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Um seiner selbst willen Neukölln aufzusuchen, dazu kann man eigentlich niemandem raten. Vielleicht entsteht hinter den Riesengerüsten, die zur Zeit den Hermannsplatz, mit dem dieser Stadtteil ungefähr beginnt, überragen, schöne neue Architektur. Aber das eigentliche Neukölln ist eine der Vorstädte, die in den siebziger Jahren kaum zehntausend Einwohner hatten und jetzt zwischen zwei- und dreihunderttausend haben. Auf dem Hohenzollernplatz reitet natürlich ein bronzener Kaiser Wilhelm I. In breiten Straßen sind viel Warenhäuser, Kinos, Ausschank, Dampfwurst, Rundfunkbastelgeschäfte und stattliche Fronten, welche die Trübsal der Hofwohnungen verbergen. Es findet sich zwischen Hermannstraße und Bergstraße auch eine Gegend, wo das Elend sichtbarer wird, das sogenannte Bullenviertel, wo abends arbeitsmüdes Volk aus überstopften Trambahnen steigt und viel kümmerliche Kinder auf der Straße herumtreiben. Eine traurige Gegend. Als sie noch Rixdorf hieß und Ausflugsort war, mag sie interessanter gewesen sein. ‚Musike‘ ist nicht mehr in Neukölln, wie sie, nach dem bekannten Liede zu schließen, in Rixdorf gewesen ist. Übrigens habe ich nur geringe Kenntnisse von dieser Vorstadt. Seine neueren Denkmäler, einen Reuterbrunnen und einen Friedrich Wilhelm I. (dem König als Ansiedler der frommen Böhmen gestiftet) habe ich mich bisher noch nicht entschließen können zu besichtigen. Ich bin immer nur rasch mit der Tram durch Neukölln gefahren, um wo anders hinzukommen. Vor allem nach Britz. Wenn man in diesem kleinen Vorort an ein paar rührend tiefliegenden Sommerhäusern aus alter Zeit und der Tankstation mit ihren Olex- und Shell-Plakaten vorbei in die Dorfecke einbiegt, gerät man eine schlängelnde Straße hinab zu einem waldigen Abhang. Hat man dann noch ein Stück Weg an ‚dorrendem Geländer‘ hin zurückgelegt, so erscheint hinter Baum und Teich — wohltuender Anblick — die Siedlung. Ihre Farben leuchten, gelb, weiß und rot und dazwischen das Blau der Umrahmungen und der Balkonwände. Wir gehen eine der ausstrahlenden Straßen in den runden Komplex hinein, die offene Seite eines Vierecks entlang, an dessen drei andern Seiten schmale Häuser eine große Gartenanlage umgeben. Hinterhäuser sind nirgends zu finden, den Treppen sind runde Ausbuchtungen eingefügt. Jedermann hat sein Stück Gartenland wie in den Laubenkolonien, nur viel gepflegter und innerhalb eines viel gemeinsameren Ganzen. Wir kommen in den inneren Ring und sehen endlich den Teich, die Mitte, um die sich in Hufeisenform die ansteigenden Ufer mit einem Häuserring fügen. In schönem Gleichmaß haben die Häuser eine Reihe Dachluken, kleine und große Fenster und farbig vertiefte Balkone. An der Seite, wo das Hufeisen schmal wird, hat die glückhafte kleine Stadt ihren Marktplatz; Schaufenster von Konsumgenossenschaften, welche die Siedler in, wie man uns versichert, sozial rationeller Weise mit Lebensmitteln versorgt. Wir betreten ein Haus. Auch innen ist es bunt, aber kein überflüssiger Zierat, alles schmucklos und doch schmuck. Das ist eine der vielen Siedlungen, die den stärksten Vorstoß in das Chaos der Zwischenwelt, die Stadt und Land trennt, bedeuten. Wohnungsnot, Schönheitssehnsucht, die Richtung der Zeit auf das Gemeinsame und der Eifer der jungen Architektengeneration waren hier wie in Lichtenberg, Zehlendorf und andern Enden der Stadt am Werke, menschenwürdige Wohnstätten zu schaffen. Ein Werk, das dauernd fortgesetzt wird und wohl das Wichtigste ist, was zur Zeit mit Berlin geschieht. Dieses neue, werdende Berlin vermag ich noch nicht zu schildern, ich kann es nur preisen.