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  <title>Liebe</title>
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<body>

<div class="prose">

  <h3 class="center">LIEBE</h3>

<p>
<span class="initial">N</span>ITIMUR, ein wohlriechender Künstler, 
Erbauer der sechs großen Stockwerke, sah eines
Tages die wohlwandelnde Königstochter Inve, und
nicht genug daran: er wagte es, seine Augen zu
ihr zu heben, die auf dem hochgelegenen Steige der
Königstöchter knabenleichten Schrittes zur Lust tief
und tiefer unten Wandelnder und also auch wohl zur
eigenen Lust einherschwebte. Ja, er gewann es über
seine in welcher Niedrigkeit aufgeschossene Seele, daß
er den jäh ansteigenden Kotsee und den 
darauffolgenden Eisberg der vermeintlichen Glückseligkeit 
durchschwamm und überschritt.</p>

<p>
Diese beiden Stoffe nämlich, Kot und Eis, 
ausgezeichnet sowohl durch die Menge, in der sie sich an
den genannten Orten befinden, als auch durch andere
Eigenschaften, sind dazu bestimmt und geschaffen, die
Wege der wohlwandelnden Königstöchter und der 
wohlriechenden Künstler zu trennen.</p>

<p>
Wohl war, wie ihr alle recht gut wisset, in diesem
unseren Königreiche Titumsem die schreckliche Strafe
der Spiegelentziehung auf das Erklimmen der 
Scheideflächen gesetzt. Nitimur aber mag vor, während und
nach deren Durchquerung wenig an eine 
Selbstbespiegelung gedacht haben. Vielmehr: an dem Orte seines
Strebens in welchem Aufzuge angelangt, warf er sich
rücklings zu Boden, auf den heiligen Boden des 
Einherschwebens der Königstöchter, und schlug ihn 
dreimal mit dem Hinterhaupte. Dies ist die Art, mit der
in diesem unseren Königreiche Titumsem Hohlheit und
Wohlriechenheit gewiesen wird. Inve konnte nicht anders,
sie mußte eine Zeiteinheit lang ihr Einherschweben in
ungleichförmig verzögerter Geschwindigkeit vor sich
gehen lassen — gewöhnlich bewegen sich nämlich die
Königstöchter in diesem unseren Königreiche Titumsem
gleichförmig verzögert — und eine weitere Zeiteinheit
lang tat sie sich die Mühe, ihre konkaven Wangen in
dem Blaurot des höchsten Unwillens erröten zu lassen.
Nitimur nun — war es Absicht oder Unfall? Meine der
Verehrung wohlwandelnder Königstöchter sicherlich 
zuneigenden Zeitgenossen werden mir wohl recht geben,
wenn ich steif und fest behaupte, daß es nicht seine
Absicht war, und ebenso dürften meine dem Glauben
an das Walten einer ursittlichen Welthausordnung 
herzhaft geneigten Zuhörer meiner wohlweisen Meinung
sein, wenn ich statt Zufall Unfall sage ...
</p>

<p>
Nitimur nämlich, der wohlriechende Künstler, rutschte,
von der Blauröte des höchsten Unwillens scheinbar 
gleichgültig durchstrahlt, mit gleichförmig beschleunigter 
Geschwindigkeit den Gletscher der anscheinenden 
Glückseligkeit hin und überschlug sich unter den spaßhaftesten
Purzelbäumen und Kapriolen im darauffolgenden Kotsee.
Wieder unten auf der Straße wohlriechender 
Künstler angelangt, begab er sich aber nicht in seine sechs
großen Stockwerke, denn er wußte wohl, daß ihm 
sämtliche Spiegel mittlerweile entfremdet worden waren ...
Wer aber kann malen das Blaurot des noch sehr
viel höheren Unwillens der wohlhabenden 
Königstochter Inve, als sie nächsten Tages an derselben Stelle
Nitimurn gewahrte! Ihre Bewegung setzte sie da mit
gleichförmig beschleunigter Geschwindigkeit fort, die sie
nur um eine Zeiteinheit verzögerte, als sie an dem
wohlriechenden Künstler das heiße Schweigen der Liebe,
von dem die wohlwandelnden Königstöchter zu träumen
pflegen, nicht kaltes Schweigen der Körperverehrung,
das wohlriechende Künstler zu durchstrahlen pflegt, 
bemerkte. Als sie sah, daß er mit weit weniger 
gleichgültig durchstrahlter Miene seinen schmachvollen 
Heimweg abkugelte.</p>

<p>
Da aber jeder Tag diesen Vorfall gebar, Perku, ihr
wenig geschlechtlicher Erzieher, der zwar seine Zeit
meist damit füllte, noch weniger geschlechtliche 
Erzieher zu zerspotten, dennoch beinahe bemerkt hätte,
daß seine wohlwandelnde Königstochter die zur 
Absolvierung ihres Einherschwebens nötige und also 
vorgeschriebene Anzahl von Zeiteinheiten stets überschritt,
schließlich Inve einsah, daß bald ihr ganzer Reichtum
an Erörterungsnuancen allewerden dürfte, tat sie es
eines Tages, über den Wasserberg hinweg, der den
Schwindelpfad der wohlschlafenden Könige von dem
Steig der wohlwandelnden Königstöchter trennt, sie
tat es, ihrem Vater Pimus zuzurufen, der wohlriechende
Künstler Nitimur störe täglich die Regel- und 
Gesetzmäßigkeit ihres Einherschwebens. Der wohlschlafende
König Pimus, dem es ein Neues war und den es
mit Verblüffung durchstrahlte, daß ein wohlriechender
Künstler auch nach Entfremdung seiner Spiegel vor
wohlwandelnden Königstöchtern zu liegen wage —
deren heiligen Boden mit dem Hinterhaupte schlagend,
Hohlheit und Wohlriechenheit weisend — er erschrak
zuerst über das Omen dieser sehr kuriosen 
Zugetragenheit, das und die in keinem königlichen Orakel- und
Traumbuche verzeichnet und vorgesehen war. Also
machte der wohlschlafende König Pimus seinem 
wohltanzenden Gotte Kwene dreiundachtzig und eine halbe
Verbeugung und sagte ein Achtel Betrolle her. Kwene
nämlich, der wohltanzende Gott, dessen Seil von dem
Schwindelpfade der Könige durch einen Sonnenberg
geschieden ist, sah sehr gut, hörte aber schlecht: 
daher dreiundachtzig und eine halbe Verbeugung und
bloß ein Achtel Betrolle. Denn ihr wisset sowieso, und
ich sage es auch nur, um euch der Abwechslung halber
mit eurem Wissen zu ärgern: Man hat seine Freude
nur an dem, was man bis in seine süßesten 
Einzelheiten auszukosten vermag, nicht jedoch an Dingen,
die, ach, in höchst summarischer Weise fühlbar
werden ...</p>

<p>
Kwene aber wußte sehr wohl, daß der Thron eine
Stütze des Glaubens an ihn sei. Nur darum reichte
er dem wohlschlafenden Könige trotz des Achtels 
Betrolle schnell seine Ohren, und außerdem drangen 
gerade in dieser Zeiteinheit labend an des 
schlachtmesserumgürteten, wohltanzenden Gottes nicht ganz schlecht
hörende Ohren des eben von ihm eigenhändigst, nach
allen Regeln der Kunst geschächteten Schlachtopfers
höchst rituelle Laute des Sterbens und Verzuckens.
Dennoch aber unterdrückte der wohltanzende Kwene
den wohlweisen Rat: »Sende dem wohlriechenden
Künstler einen zweiten Spiegel, auf daß er sich darin
besehe!« Nein, er wollte wieder einmal ein Exempel
seiner Allmacht, Gerechtigkeit und ursittlichen 
Welthausordnung statuieren und gab dem wohlschlafenden
Könige Pimus den minder weisen Rat, die 
wohlwandelnde Inve hinabzusenden zu dem 
wohlriechenden Künstler Nitimur, dem Erbauer der sechs großen
Stockwerke. »Denn die gebotene Möglichkeit der 
Befriedigung wird des wohlriechenden Künstlers 
Sehnsucht und Liebe stracks töten, da sie bloß jener 
selbsterzeugte Hunger in Gedanken ist, den armgelebte
Künstler hie und da aufzuziehen pflegen, der aber
immer unbefriedigt stirbt, den sie wohlahnend sich
vergehen lassen, wenn der Erfüllung Schmerz ihnen
verstattet wird.« Und geheime, frohe Gedanken der
Rache an dem verbeugungsfeindlichen Künstler und
dem gern betrollenden Könige durchstrahlten des Gottes
und Tänzers Miene, kaum verborgen durch ein 
nervöses Zwirbeln des Schnurrbartes.</p>

<p>
Nicht vergaß da zum Dank der wohlschlafende König
eine halbe und dreiundachtzig Verbeugungen dem 
seiltanzenden Gotte Kwene zu machen, noch weniger 
vergaß er es, den Heimtückischen durch schnelles Ableiern
von einem Achtel Betrolle zu ärgern. Schnell tat er
es, über den Wasserberg hinweg seiner 
wohlwandelnden und gerade einherschwebenden Tochter eine Hymne
auf seine Vatertugenden zu halten und ihr zu 
befehlen, allbereits hinabzuschweben zu dem 
wohlriechenden Künstler. Welche machte sich sofort auf mit ihren
wohlschmeckenden Zofen, die ein wohlklingendes 
Geschnatter fortflattern ließen, als die Königstochter in
einem Sprunge hinabsprang zur Straße der 
wohlriechenden Künstler, die ihr scharenweise zur gefälligen
Matratze dienen wollten.</p>

<p>
Als aber Nitimur, auf seinem wohlgeborstenen Steine
vor den sechs großen Stockwerken sitzend, sie 
kommen sah, da wandte er sich zur Flucht und sprang
lieber hinab über grasbewachsene Wiesen zu den 
bewußtlos lebenden Bürgern und tauchte lieber unter in
ihrem Meere der Gewöhnlichkeit. Tiefbetrübt gebot da
die wohlwandelnde Königstochter den wohlriechenden
Künstlern, ihre Spiegel zu legen über den Kotsee, ließ
sich nur unwillig ihre goldenen Schlittschuhe anschnallen.
Denn sich hinunterzukugeln über die Grashalden in
der häringhaften Bürger Meer von Gewöhnlichkeit, dies
war ihr wie jeder echten wohlwandelnden 
Königstochter unmöglich. In ungleichförmig beschleunigter 
Geschwindigkeit, ja in rasendem Sturmlauf blitzte sie den
spiegelbedeckten Kotsee hinan, hinan den 
darauffolgenden Gletscher der anscheinenden Glückseligkeit. Wenig
kümmerte sie es, daß ihre wohlschmeckenden Zofen,
diese Keineswegs-Königstöchter, vor den gefälligen
Matratzenkünstlern ihr wohlklingendes Geschnatter 
fortflattern ließen und sich mit ihnen um die einerseits 
kotbelegten, andererseits wohlgeborstenen Spiegel balgten,
im Schlamme wälzten und schließlich dem Geheul und
Gewaltschmerz der nicht ganz ausgenützterweise sich
um ihre Spiegel gebracht sehenden 
Wohlgeruchs-Künstler ein Ende taten, indem sie mit ihnen die 
Grashalde abkugelten in der kaninchengleichen Bürger Meer
von Gewöhnlichkeit. Gar nicht kümmerte es die 
schnellhinwandelnde Königstochter Inve, daß sie, anfahrend
ihren Steig, ihrem wenig geschlechtlichen Erzieher Perku
und seiner aus noch weniger Geschlechtlichen gebildeten
Gesellschaft die restlichen Geschlechtsteile abfuhr und
alle tötete.</p>

<p>
Nicht mehr war sie bedacht darauf, in allen 
Zeiteinheiten gleichmäßig einherzuschweben; die 
wohlwandelnde Königstochter Inve, die früher und bis zu 
wohlriechenden Nitimurs Flucht zwar eingedrillterweise von
Nuancen des Errötens, aber wenig von Liebe gewußt
hatte, sie bewegte sich mit höchst ungleichförmiger 
Geschwindigkeit, und ihre Seele ergab sich wildem Weinen
silberner Tränen. Pimus sogar, ihr wohlschlafender
Vater, er hörte es, und ohne seinen ewigtanzenden
Gott extra zu behelligen, griff er sofort zu dem in
solchen Fällen höchst angezeigten und probaten Mittel:
er zeigte seiner wohlwandelnden Tochter ihre 
Verlobung mit dem immer schlafenden Kaiser von Gata
an. In ihrem tiefen Grame hörte sie es nicht, wie es
der wohlschlafende König schlau geträumt oder 
berechnet haben mochte. Inve, mit Unrecht wahrlich eine
wohlwandelnde Königstochter genannt oder etikettiert,
fuhr immerzu fort mit ihren unsteten, ungleichförmigen
Bewegungen, ihrer Seele Weinen überzog ihre Wangen
mit Silberamalgam, machte sie fast konvex, und schon
glaubten alle Ärzte und Urinoskospen dieses unseres
Königreiches Titumsem, die weiland wohlwandelnde
Königstochter Inve würde, ach, für immer der 
Stetigkeit und Gesetzmäßigkeit ihrer Bewegungen beraubt
sein ...</p>

<p>
Eines gemeinen Tages aber, da der wohlriechende
Künstler Nitimur auf der Grashalde lag und in Träumen
noch sechs große fahrende Stockwerke für die 
ochsenartigen Bewohner des Meeres von Gewöhnlichkeit 
ersann, schreckte ein schreckliches Getöse und Geflimmer
ihn aus seinen Fieberträumen. Die Bürgerlein hatten
nämlich von dem frohen Fest im allerhöchsten 
Herrscherhause gehört und feierten es, jeder nach seiner Art,
der eine mit verschiedenfarbigen Fetzen, Liedern von
gefälligen Matratzenkünstlern, der andere mit 
Lichtgestank oder Böller- und Kartaunenblähungen. Jäh
fuhr der wohlriechende Künstler Nitimur auf, als er
den Grund der verschiedenfarbigen Fetzen, der 
Hurralieder, des Lichtgestankes und der bürgerhaften 
Schießerei erfuhr. Wo waren da die sechs großen fahrenden
Stockwerke für die gleichförmigen Bewohner des Meeres
solcher Gewöhnlichkeit?!</p>

<p>
Jetzt aber möchte ich meine dem Glauben an das Walten
einer sittlichen Welthausordnung herzhaft zugeneigten
Zuhörer ersucht haben, mir ihren Beifall fühlbar zu
machen und sich zu entfernen.
</p>

<p>
Denn mit einem Satze über die Grashalde hinaus
und die Straße der wohlriechenden Künstler, hinaus
über den Kotsee und den Gletscher der anscheinenden
Glückseligkeit: Nitimur war oben beim Steige der
nicht immer wohlwandelnden Königstochter, und ehe
noch der wohlschlafende König von Titumsem und
der immerschlafende Kaiser von Gata Zeit gefunden,
erwachen zu wollen, hatten sich Nitimur und Inve 
gefunden, in hoher Pracht gefunden. Jetzt aber möchte
ich auch meine dem Glauben an das Walten einer
urunsittlichen Welthausordnung herzhaft geneigten 
Zuhörer ersucht haben, mir ihren Beifall fühlbar zu machen
und sich allbereits zu entfernen! ...</p>

<p>
Vielleicht, um nicht tiefe Lust zur Gewohnheitsqual
zu verherben, zu verderben; wer es fassen kann, der
fasse es: mit einem Satz über den Wasserberg hinaus
und den Schwindelpfad der wohlschlafenden Könige,
hinaus über den Sonnenberg und das Seil des im
Fluge herabgestoßenen wohltanzenden Gottes Kwene,
der noch im Falle tanzte und seinen Bart nervös 
zwirbelte — waren, war Nitimur-Inve geflohen, geflohen
in das Reich des ewig seienden, einzig seienden Todes.
</p>

</div>
</body>
</html>