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committerPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2022-09-09 22:46:23 +0200
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+
+<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml">
+<head>
+ <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html; charset=utf-8" />
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+ <title>Ein Kapitel aus einem fragmentarischen Roman</title>
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+<body>
+
+<div class="prose">
+
+ <h3 class="center">Ein Kapitel aus einem fragmentarischen Roman</h3>
+
+<p>
+Der Doktor Bryller ist schließlich doch Oberlehrer geworden.
+Einer, ein wütender Feind, hatte ihm schon vor Jahren in der
+veralteten Zeitschrift: »Das andere A« solch Schicksal
+prophezeit. Damals war er zu Tode traurig über die
+Erkenntnis des Feindes, deren Wahrhaftigkeit er nach
+heftigem Nachdenken nicht leugnen konnte. Er schrieb einen
+maßlosen Artikel, der nirgends angenommen wurde. Und eines
+Abends betrank er sich ein wenig mit französischem Sekt, um
+die angeborene Angst umzubringen, die ihn hinderte, den
+Feind zu verhauen. Aber seine Feigheit verließ ihn auch in
+der Trunkenheit nicht. Da gab er, unsagbar unglücklich, auf,
+sich zu rächen.
+</p>
+
+<p>
+Er begann offiziell, einsam und verklärt zu leben. Er teilte
+dies mit; agitatorisch wie er oft das Programm einer neuen
+Kunstrichtung verkündet hatte. Und mit einer innersten
+Feierlichkeit wie bei einem bedeutenden Begräbnis. Noch
+seine Niederlage nutzte er aus, sich überlegen zu fühlen. Im
+Grunde lebte er kaum anders als bisher. Nur daß er
+tatsächlich seelisch trostloser geworden war. Jetzt mußte er
+sich so beruhigen: Selbst wenn ich erreichen könnte, was ich
+erreichen wollte, würde ich nichts erreichen. Während er
+vordem so gedacht hatte: Zwar ist leider richtig, daß ich
+nichts erreichen kann, aber was ich erreichen kann, ist
+ziemlich schön.
+</p>
+
+<p>
+Praktisch, wie Berthold Bryller in gewissen Beziehungen war,
+wußte er seine Schwächen allgemein menschlich aufzufassen,
+so daß die Verzweiflung, die sich anfangs in hysterischen
+Anfällen besonderer Art offenbart hatte, bald – bis auf
+seltene Zustände – dem Gefühl einer erhabenen
+Gleichgültigkeit wich. Nach wie vor schrieb er seine frechen
+und unvorsichtigen Briefe, die ihm viel schadeten,
+veröffentlichte er besonders kluge, etwas wahnsinnige
+Aufsätze in den wenigen Blättern, mit deren Herausgebern er
+zufällig nicht verfeindet war, gründete er Clubs, die ihn
+ausstießen, Zeitschriften, in denen er bekämpft wurde. Nach
+wie vor machte er sich auch sonst durch seine Beteiligung
+überall unmöglich. Uneingeweihte würden allerdings den
+Umstand, daß er nicht mehr in dem Café Klößchen zu sehen
+war, als ein Zeichen seiner innerlichen Verwandlung bemerken
+können, wenn nicht ein an der Tür des Cafés befestigtes
+Plakat:
+</p>
+
+<p class="center">
+BRYLLERN IST DER EINTRITT VERBOTEN!
+</p>
+
+<p>
+veranlaßt hätte, einen Streit mit dem Wirt als Ursache
+seines Fernbleibens anzunehmen.
+</p>
+
+<p>
+Aber allmählich wurde dem Doktor Bryller, der doch kein
+Trottel war, das hoffnungslose literarische Dasein
+unausstehlich. Hinzu kam, daß seine Geldmittel in absehbarer
+Zeit erschöpft waren. Er mußte also, unfähig sich
+gegebenenfalls zu töten, bedacht sein, durch Arbeit seinen
+Lebensunterhalt zu beschaffen. Die schriftstellerische
+Tätigkeit war pekuniär ungefähr erfolglos. In eine feste
+literarische Stellung zu treten – etwa als Redakteur –,
+würde er nicht über das Herz gebracht haben, abgesehen
+davon, daß ihn niemand genommen hätte. Was blieb ihm, als
+mit dem Rest seines Kapitals die unterbrochenen
+Universitätsstudien fortzusetzen, die notwendigen
+Staatsexamina zu machen, sich als Oberlehrer eine
+gesicherte, ganz angenehme Position zu schaffen. Übrigens
+war ihm dieser Beruf durchaus bequem. Überzeugt von der
+unverbesserlichen menschlichen Fehlerhaftigkeit, die er an
+dem eigenen Leibe erfahren hatte, durchdrungen von der
+vollständigen Zwecklosigkeit körperlichen und geistigen
+Strebens, ließ er gern jeglichen Trieben ungehemmten Lauf.
+Seinen Herrschergelüsten, seinem sonstigen Ehrgeiz, sogar
+seinen erotischen Bedürfnissen konnte er als Oberlehrer am
+ehesten Genüge tun.
+</p>
+
+<p>
+Der Doktor Bryller war trotz seiner Launenhaftigkeit und
+häufigen Sonderbarkeiten einer der beliebtesten Lehrer des
+Grauen Gymnasiums. Die kleinen Zöglinge vergötterten ihn,
+die größeren hingen ihm leidenschaftlich an. Natürlich gab
+es auch Schüler, die ihn nicht mochten. Zum Beispiel der
+Quintaner Max Mechenmal, den er einige Male ohne
+auffallenden Grund geohrfeigt hatte. Das hätte für Doktor
+Berthold Bryller beinahe unangenehmste Folgen gehabt.
+Gelegentlich der auf die entrüstete Beschwerde des
+Quintaners von dem Direktor Rudolph Richter einberufenen
+Lehrerkonferenz zeigte sich, daß die große Mehrzahl der
+Kollegen im Gegensatz zu den Schülern dem Doktor keineswegs
+freundlich gesinnt war. Als er auf die Frage, warum er
+geschlagen habe, lächelnd erwiderte, weil ihm Mechenmal
+mißfalle, wollte man, dem Vorschlag des angesehenen Kollegen
+Lothar Laaks folgend, der vorgesetzten Behörde empfehlen,
+ihn für längere Zeit zwecks geistiger Erholung in ein
+Sanatorium zu entfernen. Nur der Zufall, daß der gekränkte
+Quintaner Mechenmal ein bei Lehrern und Schülern in gleichem
+Maße verhaßtes Individuum war: wegen seiner
+katzenfreundlichen Verlegenheit und heimlich aufhetzenden
+Bosheit, hinderte einen solchen Entschluß. Obwohl der
+Kollege Laaks – der einzige, der für Mechenmal Worte der
+Anerkennung fand – unter Aufwand vieler schmutziger
+Dialektik feurig dafür eintrat. Man begnügte sich, den Herrn
+Doktor Bryller auf das Ungehörige seiner Handlungsweise
+drohend aufmerksam zu machen.
+</p>
+
+<p class="center"><span class="vsuper">*</span>&#160;&#160;&#160;<span class="vsub">*</span>&#160;&#160;&#160;<span class="vsuper">*</span></p>
+
+<p>
+Etwa ein halbes Jahr vor der endgültigen lebenslänglichen
+Verwahrung Berthold Bryllers in einem staatlich
+subventionierten Irrenheim war ein Geschrei auf dem Hof des
+Grauen Gymnasiums. Ein Haufen zumeist kleinerer Schüler
+wälzte sich hinter einem zwergenhaften, vergrämten, schiefen
+Jungen, dessen Rücken die zarten Anfänge einer
+Buckelkrümmung aufwies. Man rief ihm vergnügt und gehässig –
+in dem Lärm unverständliche – sicherlich bösartige Neckworte
+zu. Er wurde gestoßen, so daß er stolperte. Viele ältere
+Gymnasiasten sahen das muntere Treiben belustigt an. Auch
+der Oberlehrer Laaks, der die Aufsicht führte, unterdrückte
+nicht ein vergnügtes Schmunzeln. In einem Fenster war das
+regungslose Gesicht des Doktor Bryller.
+</p>
+
+<p>
+Der schiefe Junge ging, ohne sich zu wehren. Gebückten
+Kopfes. Oft mußte er mit der Hand über die Augen wischen.
+Nur einmal, als einer der Übermütigsten – natürlich der
+Quintaner Mechenmal – ihm unter johlendem Beifall der
+anderen in das Gesicht spie, warf er sich tief aufweinend
+gegen den Angreifer; der lief sofort davon. Mitten durch den
+Haufen, der ihm jubelnd überall den Weg verstellte,
+verfolgte der weinende Bucklige den Kameraden. Er würde den
+Mechenmal vielleicht auch erreicht haben, wenn nicht der
+langjährige Untertertianer Spinoza Spaß ihn plötzlich an dem
+Buckel wie an einem Haken festgehalten hätte. Spinoza Spaß
+grinste gemütlich und boshaft das affenförmige, sehnsüchtig
+phlegmatische Gesicht entlang, als er den kleinen
+verzweifelten Kohn wie ein Gewicht langsam durch die sonnige
+Frühlingsluft bewegte. Er ist durch diese Heldentat einer
+der berühmtesten Untertertianer des Grauen Gymnasiums
+geworden.
+</p>
+
+<p>
+Vorzeitig machten dem sonderbaren Schauspiel einige
+mitleidige größere Gymnasiasten ein Ende. Der hagere,
+bleiche Primaner Paulus entriß den winzigen unglückseligen
+Menschen dem giftig dreinblickenden Spaß und bedrohte jeden
+mit Schlägen, der den schiefen kleinen Kohn weiterhin
+belästige. Aus Furcht vor Paulus und einigen Gleichgesinnten
+ließ man auch – wenigstens vorläufig – den glühenden
+Buckligen in Ruh. Der drückte sich die grauen Mauern
+entlang. Und wäre am liebsten versunken. Froh war er, als
+die Schulglocke das Zeichen gab, in die Klassenstuben zu
+verschwinden.
+</p>
+
+<p>
+Der Primaner Peter Paulus war schon auf dem etwas finsteren
+Gange zu dem geräumigen Zimmer, in welchem der Pastor
+Leopold Lehmann den Schülern der oberen Klassen hebräischen
+Unterricht zu erteilen pflegte, als der Oberlehrer Laaks ihn
+einholte, ihn anrief, ihn in ein geheimnisvolles, sehr
+aufgeregtes Gespräch zog. Laaks machte dem Paulus
+anscheinend Vorwürfe. Merkwürdig war aber, daß er nicht
+aussah wie ein Lehrer, der den Schüler zurechtweist, sondern
+etwa wie ein mißtrauischer Verwandter, der sich in einer
+Erbschaftsangelegenheit übervorteilt glaubt. Auch das
+Verhalten des Primaners war durchaus nicht das Verhalten
+eines Untergebenen...
+</p>
+
+<p>
+Die Unterredung der beiden mußte sich wohl sehr ausgedehnt
+haben. Denn als Peter Paulus noch bleicher als sonst eintrat
+und das zu späte Kommen mit einem dienstlichen Gespräch
+entschuldigte, hatte der Pastor Lehmann das eigentliche
+Pensum längst erledigt; war in einer religiösen Diskussion
+begriffen, die er in moderner Weise regelmäßig an den
+hebräischen Unterricht knüpfte. Man sprach gerade über Gott
+und studentisches Wesen, kam aber nach einigen unwichtigen
+Erörterungen zu dem Thema: Abtreibung und Seelenleben, bei
+dem man verharrte. Den Anlaß hatte eine Mitteilung in einem
+Artistenfachblatt gegeben, die einer sich ausgeschnitten und
+zwecks Auseinandersetzung mitgebracht hatte. Der Pastor las
+vor:
+</p>
+
+<p class="txtindent spaced">
+Zusammenbruch der berühmten Tänzerin Lola Lalà.
+</p>
+
+<p class="txtindent">
+Die rühmlichst bekannte Varietétänzerin Lola Lalà, die auch
+unter der Bezeichnung Lo Lálalà auftrat und deren
+Mädchenname Leni Levi ist, mußte, wie ein Korrespondent uns
+drahtet, in eine Irrenanstalt gebracht werden, was
+gewaltiges Aufsehen erregte. Man fand die Bedauernswerte in
+Adamskostüm splitternackt gegen Morgen auf einem Weizenfeld
+bitter weinend eine schwere Zigarre rauchend. Herr
+Gottschalk Schulz, ein zartfühlender Poet, hat in der
+»Zeitung für erhellte Bürger« darüber ein ergreifendes
+Gedicht veröffentlicht, das einen pikanten Reiz dadurch hat,
+daß – so munkelt man wohl nicht mit Unrecht – der Dichter zu
+der armen lieblichen Tänzerin recht herzliche Beziehungen
+unterhielt. Deshalb sei dies schöne Gedicht unseren Lesern
+nicht vorenthalten: – – –
+</p>
+
+<p>
+Das Gedicht hatte die Überschrift: Der Rauch auf dem Felde.
+Der Pastor las es aber nicht vor, weil es zu zotig sei. Auch
+nicht zur Sache gehöre. Dagegen las er:
+</p>
+
+<p class="txtindent">
+Wie ich aus besonderer, authentischer Quelle in später
+Abendstunde noch erfahre, soll die Ursache des seelischen
+Zusammenbruchs der Tänzerin ein nach glücklich erfolgter
+<span class="spaced">Abtreibung</span> durch einen Einbruch
+verursachter Schreck gewesen sein. Eine gerichtliche
+Untersuchung ist eingeleitet.
+</p>
+
+<p>
+Danach begann der Pastor eine Rede über die Abtreibung so:
+»Die Erkenntnis des Menschen gipfelt darin, daß er das am
+höchsten entwickelte Erdwesen sei. Das kann kein Mensch
+bestreiten.« Er bemerkte nicht das absichtlich übertrieben
+unterdrückte Lachen einiger. Und langsam fuhr er fort. Er
+verurteilte die Abtreibung als Gott ungefällig vom
+religiösen und sozialpolitischen Standpunkt aus. Zum
+Schlusse sagte er: »Wir sind modern. Wir scheuen uns nicht,
+anstößige Fragen mit sittlichem Ernst zu behandeln.« –
+</p>
+
+<p>
+Der einzige, der widersprach, war Peter Paulus. Er geriet –
+äußerlich ruhig – in solche Wut, daß er sagte: »Wenn ich
+Arzt wäre, Herr Pastor, würde ich selbst –« Da sagte erregt
+der Pastor: »Glauben Sie an Gott, Paulus?« Und Peter Paulus
+sagte nur: »Nein.« Er wurde einige Minuten vor Schluß der
+Lehrstunde wegen Sozialdemokratie und Gottlosigkeit von dem
+hebräischen Unterricht ausgeschlossen.
+</p>
+
+<p>
+Trotzig ging er hinaus. Warf die Tür.
+</p>
+
+<p class="center"><span class="vsuper">*</span>&#160;&#160;&#160;<span class="vsub">*</span>&#160;&#160;&#160;<span class="vsuper">*</span></p>
+
+<p>
+Als der verwitwete Gefängnisgeistliche Christian Kohn sein
+einziges herz- und geisteskrankes Kind in eine Anstalt geben
+mußte, adoptierte er – niemand weiß warum – einen kleinen
+Krüppel. Man schwatzte vielerlei. Am hartnäckigsten erhielt
+sich das Gerücht, der Krüppel Kuno sei ein natürlicher Sohn
+des Geistlichen. Die Mutter sei die populäre Totschlägerin
+Trude, die ihren abtrünnigen Zuhälter erschossen hatte.
+Trude war, weil sich herausstellte, daß sie trächtig war,
+unter jubelndem Beifall des ganzen Volkes begnadigt worden.
+Man behauptet, der mitleidige Geistliche habe Trudes
+Schwangerschaft bewirkt. Doch ist das nicht nachgewiesen.
+</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn verbrachte die erste halbwache Jugend in den
+trostlosen steinernen Räumen und Höfen des Zuchthauses. Der
+Adoptivvater kümmerte sich wenig um den Jungen. Wochenlang
+ließ er sich nicht sehen. Überlassen einer mürrischen
+Dienstperson, die in der Hauptsache die dürftige Wirtschaft
+des Geistlichen besorgte, ohne ausreichende Pflege, ohne
+Spielgenossen, ohne Anregung und Liebe konnte sich das
+krüpplige Kind nicht entwickeln. Blieb immer zwergenhaft.
+Blaß und verträumt schlich er einher. Verschüchtert und
+furchtsam. Gegen Abend wimmelte es auf den winkligen Treppen
+mit vergitterten Fenstern, in den großen düsteren Hallen und
+Gängen von verwegenen Schatten und schauerlichen Geräuschen.
+Ein Robusterer würde solche peripherischen Dinge nicht
+beachtet haben, wenn er sie überhaupt bemerkt hätte. Aber
+auf den Kuno Kohn drang das Geringste ein, das
+Nebensächlichste hatte Bedeutung, entsetzte ihn. Überall und
+von allem fürchtete er Unheil. Nichts war ihm vertraut. Die
+ewige Angst machte ihn selbst zu einem kleinen huschenden
+Gespenst und gab seinen schwindsüchtigen Augen
+phosphorisches Leuchten. Wenn er zu später Stunde
+weggeschickt wurde, etwa um Milch zu holen oder Petroleum,
+betete er in fiebriger Inbrunst zu dem lieben Gott. Atemlos
+und kalkig kam er wieder.
+</p>
+
+<p>
+Über alles fürchtete Kuno Kohn die tausendfältige Finsternis
+vor dem Einschlafen. Früher hatte man ihm eine winzige Lampe
+in das Zimmer gestellt, deren rötlicher melancholischer
+Schein ihn etwas beruhigte. Auf der weichen Wand tauchten
+sonderbarste Fratzen auf und Kämpfe, aber auch
+Zinnsoldatenmärsche und ergötzliches Durcheinander von Feen
+und Kuchenläden und Königinnen, bis ein Schlaf kam. Seit
+einiger Zeit wünschte der Geistliche solche Verweichlichung
+der Seele seines Sohnes nicht mehr. Kuno mußte in dem
+Dunkelen leben. Weg war das bißchen Sichtbarkeit. Das
+unzählige unfaßbare Geschehen des Chaos kugelte sich um den
+kleinen Menschen. Mehr Welt drängte sich in dem kurzen
+Nachtzimmer des Buckligen, als der ganze große Tag enthielt.
+Kuno Kohn hatte den Körper, der in dem Bett liegen sollte,
+verloren: war nur noch Schreck und Hilflosigkeit und
+Sehnsucht. Am schlimmsten war, wenn sich das wüste Ungefähr
+zu Erscheinungen oder Berührungen verdichtete. Dann schrie
+der Kohn verzweifelt auf. Entweder hörte man den Aufschrei
+nicht oder legte ihm keine Bedeutung bei. In Gefängnissen
+schreit es immer in der Nacht irgendwo. Kuno lag oft lange,
+bis das unergründliche Loch, das so viel unbegreiflichen
+Inhalt hatte, die lebhaften Bilder einließ, die Traum und
+Schlaf brachten: Einbrecher, oder vielleicht eine
+Droschkenfahrt in der Sonne, einen Besuch bei dem kleinen
+kranken Bruder, ein Spiel mit Straßenkindern, die lieben
+traurigen Engelaugen der Maria Müller, für die man sterben
+möchte.
+</p>
+
+<p>
+Des Kuno Kohn gute Bekannte waren die Gefangenen. Nicht die
+Wächter; die waren zwar recht freundlich zu ihm, aber ein
+instinktives Mißtrauen herrschte verborgen. Dagegen die
+Totschläger und Spieler, Lustmörder und Räuber, die
+berühmtesten Einbrecher und die Mehrzahl der sonstigen
+distinguierten Alteingesessenen begrüßten den kleinen
+Buckligen herzlich durch geringes Kopfnicken oder fast
+unmerkliches Grinsen, sooft er kam, der stummen grauen
+Arbeit mit aufgerissenen Träumeraugen zuzusehen. Nur die
+Hehler, Wucherer, Hochstapler, Defraudanten, Bauernfänger,
+die meisten Bankerotteure und manche Zuhälter blieben
+unerfreut. Besonders angefreundet hatte sich Kuno Kohn im
+Laufe der Jahre mit dem jugendlichen Einbrecher Benjamin.
+Die beiden saßen oft stundenlang zusammen. – Die Wächter
+drückten ein Auge zu... Benjamin erzählte dem Buckligen
+schwärmend. Von Sonne. Und Freiheit. Und der Erlösung der
+Menschen. Kuno Kohn vermittelte den geheimen Verkehr
+Benjamins mit der Außenwelt und erwies dem Freunde allerlei
+Gefälligkeiten, er verschaffte ihm Zigaretten, Bücher,
+kleine Werkzeuge. Als einmal in dem Käfig Benjamins ein Band
+Goethe und etwas Zigarettenasche gefunden wurde, hatte man
+Kohn in Verdacht. Nach dem kurz darauf erfolgten Ausbruch
+des Einbrechers, der nur mit fremder Hilfe geschehen sein
+konnte, machte man dem Geistlichen Mitteilung. Der verbot
+dem Sohn das Zusammensein mit den Eingesperrten. Die Wächter
+durften ihn nicht mehr einlassen.
+</p>
+
+<p>
+Die großen Probleme, die den Kuno Kohn, sobald er
+einigermaßen denken konnte, immer wieder quälten, waren
+hauptsächlich Tod und Gott. Im Alter von vier oder fünf
+Jahren glaubte er nicht an den Tod, wenigstens nicht an
+seinen. Und er betete täglich zu dem lieben Gott, bevor er
+sich hinlegte: »Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll
+niemand drin wohnen als Gott allein.« Aber wenn er während
+des Tages etwas getan hatte, was ihm sündhaft erschien – und
+das geschah fast immer – fügte er (im Bett sitzend; stehend,
+wenn es besonders schlimm war) lange und reumütige Monologe
+hinzu, bis er, übermüdet, mit noch gefalteten Fingern und
+Tränen einschlief. Wenn Finsternis und Angst kamen, betete
+er immer. Allmählich mehrten sich die Zweifel. Er mußte an
+seinen Tod glauben und den Glauben an Gott verlassen. Als er
+in die Schule kam, begann die Fülle von Leiden, die für
+manche Kinder damit verbunden sind.
+</p>
+
+</div>
+
+</body>
+</html>