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  <title>Frühes Leid</title>
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<div class="prose">

  <h3 class="center">FRÜHES LEID</h3>

<p>
<span class="initial">I</span>CH war kein Tierfreund, eher vielleicht ein 
tyrannischer Beobachter der Tiere. Seit jeher reizte es
mich, diesen schwachen Wesen zuzusehen, 
mitzuspielen, Herrschaft über sie auszuüben, da ich die
Menschen nicht knechten konnte. Ich ging ja in die
Schule, war Sklave von Rohrstäben, Katalogen, 
Klassenbüchern und Zensurzetteln. Und daheim saßen 
grausame Zieheltern, die meine Abneigung gegen das
Leben nährten, indem sie mich stets zum Essen zwangen,
zur Strafe mit den widerwärtigsten Speisen traktierten,
wenn ich den grammatikalischen Kram nicht 
wissenswert fand. Die Existenz von Schulbüchern war doch
eine Gnade meinerseits? Nein! Man begnügte sich 
unbescheidenerweise nicht damit, daß ich das 
Vorhandensein derartiger Materialien hypothetisch annahm,
gelten ließ, ich sollte sie empfangen, die Bücher sollten
in mich übergehen und ich Buch werden. Paßte mir
diese Besessenheit nicht, reagierte ich auf solche 
Vernichtung meines Ichs sauer oder, was meist geschah:
ließ ich mich auf derlei Provokationen überhaupt nicht
ein, sah man in meinem Vorgehen alles eher denn
Selbstbewahrung. Meine früh erwachte Aversion 
dagegen, Gedichte anderer Schriftsteller auswendig zu
lernen: von mathematischen Formeln koitiert zu 
werden, diese eminent männliche Eigenschaft hieß auf 
einmal Faulheit und man entleerte über mich ein 
Füllhorn von Strafen.</p>

<p>
Ich besaß eine kleine Kaninchenzucht. Gab ich mich
mit Hühnern und Tauben ab, fesselten den Zarten,
der für seine Person Raufereien scheute und mied, die
schonungslosen Kämpfe zwischen rivalisierenden Hähnen
oder Taubern. Blutliebe war es, Freude an diesen ebenso
formstrengen als gefühlsheißen Duellen, die erbittert und
unerbittlich bis zur Entscheidung ausgetragen wurden. Bei
meiner Zucht, bei meinem Kult von übrigens 
unfreiwilligen Mitgliedern der Friedensgesellschaft, den 
geduldbehauchten Kaninchen gegenüber hatte ich lautere
Motive. Ich ergötzte mich an rein vegetativen 
Prozessen, freute mich, wie die jungen Tierchen 
schnupperten und dann mit langen Froschsprüngen 
herbeieilten, mir die Kohlblätter aus der Hand zu fressen.
Aber Kohl — der kostete Geld, ein paar Heller 
täglich, und Futter, Wartung fraß Zeit, die ich nach
Ansicht meiner Pflegeeltern besser an das Studium
gewendet hätte. Ihr ewiges: »Hugo, lerne!« scholl
an mir vorbei, ich betrachtete die unregelmäßigen
Zeitwörter als Verbalinjurien und wußte mir etwas
Besseres als Verben reiten, konjugieren: Kaninchen.
Die waren mein Trost, halfen mir mit ihren Farben
und Bewegungen über schlechten Ausfall der 
Schularbeiten und Mittagmahle hinweg. Bekam ich zu 
Weihnachten eine üble Zensur und wurde demgemäß statt
jedes anderen Geschenkes strafweise täglich diejenige
Speise aufgeführt, die ich am stärksten haßte: 
Sauerkraut — und noch dazu in angebranntem Zustand —
flüchtete ich nach Tisch zu den Kaninchen. Und siehe
da! es gab Wesen, denen die Verabreichung dieses
Giftes, die Ausspeisung mit Krautblättern 
Glücksaugenblicke schuf, Wesen, die mir, dem göttergleichen
Spender, durch ihr zufrieden-geräuschvolles Mahl zu
einigem Selbstgefühle verhalfen und nicht genug daran:
sozusagen durch die Vernichtung eines Teiles des 
Sauerkrautbestandes der Welt mir dankbar einen großen
Dienst erwiesen.</p>

<p>
Es kam eine Zeit, wo ich mein Reich nicht 
verteidigen konnte, und die Bazillen drangen ein. Mit den
Bazillen meine ich nicht etwa die Erreger der 
Windpocken. Die machten sich nicht so breit, mit denen
wurde ich leicht fertig, und wenn ich dennoch mich
schwach zu fühlen vorgab, nicht aufstehen wollte, so
lag das in mir: ich hatte wenig Lust, ins äußere
Leben zurückzukehren, in die Schule, diesen Garten
voll bitterer Kräuter, die — o bodenlose Verruchtheit
— obendrein botanisch-lateinische Namen trugen! Das
Kranksein bedeutete für mich sorgsame Pflege, Ruhe
und Waffenstillstand, und ich kann sagen, ich machte
häufig von Halsentzündungen Gebrauch. Wenn das
Fieber geschwunden war, sagte man wohl: »Liegend
lesen schadet den Augen,« aber ich durfte eine Weile
Lektüre treiben, was mir sonst — schlechter Zeugnisse
halber — verwehrt war. Der Arzt ließ mich gerne
liegen, er verordnete sogar zur Behebung der 
allgemeinen Schwäche kräftigende und wohlschmeckend von
mir bejahte Gerichte, vor allem Weißfleisch. Doch für
die Wirtschaft, für das Staubabwischen und Aufräumen
bedeutete mein Kränkelnwollen, mein 
Zärtlichkeitsbedürfnis Hemmung und Überarbeit. Weißfleisch? Wozu
Hühner kaufen, wenn herrliche Kaninchen im Hause
waren, Kaninchen überdies, die, wenn man sie dem
eigensinnigen Knaben ins Bett geben mußte, sich 
unsauber betrugen. Sonst zwar wurden Kaninchen nicht
gegessen, aus Ekel ... aber ein wehrlos in der 
Genesung begriffenes Kind aus der Geborgenheit, aus
dem sicheren Bett zu scheuchen, dazu war kein Mittel
schlecht genug. Thyestes nährte sich vom Fleisch der
eigenen Kinder. Atreus hat ihn damit brüderlich 
bewirtet. Das ist noch gar nichts. Denn Thyest war
ahnungslos, wußte nicht, wovon er zehrte, wußte nicht,
was er wieder zu sich nahm. Auch ich mußte die 
Geschöpfe essen, die mir die liebsten waren. Aber ich
fühlte, was ich hinabzuwürgen gezwungen wurde. Ich
verschluchzte mein Herz. Anfangs sagte man, auf das
Kaninchenfleisch weisend: »Backhuhn!« Als sich jedoch
mein tiefes Wissen um diese Welt durch das Gerede
nicht übertäuben ließ, hieß es, ich solle nicht so kindisch
sein. Kindisch? Leichtsinnig hatte ich die Kaninchen 
preisgegeben, verraten! Während es mir beliebte, krank zu
sein, wurden sie wenig gefüttert, gemordet. Da gab
ich die Krankheit hin, stand auf, um die 
übriggebliebenen Kaninchen vor meinen Zieheltern, vor den 
Bazillen, vor dem Tode zu schützen. So rief mich das
Leben. »Hugo, lerne!«</p>

</div>
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