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DÖNHOFFPLATZ
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:centerblock:`\*`
:initial:`I`\ ch stand zu Füßen einer der Riesendamen aus
Stein, die den Eingang zum Warenhause Tietz in der
Leipzigerstraße bewachen. In der Hand hatte ich ein neu
erbeutetes Büchlein, Gustav Langenscheidt, Naturgeschichte
des Berliners, Berlin 1878. Wie ein Kleinstädter, der sich
in der stillsten Straße seiner Heimatstadt ergeht, blätterte
ich mitten im Weltstadtverkehr, häufig gestoßen und
angefahren, in diesem lehrreichen Buch, kam gleich an ein
herrliches Zitat aus ‚Schattenriß von Berlin, 1788‘ und las
angesichts des spiegelglatten Asphalts und in strahlender
Beleuchtung:
»So breit und schön die Straßen auch dem ersten Anblick nach
sind, so weiß doch der Fußgänger zuweilen nicht, wie er sich
für schnell fahrenden Wagen, für Koth und Gossen hüten soll.
Der eigentliche Gang für Fußgänger sollte, so wie in allen
übrigen polizierten Städten längs den Häusern hingehen,
allein dieses hat man durch die hohen Auffarthen vor den
Häusern fast unmöglich gemacht. Der Fußgänger wird alle
Augenblick aufgehalten und ist gezwungen, über die Gossen
weg auf den sogenannten Damm zu schreiten. Nirgends ist
diese Unbequemlichkeit sichtbarer als in der Leipziger
Straße, einer der schönsten von ganz Berlin (hier ist
vermutlich die Alte Leipziger Straße gemeint hinterm
Hausvogteiplatz bei Raules Hof, aber ich will diesen Text
angesichts der neuen Leipzigerstraße genießen). Außerdem
sind vor den Häusern auch hohe steinerne Treppen angebracht.
In der Mitten der Straßen oder auf dem Damme ist es bei
schlechter Witterung außerordentlich kothig und im
Steinpflaster selbst gibt es unzählige Löcher, welche theils
von dem sandigen Boden, theils von der unverantwortlichen
Nachlässigkeit der Steinsetzer und ihrer Aufpasser herrührt.
Die übermäßig großen Steine, die zwischen eine Menge kleiner
und spitzer Kieselsteine gelegt sind, verursachen, daß man
alle Augenblick Gefahr läuft anzustoßen und zu Boden zu
stürzen. Die Gossen sind zwar, wie es sich gehört, an beiden
Seiten des Dammes angelegt, jedoch so, daß sie dem Fußgänger
eine neue und gefährliche Fallbrücke werden. Ein Theil
dieser tiefen Gossen ist nur eben vor den Hausthüren mit
Brettern überlegt. Sobald man also des Abends längs der
Häuser weggehet, stößt man alle zehn bis fünfzehn Schritte
an eine steinerne Treppe oder Auffarth, die noch wohl zu
größerer Gefahr mit einer kleinen Rönne umgeben ist; gehet
man auf den Brettern, womit die Gossen bedeckt sind,
herzhaft fort, so stürzt man, ehe man es sich versiehet, mit
einem Male drei bis vier Fuß tief in die Gosse hinunter;
gehet man aber in der Mitte des Dammes, so weiß man bei der
geschwinden Annäherung eines oder gar mehrerer Wagen nicht,
wo man sich hinwenden soll, denn an den Gossen liegen hohe
und schlammigte Dreckhaufen; über sie hinüberzuspringen, ist
gefährlich, weil sie abschüssig und tief sind; dennoch muß
man auf das gerathewohl einen Entschluß fassen, um nicht von
den Wagen überfahren zu werden. Die eingebohrenen Berliner
sind an diese Unbequemlichkeiten gewöhnt, kennen auch die
Seitenwege besser als der Fremde, der dergleichen
Fallbrücken garnicht vermuthet. Es steckt selbst etwas
menschenfeindliches in einer solchen Anlage der Straßen,
weil man dabei bloß auf die Reichen, die in Kutschen fahren,
gedacht zu haben scheint. Man spreche ja nicht von der
nächtlichen Erleuchtung, denn die ist bis hierher herzlich
elend gewesen, ohnerachtet Laternen genug brennen. Letztere
sind so beschaffen und gesezt, daß sie nur eine Art von
hellem Schatten verbreiten, der zu nichts hilft.«
Ich finde es sehr amüsant, sich vorzustellen, wie dieser
kritische Beobachter unserer guten Stadt verdrossen von
Stein zu Stein hüpfte und scheele Seitenblicke auf die
‚Eingebohrenen‘ warf, die kennerisch Seitenwege fanden . . .
Wie es noch in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit
der Beleuchtung bestellt war, lesen wir bei Eberty. Da
»wiegten sich in weiten Zwischenräumen vereinzelte Öllampen
in der Mitte von eisernen Ketten, die über die Straßen
gespannt waren und im Winde ein melancholisches Gequieke
hören ließen und so spärliches Licht verbreiteten, daß die
meisten Leute abends mit der Laterne in der Hand gingen oder
sich solche vorantragen ließen . . . Männer, deren Kleidung
von Fett triefte, reinigten die Lampen . . .« Und an das
Pflaster der vierziger Jahre erinnert sich der alte Ludwig
Pietsch und berichtet, wie sehr man, um vorwärts zu kommen,
auf das damals einzige öffentliche Verkehrsmittel angewiesen
war, »die heute noch in ihrer altehrwürdigen Gestalt
unverändert gebliebene Droschke zweiter Klasse«. An die
letzten Vertreter dieser Gattung Fuhrwerke mit ihren roten
und gelben Rädern, den windschiefen bunten Kasten, des
Kutschers struppigen Bart und blauen Pelerinenmantel können
die älteren von uns sich noch gut erinnern.
Da zu meiner Rechten liegt der weite Dönhoffplatz überflutet
von Trambahnen, Autos und Menschenmassen und nun, da ich in
die alten Zeiten geraten bin, stell ich ihn mir vor, als er
noch eine Esplanade vor dem alten Leipziger Tor war, und
dann als Exerzier- und Paradeplatz des Regiments, das der
General Dönhoff befehligte. Wo jetzt die schönen
Gontardschen Kolonnaden den Platz nach dem Spittelmarkt zu
abschließen, war der Festungsgraben mit der Spitalbrücke.
Friedrich der Große ließ sie errichten und die vielen Buden
und Scharren wegräumen, die oft Verbrechern Unterschlupf
gewährten. Er ließ auch den Dönhoffplatz mit stattlichen
Gebäuden umgeben. Von diesen stand noch bis zur letzten
Jahrhundertwende das Palais, in dem einst der Staatskanzler
von Hardenberg wohnte und das später preußisches
Abgeordnetenhaus wurde. 1904 hat es einem modernen
Geschäftshaus Platz gemacht. An des Kanzlers Zeit erinnert
nur noch sein Denkmal, das an der Südseite des Platzes dem
Standbild des Freiherrn vom Stein feindlich den Rücken
kehrt, der trotzig auf die Trambahnen der Leipzigerstraße
schaut. Auch Jahrmarkt ist der Dönhoffplatz gewesen und
stand voller Buden. Und ehe das Steindenkmal errichtet
wurde, erhob sich in der Mitte ein Obelisk, der als
Meilenzeiger den Weg nach Potsdam maß. Vor dem war ein
großes Brunnenbecken mit einem wasserspeienden Löwen, den
die Berliner die Wasserkatze nannten. Sie reimten:
| Wenn die wilde Katze
| Auf dem Dönhoffplatze
| Wasser speit,
| Ist der Frühling
| Von Berlin nicht weit.
Um die Wasserkatze und das Becken spielten die
Straßenjungen, und die Mägde saßen mit den kleinen Kindern
auf den Stufen und dem Beckenrand, strickten und schwatzten,
wie man es auf alten Zeichnungen sehen kann.
Aber genug von der alten Zeit. Ich gehe über den Damm, komme
vor den Eingang des Theaters und will sehn, was es heute
gibt. Die Stettiner Sänger! Wieder etwas Altehrwürdiges.
Aber weil es noch besteht, gehe ich hinein.
Die Blüten auf der Wand des Treppenaufgangs, wann mögen die
wohl gemalt sein? Sie haben so etwas wie gedämpften
Jugendstil. Die hohen roten Pfeiler, die den Saal tragen,
und der verblichne Prunk der Decke deuten auf eine noch
weiter zurückliegende Glanzzeit. Nach der Form einiger
Ampeln und Kandelaber zu schließen, müssen es die Tage des
Gaslichts gewesen sein. Ja, damals war hier das Varieté par
excellence und es kamen sogar Mitglieder der höchsten
Hofgesellschaft zu Besuch. Ein großer Glaskasten nah dem
Büfett hütet eine zweite Vergangenheit. Darin sind wächsern
die beiden Ur-Komiker aufgehoben, der lange dürre und der
kleine dicke, beide in bunter Uniform, weißen Gardehosen,
den hohen Tschako auf dem Kopf. Von den Zeiten dieser Sänger
ist bis auf den heutigen Tag eine geheiligte Gewohnheit
bestehn geblieben: die ausschließliche Männlichkeit der
auftretenden Künstler. Selbst zuletzt in dem Theaterstück
werden die weiblichen Rollen, sowohl die Frau
Amtsgerichtsrat als auch das Dienstmädchen, von Mannsleuten
gespielt, genau wie auf dem altgriechischen und
altenglischen Theater.
Wichtig ist diese Stätte aber vor allem als späte Blüte des
deutschen Männergesangs. Das Quartett würdiger Herren im
Frack bildet den Grundstock der Vorstellung, und was an
humoristischen Couplets und einzelnen Charakterszenen
zwischendurch laut wird, ist nur Intermezzo. Sie können
übrigens auch heiter sein, diese Würdigen. Dann necken sie
einander und uns mit Potpourriüberraschungen, bei denen nur
der verständige Mann am Bechsteinflügel ernst bleibt. Aber
ganz andächtig wird das Publikum, Familienväter und -mütter
und all unsre Ernas und Almas, die beim Abwaschen selbst so
schön über den Hof singen, wenn die Vier a cappella anheben
von der Liebe, die nur im Herzen wohnt und still wie die
Nacht und tief wie das Meer ist oder sein sollte. Regungslos
stehn die Sänger, die Notenhefte vor der Brust. Nur die
Köpfe drehen sich manchmal ein wenig zueinander, wenn Tenor
dem Baß und Baß dem Bariton den Einsatz von Augen und Lippen
abliest.
Nach solchen rein musikalischen Genüssen möchte man nun auch
etwas Augenweide haben. Dafür sorgen ‚auf allgemeines
Verlangen‘ die Traumbilder. Das sind lebende Volkslieder,
gesungen und dargestellt vor einem äußerst felsig gerahmten
Bühnenbild. Da verbergen und enthüllen wolkige Gazeschleier
allerlei altdeutsche Landschaft und Situation, darinnen ein
Kostümierter wandelt und, teils allein, teils von seinen
Gefährten beechot, ‚In einem kühlen Grunde‘ und ‚Im Wald und
auf der Heide‘ singt. Von Strophe zu Strophe, ja manchmal
von einer Zeile zur andern, wechseln die Bilder: Muß am
Brunnen vor dem Tore dem Liebenden der Hut vom Kopfe
fliegen, so erhebt sich im Handumdrehn der dazugehörige
Sturm und verdüstert die Landschaft. Eben noch samtröckiger
Scholar mit Wanderbauch, wird in dem nächsten Verse der
fahrende Gesell grasgrüner Jägersmann oder Großmütterchen im
Winterstübchen. Hier habe ich endlich erlebt, wie der Müller
aussieht, dessen Lust das Wandern ist. Das ist kein weißer
Mehlknappe, sondern ein eilfertiger junger Mann in einer Art
grauem Sweater mit einem Barchentbündel unterm Arm. Im
Schlußbild aber werden nach all dem Rebensaft und
Waldesrauschen unser aller Gefühle zusammengefaßt in einer
von wehenden Flammen umspülten Riesenleier, über die sich
ein Zettel herabsenkt mit der Aufschrift: ‚Gott erhalte das
deutsche Lied!‘
Und während wir klatschen, greifen die Künstler zu
plötzlichen Posaunen und Trompeten und blasen uns einen
Abschiedsmarsch!
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