarten gewisse
intime Reize verlorengegangen, eine holde
Kinderstubenunordnung, Zweigeknacken und das Rascheln vieler
nicht gleich weggeräumter Blätter auf engen Pfaden. Aus
dichterem Laub tauchten damals die Teiche auf. Und an
Denkmälern gab es nur die wenigen freundlichen Marmorleute
wie etwa den Herrn von Goethe, dem es anzumerken ist, daß er
sich hier nur vorübergehend aufhält, um einen neuen Umwurf,
eine Art preisgekrönten Domino, anzuprobieren und dem
Unterricht beizuwohnen, den griechisch gekleidete Fräulein
aus seinen Dichtungen kleinen Knaben erteilen — oder den
guten Friedrich Wilhelm, der auf die Luiseninsel schaut. Er
soll schon hingesehn haben, eh dort seiner Luise das Denkmal
errichtet wurde, das alle Kinder lieben. Kenner haben uns
belehrt, daß des Königs Gestalt und Gewandung besonders
genau und gründlich ausgeführt sei. Es fehlt nicht einmal
der Riester am Stiefel des sparsamen Monarchen, der
bisweilen geflicktes Schuhwerk getragen haben soll.
Bei dieser Gelegenheit will ich einiges anbringen, was ich
aus der Geschichte des Tiergartens gelernt habe. Geschenkt
hat laut einer Urkunde von 1527 den Platz die Gemeinde Cölln
an der Spree dem Kurprinzen Joachim dem Jüngeren ‚zur
Anrichtung eines Thier- und Lustgartens‘. Noch unter dem
Großen Kurfürsten reichte der Tiergarten mit seinem starken
Wildbestand bis zum heutigen Gendarmenmarkt, und der
sogenannte kleine Tiergarten umfaßte ganz Moabit und die
Gegend des Wedding. Allmählich griffen dann Dorotheen- und
Friedrichstadt in das Waldgelände ein. Eine große Allee
wurde angelegt nach dem Schloß der Königin Sophie Charlotte.
Und es begann die Umwandlung des Jagdreviers in einen
Lustwald. Der Plankenzaun fiel, der einst das ganze Gebiet
umgab. Der Große Stern entstand und die Alleen, die von ihm
abzweigen. Friedrich der Zweite ließ diesen Platz mit
geschnittenen Hecken und pyramidal gestutzten Buchen
umgeben. Über ein Dutzend Statuen kamen darauf, aber keine
Markgrafen, sondern Pomonen, Floren, Ceres, Bacchus und
ihresgleichen. Das Volk nannte sie die Puppen, und den
weiten Weg zu ihnen nannte es ‚bis in die Puppen‘. Vom
Goldfischteich habe ich gelesen, daß er noch Karpfenteich
hieß, als E. Th. A. Hoffmann daselbst seinen geliebten Kater
Murr verscharrte. Vielleicht lächelte damals noch die Göttin
des großen oder Venusbassins auf ihren Cupido nieder wie zur
Zeit, als hier der junge Philipp Hackert seine ‚Aussichten‘
malte. Nicht weit vom Großen Stern legte Knobelsdorff sein
Labyrinth an, einen Irrgarten, aus dem sich der Poetensteig
schlängelte, von welchem noch ein Ausläufer erhalten ist in
dem Pfad, der zum Denkmal Friedrich Wilhelms führt.
Um 1790 entstand nach dem Vorbilde der Stätte, wo Jean
Jacques bestattet worden, in einer sumpfigen Partie des
Parkes die Rousseauinsel, unsere Rousseauinsel, um die wir
ruderten und Schlittschuh liefen und sie bei ihrem Namen
nannten, lange ehe wir wußten, von wem sie ihn hatte. Villen
und Landhäuser näherten sich dem Park, das gastfreie Haus
des Jacob Herz Beer, der Meyerbeers Vater war, und Ifflands
schönes Gartenheim. In der werdenden Tiergartenstraße wohnte
Schleiermachers Freundin Henriette Herz. Eine bekannte
Karikatur der Zeit läßt sie mit Schleiermachers Kopf im
Ridikül am Tiergartenrand spazieren gehn. Unterschrift: ‚Die
Hofrätin Herz hat sich einen Ridikül angeschafft.‘ Der Park
selbst war damals noch recht verwildert, nur die sogenannten
englischen Partien wurden gepflegt. Systematisch
umgeschaffen hat den Tiergarten erst Lenné in den dreißiger
Jahren. Doch ließ er noch kleine Wildnis genug, die bis in
unsere Kindertage blieb. An diese Zeit erinnern mich am
meisten die winzigen hochgeschwungenen Brückenstege über
den Bächen, die manchmal bewacht sind von munteren
Bronzelöwen, denen von Maul zu Maul Geländerketten hängen.
Und ganz wie damals ist oder scheint mir der Neue See. Es
wird zu spät, heut hinzugehn, so zeichne ich in Gedanken die
Buchten um seine Bauminseln, wo wir im Winter kunstvoll
holländernd große Achten ins Eis schrieben und im Herbst von
der Holzbrücke am Bootshaus in den Kahn stiegen mit der
Herzensdame, die unser Rudern steuerte. Und lasen wir später
im berühmten Gedicht, das wohl einem südlicheren Park
gewidmet ist,
| ‚Wir fahren mit dem kahn in weitem bogen
| Um bronzebraunen laubes inselgruppen’
so dachten wir Berliner Kinder an unsern Neuen See.
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