diff options
author | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2021-08-29 12:19:26 +0000 |
---|---|---|
committer | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2021-08-29 12:19:26 +0000 |
commit | d230e7f8df0ffaa64ea6dc3472b34488d59902e3 (patch) | |
tree | 8e9594068385500ae1e524bcc0f0a80635eb6518 /OEBPS/Text/08-fruehes-leid.xhtml | |
download | albert-ehrenstein-nicht-da-nicht-dort-d230e7f8df0ffaa64ea6dc3472b34488d59902e3.tar.gz albert-ehrenstein-nicht-da-nicht-dort-d230e7f8df0ffaa64ea6dc3472b34488d59902e3.tar.bz2 albert-ehrenstein-nicht-da-nicht-dort-d230e7f8df0ffaa64ea6dc3472b34488d59902e3.zip |
erste Version
Diffstat (limited to 'OEBPS/Text/08-fruehes-leid.xhtml')
-rw-r--r-- | OEBPS/Text/08-fruehes-leid.xhtml | 136 |
1 files changed, 136 insertions, 0 deletions
diff --git a/OEBPS/Text/08-fruehes-leid.xhtml b/OEBPS/Text/08-fruehes-leid.xhtml new file mode 100644 index 0000000..aec6b81 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/08-fruehes-leid.xhtml @@ -0,0 +1,136 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8"?> +<!DOCTYPE html> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Frühes Leid</title> +</head> +<body> + +<div class="prose"> + + <h3 class="center">FRÜHES LEID</h3> + +<p> +<span class="initial">I</span>CH war kein Tierfreund, eher vielleicht ein +tyrannischer Beobachter der Tiere. Seit jeher reizte es +mich, diesen schwachen Wesen zuzusehen, +mitzuspielen, Herrschaft über sie auszuüben, da ich die +Menschen nicht knechten konnte. Ich ging ja in die +Schule, war Sklave von Rohrstäben, Katalogen, +Klassenbüchern und Zensurzetteln. Und daheim saßen +grausame Zieheltern, die meine Abneigung gegen das +Leben nährten, indem sie mich stets zum Essen zwangen, +zur Strafe mit den widerwärtigsten Speisen traktierten, +wenn ich den grammatikalischen Kram nicht +wissenswert fand. Die Existenz von Schulbüchern war doch +eine Gnade meinerseits? Nein! Man begnügte sich +unbescheidenerweise nicht damit, daß ich das +Vorhandensein derartiger Materialien hypothetisch annahm, +gelten ließ, ich sollte sie empfangen, die Bücher sollten +in mich übergehen und ich Buch werden. Paßte mir +diese Besessenheit nicht, reagierte ich auf solche +Vernichtung meines Ichs sauer oder, was meist geschah: +ließ ich mich auf derlei Provokationen überhaupt nicht +ein, sah man in meinem Vorgehen alles eher denn +Selbstbewahrung. Meine früh erwachte Aversion +dagegen, Gedichte anderer Schriftsteller auswendig zu +lernen: von mathematischen Formeln koitiert zu +werden, diese eminent männliche Eigenschaft hieß auf +einmal Faulheit und man entleerte über mich ein +Füllhorn von Strafen.</p> + +<p> +Ich besaß eine kleine Kaninchenzucht. Gab ich mich +mit Hühnern und Tauben ab, fesselten den Zarten, +der für seine Person Raufereien scheute und mied, die +schonungslosen Kämpfe zwischen rivalisierenden Hähnen +oder Taubern. Blutliebe war es, Freude an diesen ebenso +formstrengen als gefühlsheißen Duellen, die erbittert und +unerbittlich bis zur Entscheidung ausgetragen wurden. Bei +meiner Zucht, bei meinem Kult von übrigens +unfreiwilligen Mitgliedern der Friedensgesellschaft, den +geduldbehauchten Kaninchen gegenüber hatte ich lautere +Motive. Ich ergötzte mich an rein vegetativen +Prozessen, freute mich, wie die jungen Tierchen +schnupperten und dann mit langen Froschsprüngen +herbeieilten, mir die Kohlblätter aus der Hand zu fressen. +Aber Kohl — der kostete Geld, ein paar Heller +täglich, und Futter, Wartung fraß Zeit, die ich nach +Ansicht meiner Pflegeeltern besser an das Studium +gewendet hätte. Ihr ewiges: »Hugo, lerne!« scholl +an mir vorbei, ich betrachtete die unregelmäßigen +Zeitwörter als Verbalinjurien und wußte mir etwas +Besseres als Verben reiten, konjugieren: Kaninchen. +Die waren mein Trost, halfen mir mit ihren Farben +und Bewegungen über schlechten Ausfall der +Schularbeiten und Mittagmahle hinweg. Bekam ich zu +Weihnachten eine üble Zensur und wurde demgemäß statt +jedes anderen Geschenkes strafweise täglich diejenige +Speise aufgeführt, die ich am stärksten haßte: +Sauerkraut — und noch dazu in angebranntem Zustand — +flüchtete ich nach Tisch zu den Kaninchen. Und siehe +da! es gab Wesen, denen die Verabreichung dieses +Giftes, die Ausspeisung mit Krautblättern +Glücksaugenblicke schuf, Wesen, die mir, dem göttergleichen +Spender, durch ihr zufrieden-geräuschvolles Mahl zu +einigem Selbstgefühle verhalfen und nicht genug daran: +sozusagen durch die Vernichtung eines Teiles des +Sauerkrautbestandes der Welt mir dankbar einen großen +Dienst erwiesen.</p> + +<p> +Es kam eine Zeit, wo ich mein Reich nicht +verteidigen konnte, und die Bazillen drangen ein. Mit den +Bazillen meine ich nicht etwa die Erreger der +Windpocken. Die machten sich nicht so breit, mit denen +wurde ich leicht fertig, und wenn ich dennoch mich +schwach zu fühlen vorgab, nicht aufstehen wollte, so +lag das in mir: ich hatte wenig Lust, ins äußere +Leben zurückzukehren, in die Schule, diesen Garten +voll bitterer Kräuter, die — o bodenlose Verruchtheit +— obendrein botanisch-lateinische Namen trugen! Das +Kranksein bedeutete für mich sorgsame Pflege, Ruhe +und Waffenstillstand, und ich kann sagen, ich machte +häufig von Halsentzündungen Gebrauch. Wenn das +Fieber geschwunden war, sagte man wohl: »Liegend +lesen schadet den Augen,« aber ich durfte eine Weile +Lektüre treiben, was mir sonst — schlechter Zeugnisse +halber — verwehrt war. Der Arzt ließ mich gerne +liegen, er verordnete sogar zur Behebung der +allgemeinen Schwäche kräftigende und wohlschmeckend von +mir bejahte Gerichte, vor allem Weißfleisch. Doch für +die Wirtschaft, für das Staubabwischen und Aufräumen +bedeutete mein Kränkelnwollen, mein +Zärtlichkeitsbedürfnis Hemmung und Überarbeit. Weißfleisch? Wozu +Hühner kaufen, wenn herrliche Kaninchen im Hause +waren, Kaninchen überdies, die, wenn man sie dem +eigensinnigen Knaben ins Bett geben mußte, sich +unsauber betrugen. Sonst zwar wurden Kaninchen nicht +gegessen, aus Ekel ... aber ein wehrlos in der +Genesung begriffenes Kind aus der Geborgenheit, aus +dem sicheren Bett zu scheuchen, dazu war kein Mittel +schlecht genug. Thyestes nährte sich vom Fleisch der +eigenen Kinder. Atreus hat ihn damit brüderlich +bewirtet. Das ist noch gar nichts. Denn Thyest war +ahnungslos, wußte nicht, wovon er zehrte, wußte nicht, +was er wieder zu sich nahm. Auch ich mußte die +Geschöpfe essen, die mir die liebsten waren. Aber ich +fühlte, was ich hinabzuwürgen gezwungen wurde. Ich +verschluchzte mein Herz. Anfangs sagte man, auf das +Kaninchenfleisch weisend: »Backhuhn!« Als sich jedoch +mein tiefes Wissen um diese Welt durch das Gerede +nicht übertäuben ließ, hieß es, ich solle nicht so kindisch +sein. Kindisch? Leichtsinnig hatte ich die Kaninchen +preisgegeben, verraten! Während es mir beliebte, krank zu +sein, wurden sie wenig gefüttert, gemordet. Da gab +ich die Krankheit hin, stand auf, um die +übriggebliebenen Kaninchen vor meinen Zieheltern, vor den +Bazillen, vor dem Tode zu schützen. So rief mich das +Leben. »Hugo, lerne!«</p> + +</div> +</body> +</html> |