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+ <title>Café Klößchen</title>
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+<body>
+
+<div class="prose">
+
+ <h3 class="center">Café Klößchen</h3>
+
+ <h4 class="center">I</h4>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein war aus der Provinz in die Stadt gekommen,
+weil sie Schauspielerin werden wollte. Zu Haus empfand sie
+alles spießig, eng, verblödend. Die Herren waren dumm. Der
+Himmel, das Küssen, die Freundinnen, die Sonntagnachmittage
+wurden unerträglich. Am liebsten weinte sie. Schauspielerin
+sein bedeutete ihr: klug sein, frei sein, glückselig sein.
+Wie das ist, wußte sie nicht. Ob sie Talent habe, prüfte sie
+nicht.
+</p>
+
+<p>
+Sie schwärmte für den Vetter Schulz, weil er in der Stadt
+wohnte und Gedichte machte. Als der Vetter einmal schrieb,
+er habe die Juristerei satt, er werde als Schriftsteller
+seinen Neigungen leben, teilte sie den erschrockenen Eltern
+mit, das verbauerte Leben wachse ihr aus dem Halse heraus;
+sie werde als Schauspielerin ihren Idealen nachgehen. Man
+versuchte auf jede Art, sie von diesem Vorhaben abzubringen.
+Es gelang nicht. Sie wurde bestimmter, drohend. Man gab
+unwillig nach, fuhr mit ihr in die Stadt, mietete ein
+kleines Zimmer in einem großen Pensionat, meldete sie in
+einer billigen Theaterschule an. Der Vetter Schulz wurde
+gebeten, sich ihrer anzunehmen.
+</p>
+
+<p>
+Herr Schulz war häufig mit Cousine Liblichlein zusammen. Er
+führte sie in Kabaretts; las Gedichte vor; zeigte seine
+Bohemebude; bestellte sie in das Literatencafé Klößchen;
+ging mit ihr Hand in Hand stundenlang durch die nächtlichen
+Straßen; betastete sie; küßte sie. Fräulein Liblichlein war
+von allem Neuen angenehm betäubt; bald fiel ihr ein, daß sie
+sich das meiste schöner vorgestellt hatte. Verdrießlich war
+ihr schon anfangs, daß der Direktor der Theaterschule, die
+Kollegen, die Literaten des Café Klößchen – alle Männer, mit
+denen sie häufiger zusammentraf, ein Vergnügen darin fanden,
+sie anzufassen, ihre Hände zu streicheln, die Knie an ihre
+Knie zu drücken, sie unverschämt anzusehen. Sogar die
+Berührungen des Schulz wurden ihr lästig.
+</p>
+
+<p>
+Um ihn nicht zu kränken, auch um nicht kleinstädtisch zu
+wirken, gab sie ihm das selten zu verstehen. Aber einmal
+schlug sie ihm heftig auf das Gesicht. Sie waren in seinem
+Zimmer, er hatte ihr gerade die letzten Zeilen seines
+Gedichtes »Müdigkeit« erklärt. Die waren:
+</p>
+
+<div class="center">
+<div class="left dispinlblock">
+Der Abend steht vor meinem Fenster, grauer Mann!<br />
+Am besten ist wohl, wenn wir schlafen gehen –</div>
+</div>
+
+<p>
+Danach hatte er versucht, ihr die Bluse abzuziehen. Der
+Schulz war über den Schlag recht bestürzt. Er sagte, fast
+weinend, sie müsse gemerkt haben, daß er sie liebe. Außerdem
+sei er ihr Vetter. Sie sagte, das Öffnen der Bluse behage
+ihr nicht. Zudem habe er einen Knopf abgerissen. Er sagte,
+er halte das nicht mehr aus. Wenn man einen liebe, müsse man
+sich ihm hingeben. Er werde bei Kokotten Vergessen suchen.
+Sie wußte keine Antwort. Er dachte stöhnend: O, o. Sie saß
+betrübt neben ihm.
+</p>
+
+<p>
+In den nächsten Tagen ließ er sich nicht sehen. Als er
+wiederkam, war er bleich und grau. Die blutleeren roten
+Augen lagen tränend in schmierigen Schatten. Die Stimme
+hatte nur einen Singsangton, der klang maniriert
+melancholisch. Schulz sprach kläglich schwärmend von
+Verzweiflung, Hurerei, Zerrissensein. Daß er der
+Lebensfreude überdrüssig sei. Daß er seinen Tod bald
+eingeholt haben werde. Er vermied Zärtlichkeiten, aber er
+seufzte oft schmerzlich. Kokettierte theatralisch mit einer
+Sehnsucht nach dem Sterben. Führte die Freundin in
+leichenreiche Trauerspiele, in düstere Kinodramen, in ernste
+Konzerte in verdunkelten Sälen.
+</p>
+
+<p>
+Eine Woche war vielleicht vergangen. Eine Dame hatte
+gesungen. Die Hände der Zuhörer knallten laut und lange.
+Gottschalk Schulz faßte leidenschaftlich einige Finger Lisel
+Liblichleins, legte sie gütig auf einen Schenkel seiner
+Beine, sagte: »Ist es nicht eigenartig, wie der Gesang einer
+Dame einem an die Seele greift!« Dann fing er wieder an,
+bittend und weinerlich von Liebe und Hingebung zu reden.
+Lisel Liblichlein sagte, dies sei ihr langweilig oder
+ekelhaft. Aus Mitleid – und weil sie hinaufgehen wollte –
+erklärte sie schließlich in der Haustür, mit der Liebe sei
+sie einverstanden, wenn er auf die Hingebung verzichte.
+Schulz drückte sie glücklich an sich. Er stand noch lange
+träumend da. Er sang: »O Tränen. O Güte. O Gott. O
+Schönheit. O Liebe. O Liebe. O Liebe...« Er stürzte durch
+die Straßen. In dem Klößchen war er verschwunden.
+</p>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein aber saß in ihrem kleinen Zimmer
+unbeholfen lächelnd bei einem rötlichen Talglicht. Sie
+begriff diese Menschen der Stadt nicht, die schienen ihr
+seltsame, gefährliche Tiere. Sie fühlte sich verlassen und
+einsamer als früher. Sie dachte sehnsüchtig an die harmlose
+Heimat: an den luftigen Himmel, an die lächerlichen jungen
+Herren, an die Tennisturniere, an die wehmütigen
+Sonntagnachmittage... sie knöpfte die Strumpfhalter ab,
+legte das Leibchen auf einen Stuhl. Sie war trostlos.
+</p>
+
+<h4 class="center">II</h4>
+
+<p>
+In einem durchsichtigen Sommerabend war das leuchtende Café
+Klößchen. Stadthimmel aus dunkelblauer Seide, auf dem weißer
+Mond und viele kleine Sterne lagen, umhüllte es. In einem
+Hintergrund saß, lange Zeit, bevor er plötzlich starb,
+einsam und rauchend bei einem winzigen Tisch, auf dem etwas
+stand, der bucklige Dichter Kuno Kohn. Um andere Tische
+hockten Leute. Dazwischen bewegten sich Männer mit gelben
+und roten Schädeln; Weiber; Literaten; Schauspieler. Überall
+huschten schattige Kellner.
+</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn war ohne viel Gedanken. Er summte für sich: »Ein
+Nebel hat die Welt so weich zerstört.« – Da begrüßte ihn der
+Dichter Gottschalk Schulz, ein Jurist, der durch alle
+Examina, denen er sich unterzogen hatte, mühevoll gefallen
+war. Mit ihm kam ein schönes Fräulein. Die beiden setzten
+sich zu Kohn. Schulz und Kohn waren Mitarbeiter der von dem
+kleinen begeisterten Lutz Laus für die Hebung der
+Unsittlichkeit angefertigten Monatsschrift: »Der Dackel«.
+Schulz erzählte dem Kohn, daß der Dackel-Laus demnächst eine
+gottlose Religion auf neojuristischer Grundlage erfinden
+werde, zwecks Organisation eine konstituierende Versammlung
+in einem nahen Kintopp einberufen wolle. Kohn hörte
+kopfschüttelnd zu. Das schöne Fräulein aß Kuchen. Kohn sagte
+traurig: »Laus ist ein Großer und Rührender. Aber gläubig
+kann uns kein Jesus mehr machen. Wir sterben mit jedem Tage
+tiefer in den öden ewigen Tod ein. Wir sind hoffnungslos
+zerrüttet. Unser Leben wird ein sinnloses Schau-Spiel
+bleiben.« Das essende Fräulein sah mit fröhlichem,
+deutlichem Gesicht aus rotbraunen Augen verständnislos
+hinüber. Schulz war in trübselige Gedanken versunken. Das
+Fräulein sagte, auch ihr ganzes Leben sei das Schauspiel. So
+sinnlos könne sie dies nicht finden. In der Theaterschule,
+in der sie sich auf die Bühnenlaufbahn als sentimentale
+Liebhaberin vorbereite, werde Tüchtiges geleistet. Herr Kohn
+möge einmal hinkommen, um sich davon zu überzeugen. Kuno
+Kohn blickte das Fräulein eine Weile innig an. Er dachte:
+»Solch kleines dummes Fräulein...« Er ging aber bald weg.
+</p>
+
+<p>
+Draußen hielt ihn plötzlich der Lyriker Roland Rufus Müller
+erregt an einem Arm fest, er rief: »Haben Sie die Kritik
+eines gewissen Bruno Bibelbauer in der medizinischen
+Monatsschrift gelesen, in der behauptet wird, meine Paranoia
+bestehe darin, daß ich mir einbilde, Paralyse zu haben! Alle
+Menschen sehen mich merkwürdig an, ich bin berühmt. Mein
+Verleger gibt mir viel Vorschuß. Aber – ach, ich darf es
+nicht sagen – ich bin unheilbar.« Er lief schleunigst in ein
+besseres Weinrestaurant.
+</p>
+
+<p>
+Ein Pferd humpelte wie ein alter Mensch vor einem Wagen. Der
+bucklige Kohn lehnte lässig an einer katholischen Kirche,
+überlegte das Dasein. Er sagte sich: »Wie drollig ist
+dennoch das Dasein. Und da lehnt man nun; irgendwo;
+irgendwie; ohne Beziehung; ganz belanglos; könnte ebenso
+gut, ebenso schlecht weiterschreiten; irgendwohin. Das macht
+mich unglücklich.« – Vor ihm war ein kleiner lautloser
+Hurenhund stehengeblieben, hatte mit glimmenden Augen
+demütig zugehört.
+</p>
+
+<p>
+Eine feurige gläserne Brautkutsche hüpfte vorbei. Innen, in
+einer Ecke, sah er das bleiche geschlossene Gesicht eines
+Bräutigams. Eine leere Droschke kam, der Kohn ging
+hinterher. Er sagte leise: »Ein Sucher ohne Ziel... Ein
+Haltloser... Unbekannt mit allem... Man hat eine furchtbare
+Sehnsucht. O wüßte man wonach.«
+</p>
+
+<p>
+Die Straßen schimmerten schon weißlich, als er die Tür des
+Hauses, in dem er wohnte, öffnete. In seinem Zimmer sah er
+die Bilder von lauter gestorbenen Menschen, die an einer
+Wand befestigt waren, schweigsam und feierlich traurig an.
+Dann begann er, die Kleidungsstücke von dem Buckel zu
+nehmen. Als er nur noch mit Unterhosen, Hemd, Socken bedeckt
+war, sagte er murmelnd und seufzend: »Allmählich wird man
+wahnsinnig –«
+</p>
+
+<p>
+In dem Bett nahm das Denken ab. Ihm fielen für das
+Einschlafen die rotbraunen Fräuleinaugen aus dem Café
+Klößchen ein...
+</p>
+
+<p>
+Diese Augen leuchteten auch in den folgenden Tagen sonderbar
+oft in seinem Hirn. Das wunderte ihn. Erschreckte ihn. Sein
+Verhältnis zu Frauen war eigenartig. Im allgemeinen hatte er
+sogar einen Widerwillen gegen sie, es trieb ihn zu Knaben.
+Aber in gewissen Sommermonaten, wenn er zu innerst
+zerbrochen und unselig war, verliebte er sich häufig in ein
+junges kindhaftes Weib. Da er infolge seines Buckels zumeist
+abgewiesen, oft sogar verhöhnt wurde, war die Erinnerung an
+diese Frauen und Mädchen entsetzlich. Er nahm sich daher zu
+diesen Zeiten in acht. Ging zu Dirnen, wenn er Gefahr
+fühlte.
+</p>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein hatte ihn überrumpelt, ohne eine Ahnung
+davon zu haben. Vergeblich dachte er an die Qualen der
+Mißerfolge. Vergeblich stellte er sich vor, daß Lisel
+Liblichlein eins der vielen, zierlichen, in wundervolle
+Unwissenheit und glücksuchende Sehnsucht verwirrten
+Geschöpfe sei, die überall auf der Erde, einander sehr
+ähnlich, zu finden sind... In einem weichen Abend voller
+grünlichgelber Laternen, voller Regenschirme und
+Straßenschmutz stand ein kleiner buckliger Mensch ängstlich
+wartend neben dem Hausschild einer Theaterschule.
+</p>
+
+<h4 class="center">III</h4>
+
+<p>
+Manchmal kam ein Wind, ein giftiger heißer Hund. Wie zähes,
+glühendes Öl lag die Sonne auf den Häusern und auf den
+Straßen und auf den Leuten. Kleine geschlechtslose
+Menschlein mit schrägen Beinen hopsten sinnlos um den
+vergitterten Vorgarten des Café Klößchen. Innen prügelten
+sich Kuno Kohn und Gottschalk Schulz. Andere sahen zufällig
+zu. Lisel Liblichlein saß ernsthaft in einer Ecke.
+</p>
+
+<p>
+Die Veranlassung war gewesen: Herr Kohn hatte Fräulein
+Liblichlein mehrmals von der Theaterschule nach Hause
+begleitet. Als Schulz davon erfuhr, wurde er grundlos
+eifersüchtig. Er fing an, über den Kohn Schlechtes zu reden.
+Lisel Liblichlein, die den Vetter durchschaute, verteidigte
+den Buckligen. Darüber ärgerte sich der Schulz noch mehr. Er
+erklärte überzeugend, er werde sich erschießen. Das
+unterließ er, drohte aber, er werde auch sie erschießen. Da
+verbat sie sich seine Gesellschaft. – Lisel Liblichlein
+mußte einen Menschen haben, mit dem sie sich über ihre
+wichtig empfundenen Alltäglichkeiten aussprechen konnte. Sie
+wählte nach dem Zank mit Schulz aus irgendeinem ungeklärten
+Instinkt den Kohn. So kam es, daß sie ihn an dem Mittag des
+Prügeltages in das Klößchen bestellt hatte, um vielleicht
+über die Wahl eines Kleides oder über die Auffassung einer
+Rolle oder über ein kleines Geschehnis mit ihm zu beraten.
+Kohn war soeben gekommen, wollte sich gerade über die
+Wünsche des Fräulein informieren, als Gottschalk Schulz
+hineinfiel, mit rotgeschwollenem Gesicht vor ihm war, ihn
+einen gewissenlosen Mädchenverführer nannte. Kohn versuchte
+den Schulz von unten zu ohrfeigen. Dann schlug jeder wütend
+und schweigend auf den anderen. Das Schild des
+Abortpächters, auf dem vorher zu lesen war: »Mein Institut
+ist jetzt hier, Eingang dort« – lag zerschmettert auf dem
+Boden. Plötzlich stieß die Hand des Schulz wuchtig auf den
+Buckel Kohns. Die Hand hatte ein blutiges Loch, auch der
+Buckel war beschädigt. Schulz rief leichenbleich: »Der
+Buckel ist lebensgefährlich.« Danach ließ er sich von einem
+Oberkellner nach einer Unfallstation begleiten. Lisel
+Liblichlein würdigte er keines Blickes.
+</p>
+
+<p>
+Kohn achtete nicht sehr auf den geschundenen Buckel. Er
+setzte sich wieder zu Lisel Liblichlein an den Tisch,
+bestellte Tee mit Zitrone. Sie sah, wie immer deutlicher
+Blut durch seinen fadenscheinigen Gehrock sickerte. Sie
+machte ihn auf den blutenden Gehrock aufmerksam, er
+erschrak. Sie sagte, ob sie die Wunde verbinden solle – Er
+sagte bitter, einen Buckel anzufassen, werde ihr nicht
+angenehm sein. Sie sagte mitleidig errötend, ein Buckel sei
+menschlich – Sie sagte, er möge zu ihr kommen. Der Buckel
+müßte gesäubert und gekühlt werden. Dann wolle sie einen
+Verband machen. Er könne den Nachmittag bei ihr
+verbringen...
+</p>
+
+<p>
+Kohn ging freudig zögernd auf ihren Vorschlag ein. Sie saßen
+bis in die Nacht in der kleinen Stube Lisel Liblichleins.
+Unterhielten sich über Seele, Buckel, Liebe. –
+</p>
+
+<p>
+Schriftsteller Schulz war von diesem Tage an verschollen.
+Zuletzt hatte ihn ein Bekannter an dem Abend vor dem
+Schaufenster eines Schuhwarengeschäftes gesehen. Er soll
+jeden Stiefel einzeln trübsinnig betrachtet haben. »Heiße
+Helden« – eine Zeitschrift für romantische Decadence –
+erhielt bald danach einen Eilbrief, in dem Schulz mitteilte,
+daß er im Begriff sei, sich aus seelischen Gründen das Leben
+zu nehmen. Einige hielten diese Mitteilung für nicht mehr
+neue Reklame. Die meisten waren begeistert. Die Zeitungen
+brachten aufregende Notizen. Ein Schulz-Leichen-Suchefonds
+wurde gegründet. Ein Fabrikbesitzer stiftete einen
+gediegenen Sarkophag.
+</p>
+
+<p>
+Man durchforschte Wälder und Wiesen. Stocherte mit langen
+Stangen in allen Seen. Man fand keine Spur von Schulz.
+Wollte das Suchen schon aufgeben, als man ihn ganz entstellt
+in einem mittelmäßigen Hotel eines entlegenen Vorortes
+entdeckte. Er hatte sich an einem windigen Teich eine
+schwere Influenza zugezogen, die ihn wochenlang an ein Bett
+fesselte. Man traf ihn auf der knarrenden Hoteltreppe, wie
+er, in viele Decken und Tücher gehüllt, noch einmal seine
+Selbstmordabsichten versuchsweise verwirklichen wollte.
+Unschwer brachte man ihn davon ab, führte ihn triumphierend
+in die Stadt zurück. Der Sarkophag wurde versetzt. Aus dem
+Erlös und von dem Rest des Schulz-Leichen-Suchefonds wurde
+ein Bohemefest veranstaltet – – –
+</p>
+
+<p>
+Gottschalk Schulz selbst thronte als Faust weltschmerzlich
+in einem Winkel. Der begabte Doktor Berthold Bryller
+erschien als: Einer der Literaten, die fett werden. Lutz
+Laus verhielt sich in päpstlichem Ornat. Der Gymnasiast
+Spinoza Spaß – der Klößchenclown – hatte ein Siegfriedkostüm
+um den Leib gehängt, sich einen Goethekopf frisiert. Der
+Lyriker Müller lag bald als grüne betrunkene Leiche. Kuno
+Kohn, der sich mit Schulz formell wieder ausgesöhnt hatte,
+kam, wie er war. Mit ihm auch Lisel Liblichlein, sie trug
+ein ländliches Kleid. Die anderen liefen als Chinesen,
+Schimpansen, Götter, Nachtwächter, Leute von Welt
+quietschend und quer durcheinander. Das ganze Klößchen war
+vorhanden.
+</p>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein tanzte in dieser bunten, kreischenden
+Nacht nur mit dem buckligen Dichter. Manche sahen dem
+seltsamen Paar zu, aber es ließ sich nicht lachen. Der
+Buckel Kohns stieß hart und rücksichtslos wie eine
+Tischkante gegen die weichen anderen. Es schien, als wäre
+ihm eine Lust, immer wieder den Buckel in einen Tanzenden zu
+stechen. Niemals versäumte er, mit Fistelstimme, unverschämt
+höflich, »pardon« zu sagen, wenn ein verrücktes Weib
+hochschrie oder einer aus Seligkeit »verflucht...« knurrte.
+Lisel Liblichlein hielt den Dichter mit der einen Hand unten
+an dem Buckel wie an einem Henkel, mit der anderen Hand
+preßte sie den eckigen Kopf Kohns sanft in ihre Brust. So
+tanzten sie durch viele besessene Stunden.
+
+Kohns Buckel wurde immer schmerzhafter für die anderen
+Tänzer. Man wagte Empörung zu äußern. Die Festleitung teilte
+dem Kohn mit, daß er ersucht werde, das Tanzen einzustellen.
+Mit einem derartigen Buckel dürfe man nicht tanzen. Kohn
+widersprach nicht. Lisel Liblichlein sah, daß sein Gesicht
+grau wurde.
+</p>
+
+<p>
+Sie führte ihn in eine versteckte Nische. Da sagte sie: »Von
+nun an sage ich ‚du‘ zu dir.» Kuno Kohn antwortete nicht,
+aber er empfing ihre mitleidende Seele wie ein Geschenk in
+seine wasserblauen Troubadouraugen. Sie sagte zitternd, daß
+sie ihn mit einem mal so lieb habe, sei ihr
+unverständlich... Sie wolle seine arme Hand niemals mehr
+loslassen... Sie habe nicht gewußt, daß man so maßlos
+glücklich sein könne... Kuno Kohn lud sie ein, ihn an dem
+nächsten Abend zu besuchen. Sie sagte gern zu.
+</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn und Lisel Liblichlein waren wohl die ersten, die
+das taumelnde Fest verließen. Sie gingen flüsternd in den
+himmelhellen, von Mondlicht leuchtenden Straßen. Der
+verliebte Dichter warf abenteuerliche Schatten mit riesigen
+Höckern auf das Pflaster.
+</p>
+
+<p>
+Bei dem Abschied senkte Lisel Liblichlein den Kopf zu Kohn
+nieder. Sie küßte mehrmals seinen Mund. So trennten sich
+Kuno Kohn und Lisel Liblichlein... Er sagte, er freue sich,
+daß sie ihn an dem nächsten Abend besuchen werde. Sie sagte
+ganz leise: »Ich... ach... auch...«
+</p>
+
+<p>
+Die Häuser standen wohlgeordnet wie Bücher in Regalen auf
+den gepflegten Straßen. Der Mond hatte hellblauen Staub auf
+sie geschüttet. Wenige Fenster waren wach, die funkelten
+friedlich wie einsame Menschenaugen, hatten immer denselben
+goldfarbenen Blick. Kuno Kohn ging nachdenklich heim. Der
+Körper war gefährlich nach vorn geneigt. Die Hände lagen
+fest auf dem Ende des Rückens. Der Kopf war weit
+heruntergefallen. Zu oberst ragte der Buckel, ein
+abenteuerlicher spitzer Stein. Kuno Kohn war in dieser
+Stunde kein Mensch mehr, er hatte seine eigene Form.
+</p>
+
+<p>
+Er dachte: »Ich will vermeiden, glücklich zu werden. Das
+bedeutete: Die Sehnsucht über alle Erfüllung hinaus, die
+mein köstlichster Inhalt ist, aufgeben. Den heiligen Buckel,
+mit dem ein freundliches Geschick mich geweiht hat, durch
+den ich das Dasein viel, viel tiefer, unseliger, herrlicher
+gespürt habe, als die Menschen es spüren, zu einer lästigen
+Äußerlichkeit degradieren. – Ich will aus Lisel Liblichlein
+ihr höheres Wesen herausbilden. Ich will sie heillos
+unglücklich machen...«
+</p>
+
+<p>
+Während der Dichter Kohn dies dachte, erstach sich der
+Dichter Schulz endgültig mit einem Salatmesser. Er hatte
+Kuno Kohn und Lisel Liblichlein bei ihrer vertrauten
+Unterhaltung in der Nische beobachtet. Hatte gesehen, wie
+sie zusammen weggingen. Er bemühte sich, seinen Jammer zu
+besaufen und zu befressen, es half nicht. Nachdem er einige
+Stunden gegessen und getrunken hatte, war er geisteskrank.
+Er sang: »Der Tod ist eine ernsthafte Angelegenheit... Der
+Tod läßt nicht mit sich spaßen... Der Tod ist ein dringendes
+Bedürfnis...« Dann pikte er sich zaghaft und zögernd das
+erste beste Messer in die linke Brust. Blut und blutige
+Salatreste spritzten umher. Diesmal war der
+Selbstmordversuch von Erfolg gekrönt.
+</p>
+
+<h4 class="center">IV</h4>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein erschien an dem nächsten Abend früher als
+verabredet war. Kuno Kohn öffnete die Tür, Blumen in der
+Hand haltend. Er freute sich sichtbar, er sagte, er habe
+kaum gehofft, daß sie kommen werde. Sie legte die Arme um
+seinen knochigen Körper, preßte ihn an ihren Leib mit
+saugendem Druck, sagte: »Du buckelliebes Dummchen... ich hab
+dich doch gern –«
+</p>
+
+<p>
+Einige einfache Abendgerichte wurden gegessen. Sie
+streichelte ihn, wenn ihr etwas gut schmeckte. Sie sagte,
+sie wolle bis nach Mitternacht bei ihm bleiben. Dann könnte
+sie mit ihm den Beginn ihres achtzehnten Geburtstages
+feiern...
+</p>
+
+<p>
+Aus einer Kirchenuhr kam der neue Tag. Die ersten lauten
+Atemzüge drangen wie gestöhnte Gebete in das verhangene
+Kohnsche Zimmer. Da war Lisel Liblichleins junger
+Seelenkörper ein Tempel geworden, sie hatte sich dem
+buckligen Priester mit rührender Selbstverständlichkeit
+unter Schmerzen geopfert. Hatte gesagt: »Bist du jetzt froh
+–« Lag aufgelöst in Traum und Ergriffenheit. Die dünne Haut
+der Lider hüllte sie ein.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich rannte ein Entsetzen über den Körper. Hatte sie
+den Schrecken in dem Gesicht wie Krallen. Waren aufgerissene
+schreiende Augen über dem Buckligen. Sagte Lisel Liblichlein
+tonlos: »Dies – war – das Glück – – –« Kuno Kohn weinte.
+</p>
+
+<p>
+Sie sagte: »Kuno, Kuno, Kuno, Kuno, Kuno, Kuno... Was fange
+ich mit dem übrigen Leben an?« Kuno Kohn seufzte. Er sah
+ernst und gütig in ihre elenden Augen. Er sagte: »Armes
+Lisel! Das Gefühl der vollkommenen Hilflosigkeit, daß dich
+überfallen hat, habe ich häufig. Der einzige Trost ist:
+traurig sein. Wenn die Traurigkeit in Verzweiflung ausartet,
+soll man grotesk werden. Man soll spaßeshalber weiterleben.
+Soll versuchen, in der Erkenntnis, daß das Dasein aus lauter
+brutalen hundsgemeinen Scherzen besteht, Erhebung zu
+finden.« – Er wischte Schweiß von Buckel und Stirn.
+</p>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein sagte: »Warum du eine lange Rede hältst,
+weiß ich nicht. Was du gesagt hast, verstehe ich nicht. Daß
+du mir das Glück genommen hast, war lieblos, Kohn.« – Die
+Worte fielen wie Papier.
+</p>
+
+<p>
+Sie sagte, sie wolle gehen. Er möge sich ankleiden. Der
+nackte Buckel sei ihr peinlich...
+</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn und Lisel Liblichlein sprachen kein Wort mehr, bis
+sie sich vor der Tür des Hauses, in dem das Pensionat war,
+für immer trennten. Er sah in ihr Gesicht, hielt ihre Hand,
+sagte: »Lebe wohl –« Sie sagte leise: »Lebe wohl –«
+</p>
+
+<p>
+Kohn duckte sich in seinen Buckel. Lief niedergebrochen
+davon. Tränen verschmierten das Gesicht. Er fühlte die
+nachschauenden betrübten Blicke auf seinem Rücken. Da rannte
+er um die nächste Häuserecke. Er blieb stehen, trocknete die
+Augen mit einem Tuch, eilte weinend weiter.
+</p>
+
+<p>
+Wie Krankheit kroch schleimiger Nebel in der erblindenden
+Stadt. Laternen waren düstere Sumpfblumen, die auf
+schwärzlich glimmenden Stielen flackerten. Dinge und Wesen
+hatten nur fröstelnden Schatten und verwischte Bewegung. Wie
+ein Ungetüm torkelte ein Nachtomnibus an Kohn vorüber. Der
+Dichter rief: »Jetzt ist man wieder ganz einsam.« – Da
+begegnete ihm eine große Bucklige mit langen Spinnenbeinen
+in gespenstig durchscheinendem Rock. Der Oberkörper glich
+einer Kugel, die auf einem hohen Tischchen liegt. Sie sah
+ihn mitleidig lockend an, mit verliebtem Lächeln, das durch
+den Nebel zu einer tollen Grimasse gezerrt wurde. Kohn war
+sogleich in dem Grau verschwunden. Sie ächzte, dann trug sie
+sich weiter.
+</p>
+
+<p>
+Lahmer Tag hinkte heran. Zertrümmerte mit eiserner Krücke
+die Reste der Nacht. Das halb ausgelöschte Café Klößchen lag
+in dem lautlosen Morgen, eine glänzende Scherbe. In einem
+Hintergrund saß der letzte Gast. Kuno Kohn hatte den Kopf in
+den bebenden Buckel gesenkt. Die dürren Finger einer Hand
+bedeckten Stirn und Gesicht. Der ganze Körper schrie
+lautlos.
+</p>
+
+</div>
+
+</body>
+</html>