diff options
author | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2022-09-09 22:46:23 +0200 |
---|---|---|
committer | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2022-09-09 22:46:23 +0200 |
commit | eaf31909c6b133e23cb7ed2f71fb55d37ef87372 (patch) | |
tree | 8311afd3b576b8781d40c45edd84591dfcea3f66 /OEBPS/Text/02-geschichten/06-gespraech-ueber-beine.xhtml | |
download | alfred-lichtenstein-gedichte-und-geschichten-zweiter-band-1.0.tar.gz alfred-lichtenstein-gedichte-und-geschichten-zweiter-band-1.0.tar.bz2 alfred-lichtenstein-gedichte-und-geschichten-zweiter-band-1.0.zip |
Repository mit erster Versionv1.0
Diffstat (limited to 'OEBPS/Text/02-geschichten/06-gespraech-ueber-beine.xhtml')
-rw-r--r-- | OEBPS/Text/02-geschichten/06-gespraech-ueber-beine.xhtml | 109 |
1 files changed, 109 insertions, 0 deletions
diff --git a/OEBPS/Text/02-geschichten/06-gespraech-ueber-beine.xhtml b/OEBPS/Text/02-geschichten/06-gespraech-ueber-beine.xhtml new file mode 100644 index 0000000..0516242 --- /dev/null +++ b/OEBPS/Text/02-geschichten/06-gespraech-ueber-beine.xhtml @@ -0,0 +1,109 @@ +<?xml version="1.0" encoding="utf-8"?> +<!DOCTYPE html> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> +<head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" /> + <link href="../../Styles/style.css" rel="stylesheet" type="text/css" /> + <title>Gespräch über Beine</title> +</head> +<body> + +<div class="prose"> + + <h3 class="center">Gespräch über Beine</h3> + + <h4 class="center">I</h4> + +<p> +Als ich im Coupé saß, sagte der Herr gegenüber:<br /> +»Ihnen kann man die Beine nicht abtreten.«<br /> +Ich sagte: »Wieso?«<br /> +Der Herr sagte: »Sie haben keine Beine.«<br /> +Ich sagte: »Merkt man das?«<br /> +Der Herr sagte: »Natürlich.«<br /> +Ich nahm meine Beine aus dem Rucksack. Ich hatte sie in +Seidenpapier eingewickelt. Und als Andenken mitgenommen.<br /> +Der Herr sagte: »Was ist das?«<br /> +Ich sagte: »Meine Beine.«<br /> +Der Herr sagte: »Sie nehmen die Beine in die Hand und kommen +dennoch nicht weiter.«<br /> +Ich sagte: »Leider.«<br /> +Nach einer Pause sagte der Herr: »Was gedenken Sie ohne +Beine eigentlich zu tun?«<br /> +Ich sagte: »Darüber habe ich mir den Kopf noch nicht +zerbrochen.«<br /> +Der Herr sagte: »Ohne Beine können Sie nicht einmal ohne +Schwierigkeit Selbstmord begehen.«<br /> +Ich sagte: »Das ist aber ein fauler Witz.«<br /> +Der Herr sagte: »Nicht doch. Wenn Sie sich erhängen wollen, +müßte Sie einer erst auf das Fensterbrett heben. Und wer +wird Ihnen den Gashahn öffnen, wenn Sie sich vergiften +wollen? Den Revolver könnten Sie sich nur heimlich durch +einen Dienstmann besorgen lassen. Wie aber, wenn Ihnen der +Schuß davonläuft? Um sich zu ertränken, müßten Sie ein Auto +nehmen und sich auf einer Tragbahre von zwei Pflegern in den +Fluß schleppen lassen, der Sie an das jenseitige Ufer +befördern soll.«<br /> +Ich sagte: »Das ist doch wohl meine Sorge.«<br /> +Der Herr sagte: »Sie irren, ich überlege, seitdem Sie da +sind, wie man Sie aus dieser Welt schaffen könnte. Meinen +Sie, ein Mensch ohne Beine sei ein sympathischer Anblick? +Habe auch Existenzberechtigung? Im Gegenteil, Sie stören das +ästhetische Gefühl Ihrer Mitmenschen erheblich.«<br /> +Ich sagte: »Ich bin ordentlicher Professor für Ethik und +Ästhetik an der Universität. Darf ich mich vorstellen?«<br /> +Der Herr sagte: »Wie wollen Sie das machen? Sie können sich +selbstverständlich nicht vorstellen, wie unmöglich Sie +sind.«<br /> +Ich betrachtete melancholisch meine Stummel. +</p> + +<h4 class="center">II</h4> + +<p> +Alsbald sagte die Dame gegenüber:<br /> +»Keine Beine haben muß ein komisches Gefühl sein.«<br /> +Ich sagte: »Ja.«<br /> +Die Dame sagte: »Ich möchte einen Mann, der keine Beine hat, +nicht anfassen.«<br /> +Ich sagte: »Ich bin sehr sauber.«<br /> +Die Dame sagte: »Ich muß einen großen erotischen Abscheu +überwinden, um mit Ihnen zu reden, geschweige denn Sie +anzusehen.«<br /> +Ich sagte: »Nanu.«<br /> +Die Dame sagte: »Ich glaube nicht, daß Sie ein Verbrecher +sind. Sie mögen ein kluger und ursprünglich liebenswerter +Mensch sein. Aber ich könnte mit Ihnen wegen der Ihnen +fehlenden Beine beim besten Willen nicht verkehren.«<br /> +Ich sagte: »Man gewöhnt sich an alles.«<br /> +Die Dame sagte: »Daß einer keine Beine hat, verursacht bei +dem natürlich empfindenden Weibe ein unerklärliches Gefühl +tiefsten Grauens. Als ob Sie eine ekelhafte Sünde begangen +hätten.«<br /> +Ich sagte: »Ich bin aber unschuldig. Das eine Bein kam mir +in der Aufregung abhanden, als ich zum ersten Mal meinen +Professorenstuhl einnahm, das zweite habe ich verloren, als +ich, in Gedanken versunken, jenes wichtige ästhetische +Gesetz fand, das zu grundlegenden Änderungen in unserer +Disziplin führte.«<br /> +Die Dame sagte: »Wie heißt dieses Gesetz?«<br /> +Ich sagte: »Das Gesetz heißt: Es kommt nur auf die Struktur +der Seele und des Geistes an. Wenn Seele und Geist edel ist, +muß man einen Körper schön finden, mag er äußerlich noch so +bucklig und entstellt sein.«<br /> +Die Dame hob ostentativ ihr Kleid und zeigte dadurch bis an +den oberen Rand der Oberschenkel wunderschöne, in allerhand +Seide gehüllte, Beine, die wie blühende Zweige aus dem +saftigen Leibe ragten.<br /> +Unterdessen sagte die Dame endgültig: »Sie mögen recht +haben, obwohl man ebensogut das Gegenteil behaupten könnte. +Jedenfalls ist ein Mensch mit Beinen etwas erheblich anderes +als einer ohne.«<br /> +Damit ließ sie mich sitzen, stolz davonschreitend. +</p> + +</div> + +</body> +</html> |