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  <title>Café Klößchen</title>
</head>
<body>

<div class="prose">

  <h3 class="center">Café Klößchen</h3>

  <h4 class="center">I</h4>

<p>
Lisel Liblichlein war aus der Provinz in die Stadt gekommen,
weil sie Schauspielerin werden wollte. Zu Haus empfand sie
alles spießig, eng, verblödend. Die Herren waren dumm. Der
Himmel, das Küssen, die Freundinnen, die Sonntagnachmittage
wurden unerträglich. Am liebsten weinte sie. Schauspielerin
sein bedeutete ihr: klug sein, frei sein, glückselig sein.
Wie das ist, wußte sie nicht. Ob sie Talent habe, prüfte sie
nicht.
</p>

<p>
Sie schwärmte für den Vetter Schulz, weil er in der Stadt
wohnte und Gedichte machte. Als der Vetter einmal schrieb,
er habe die Juristerei satt, er werde als Schriftsteller
seinen Neigungen leben, teilte sie den erschrockenen Eltern
mit, das verbauerte Leben wachse ihr aus dem Halse heraus;
sie werde als Schauspielerin ihren Idealen nachgehen. Man
versuchte auf jede Art, sie von diesem Vorhaben abzubringen.
Es gelang nicht. Sie wurde bestimmter, drohend. Man gab
unwillig nach, fuhr mit ihr in die Stadt, mietete ein
kleines Zimmer in einem großen Pensionat, meldete sie in
einer billigen Theaterschule an. Der Vetter Schulz wurde
gebeten, sich ihrer anzunehmen.
</p>

<p>
Herr Schulz war häufig mit Cousine Liblichlein zusammen. Er
führte sie in Kabaretts; las Gedichte vor; zeigte seine
Bohemebude; bestellte sie in das Literatencafé Klößchen;
ging mit ihr Hand in Hand stundenlang durch die nächtlichen
Straßen; betastete sie; küßte sie. Fräulein Liblichlein war
von allem Neuen angenehm betäubt; bald fiel ihr ein, daß sie
sich das meiste schöner vorgestellt hatte. Verdrießlich war
ihr schon anfangs, daß der Direktor der Theaterschule, die
Kollegen, die Literaten des Café Klößchen – alle Männer, mit
denen sie häufiger zusammentraf, ein Vergnügen darin fanden,
sie anzufassen, ihre Hände zu streicheln, die Knie an ihre
Knie zu drücken, sie unverschämt anzusehen. Sogar die
Berührungen des Schulz wurden ihr lästig.
</p>

<p>
Um ihn nicht zu kränken, auch um nicht kleinstädtisch zu
wirken, gab sie ihm das selten zu verstehen. Aber einmal
schlug sie ihm heftig auf das Gesicht. Sie waren in seinem
Zimmer, er hatte ihr gerade die letzten Zeilen seines
Gedichtes »Müdigkeit« erklärt. Die waren:
</p>

<div class="center">
<div class="left dispinlblock">
Der Abend steht vor meinem Fenster, grauer Mann!<br />
Am besten ist wohl, wenn wir schlafen gehen –</div>
</div>

<p>
Danach hatte er versucht, ihr die Bluse abzuziehen. Der
Schulz war über den Schlag recht bestürzt. Er sagte, fast
weinend, sie müsse gemerkt haben, daß er sie liebe. Außerdem
sei er ihr Vetter. Sie sagte, das Öffnen der Bluse behage
ihr nicht. Zudem habe er einen Knopf abgerissen. Er sagte,
er halte das nicht mehr aus. Wenn man einen liebe, müsse man
sich ihm hingeben. Er werde bei Kokotten Vergessen suchen.
Sie wußte keine Antwort. Er dachte stöhnend: O, o. Sie saß
betrübt neben ihm.
</p>

<p>
In den nächsten Tagen ließ er sich nicht sehen. Als er
wiederkam, war er bleich und grau. Die blutleeren roten
Augen lagen tränend in schmierigen Schatten. Die Stimme
hatte nur einen Singsangton, der klang maniriert
melancholisch. Schulz sprach kläglich schwärmend von
Verzweiflung, Hurerei, Zerrissensein. Daß er der
Lebensfreude überdrüssig sei. Daß er seinen Tod bald
eingeholt haben werde. Er vermied Zärtlichkeiten, aber er
seufzte oft schmerzlich. Kokettierte theatralisch mit einer
Sehnsucht nach dem Sterben. Führte die Freundin in
leichenreiche Trauerspiele, in düstere Kinodramen, in ernste
Konzerte in verdunkelten Sälen.
</p>

<p>
Eine Woche war vielleicht vergangen. Eine Dame hatte
gesungen. Die Hände der Zuhörer knallten laut und lange.
Gottschalk Schulz faßte leidenschaftlich einige Finger Lisel
Liblichleins, legte sie gütig auf einen Schenkel seiner
Beine, sagte: »Ist es nicht eigenartig, wie der Gesang einer
Dame einem an die Seele greift!« Dann fing er wieder an,
bittend und weinerlich von Liebe und Hingebung zu reden.
Lisel Liblichlein sagte, dies sei ihr langweilig oder
ekelhaft. Aus Mitleid – und weil sie hinaufgehen wollte –
erklärte sie schließlich in der Haustür, mit der Liebe sei
sie einverstanden, wenn er auf die Hingebung verzichte.
Schulz drückte sie glücklich an sich. Er stand noch lange
träumend da. Er sang: »O Tränen. O Güte. O Gott. O
Schönheit. O Liebe. O Liebe. O Liebe...« Er stürzte durch
die Straßen. In dem Klößchen war er verschwunden.
</p>

<p>
Lisel Liblichlein aber saß in ihrem kleinen Zimmer
unbeholfen lächelnd bei einem rötlichen Talglicht. Sie
begriff diese Menschen der Stadt nicht, die schienen ihr
seltsame, gefährliche Tiere. Sie fühlte sich verlassen und
einsamer als früher. Sie dachte sehnsüchtig an die harmlose
Heimat: an den luftigen Himmel, an die lächerlichen jungen
Herren, an die Tennisturniere, an die wehmütigen
Sonntagnachmittage... sie knöpfte die Strumpfhalter ab,
legte das Leibchen auf einen Stuhl. Sie war trostlos.
</p>

<h4 class="center">II</h4>

<p>
In einem durchsichtigen Sommerabend war das leuchtende Café
Klößchen. Stadthimmel aus dunkelblauer Seide, auf dem weißer
Mond und viele kleine Sterne lagen, umhüllte es. In einem
Hintergrund saß, lange Zeit, bevor er plötzlich starb,
einsam und rauchend bei einem winzigen Tisch, auf dem etwas
stand, der bucklige Dichter Kuno Kohn. Um andere Tische
hockten Leute. Dazwischen bewegten sich Männer mit gelben
und roten Schädeln; Weiber; Literaten; Schauspieler. Überall
huschten schattige Kellner.
</p>

<p>
Kuno Kohn war ohne viel Gedanken. Er summte für sich: »Ein
Nebel hat die Welt so weich zerstört.« – Da begrüßte ihn der
Dichter Gottschalk Schulz, ein Jurist, der durch alle
Examina, denen er sich unterzogen hatte, mühevoll gefallen
war. Mit ihm kam ein schönes Fräulein. Die beiden setzten
sich zu Kohn. Schulz und Kohn waren Mitarbeiter der von dem
kleinen begeisterten Lutz Laus für die Hebung der
Unsittlichkeit angefertigten Monatsschrift: »Der Dackel«.
Schulz erzählte dem Kohn, daß der Dackel-Laus demnächst eine
gottlose Religion auf neojuristischer Grundlage erfinden
werde, zwecks Organisation eine konstituierende Versammlung
in einem nahen Kintopp einberufen wolle. Kohn hörte
kopfschüttelnd zu. Das schöne Fräulein aß Kuchen. Kohn sagte
traurig: »Laus ist ein Großer und Rührender. Aber gläubig
kann uns kein Jesus mehr machen. Wir sterben mit jedem Tage
tiefer in den öden ewigen Tod ein. Wir sind hoffnungslos
zerrüttet. Unser Leben wird ein sinnloses Schau-Spiel
bleiben.« Das essende Fräulein sah mit fröhlichem,
deutlichem Gesicht aus rotbraunen Augen verständnislos
hinüber. Schulz war in trübselige Gedanken versunken. Das
Fräulein sagte, auch ihr ganzes Leben sei das Schauspiel. So
sinnlos könne sie dies nicht finden. In der Theaterschule,
in der sie sich auf die Bühnenlaufbahn als sentimentale
Liebhaberin vorbereite, werde Tüchtiges geleistet. Herr Kohn
möge einmal hinkommen, um sich davon zu überzeugen. Kuno
Kohn blickte das Fräulein eine Weile innig an. Er dachte:
»Solch kleines dummes Fräulein...« Er ging aber bald weg.
</p>

<p>
Draußen hielt ihn plötzlich der Lyriker Roland Rufus Müller
erregt an einem Arm fest, er rief: »Haben Sie die Kritik
eines gewissen Bruno Bibelbauer in der medizinischen
Monatsschrift gelesen, in der behauptet wird, meine Paranoia
bestehe darin, daß ich mir einbilde, Paralyse zu haben! Alle
Menschen sehen mich merkwürdig an, ich bin berühmt. Mein
Verleger gibt mir viel Vorschuß. Aber – ach, ich darf es
nicht sagen – ich bin unheilbar.« Er lief schleunigst in ein
besseres Weinrestaurant.
</p>

<p>
Ein Pferd humpelte wie ein alter Mensch vor einem Wagen. Der
bucklige Kohn lehnte lässig an einer katholischen Kirche,
überlegte das Dasein. Er sagte sich: »Wie drollig ist
dennoch das Dasein. Und da lehnt man nun; irgendwo;
irgendwie; ohne Beziehung; ganz belanglos; könnte ebenso
gut, ebenso schlecht weiterschreiten; irgendwohin. Das macht
mich unglücklich.« – Vor ihm war ein kleiner lautloser
Hurenhund stehengeblieben, hatte mit glimmenden Augen
demütig zugehört.
</p>

<p>
Eine feurige gläserne Brautkutsche hüpfte vorbei. Innen, in
einer Ecke, sah er das bleiche geschlossene Gesicht eines
Bräutigams. Eine leere Droschke kam, der Kohn ging
hinterher. Er sagte leise: »Ein Sucher ohne Ziel... Ein
Haltloser... Unbekannt mit allem... Man hat eine furchtbare
Sehnsucht. O wüßte man wonach.«
</p>

<p>
Die Straßen schimmerten schon weißlich, als er die Tür des
Hauses, in dem er wohnte, öffnete. In seinem Zimmer sah er
die Bilder von lauter gestorbenen Menschen, die an einer
Wand befestigt waren, schweigsam und feierlich traurig an.
Dann begann er, die Kleidungsstücke von dem Buckel zu
nehmen. Als er nur noch mit Unterhosen, Hemd, Socken bedeckt
war, sagte er murmelnd und seufzend: »Allmählich wird man
wahnsinnig –«
</p>

<p>
In dem Bett nahm das Denken ab. Ihm fielen für das
Einschlafen die rotbraunen Fräuleinaugen aus dem Café
Klößchen ein...
</p>

<p>
Diese Augen leuchteten auch in den folgenden Tagen sonderbar
oft in seinem Hirn. Das wunderte ihn. Erschreckte ihn. Sein
Verhältnis zu Frauen war eigenartig. Im allgemeinen hatte er
sogar einen Widerwillen gegen sie, es trieb ihn zu Knaben.
Aber in gewissen Sommermonaten, wenn er zu innerst
zerbrochen und unselig war, verliebte er sich häufig in ein
junges kindhaftes Weib. Da er infolge seines Buckels zumeist
abgewiesen, oft sogar verhöhnt wurde, war die Erinnerung an
diese Frauen und Mädchen entsetzlich. Er nahm sich daher zu
diesen Zeiten in acht. Ging zu Dirnen, wenn er Gefahr
fühlte.
</p>

<p>
Lisel Liblichlein hatte ihn überrumpelt, ohne eine Ahnung
davon zu haben. Vergeblich dachte er an die Qualen der
Mißerfolge. Vergeblich stellte er sich vor, daß Lisel
Liblichlein eins der vielen, zierlichen, in wundervolle
Unwissenheit und glücksuchende Sehnsucht verwirrten
Geschöpfe sei, die überall auf der Erde, einander sehr
ähnlich, zu finden sind... In einem weichen Abend voller
grünlichgelber Laternen, voller Regenschirme und
Straßenschmutz stand ein kleiner buckliger Mensch ängstlich
wartend neben dem Hausschild einer Theaterschule.
</p>

<h4 class="center">III</h4>

<p>
Manchmal kam ein Wind, ein giftiger heißer Hund. Wie zähes,
glühendes Öl lag die Sonne auf den Häusern und auf den
Straßen und auf den Leuten. Kleine geschlechtslose
Menschlein mit schrägen Beinen hopsten sinnlos um den
vergitterten Vorgarten des Café Klößchen. Innen prügelten
sich Kuno Kohn und Gottschalk Schulz. Andere sahen zufällig
zu. Lisel Liblichlein saß ernsthaft in einer Ecke.
</p>

<p>
Die Veranlassung war gewesen: Herr Kohn hatte Fräulein
Liblichlein mehrmals von der Theaterschule nach Hause
begleitet. Als Schulz davon erfuhr, wurde er grundlos
eifersüchtig. Er fing an, über den Kohn Schlechtes zu reden.
Lisel Liblichlein, die den Vetter durchschaute, verteidigte
den Buckligen. Darüber ärgerte sich der Schulz noch mehr. Er
erklärte überzeugend, er werde sich erschießen. Das
unterließ er, drohte aber, er werde auch sie erschießen. Da
verbat sie sich seine Gesellschaft. – Lisel Liblichlein
mußte einen Menschen haben, mit dem sie sich über ihre
wichtig empfundenen Alltäglichkeiten aussprechen konnte. Sie
wählte nach dem Zank mit Schulz aus irgendeinem ungeklärten
Instinkt den Kohn. So kam es, daß sie ihn an dem Mittag des
Prügeltages in das Klößchen bestellt hatte, um vielleicht
über die Wahl eines Kleides oder über die Auffassung einer
Rolle oder über ein kleines Geschehnis mit ihm zu beraten.
Kohn war soeben gekommen, wollte sich gerade über die
Wünsche des Fräulein informieren, als Gottschalk Schulz
hineinfiel, mit rotgeschwollenem Gesicht vor ihm war, ihn
einen gewissenlosen Mädchenverführer nannte. Kohn versuchte
den Schulz von unten zu ohrfeigen. Dann schlug jeder wütend
und schweigend auf den anderen. Das Schild des
Abortpächters, auf dem vorher zu lesen war: »Mein Institut
ist jetzt hier, Eingang dort« – lag zerschmettert auf dem
Boden. Plötzlich stieß die Hand des Schulz wuchtig auf den
Buckel Kohns. Die Hand hatte ein blutiges Loch, auch der
Buckel war beschädigt. Schulz rief leichenbleich: »Der
Buckel ist lebensgefährlich.« Danach ließ er sich von einem
Oberkellner nach einer Unfallstation begleiten. Lisel
Liblichlein würdigte er keines Blickes.
</p>

<p>
Kohn achtete nicht sehr auf den geschundenen Buckel. Er
setzte sich wieder zu Lisel Liblichlein an den Tisch,
bestellte Tee mit Zitrone. Sie sah, wie immer deutlicher
Blut durch seinen fadenscheinigen Gehrock sickerte. Sie
machte ihn auf den blutenden Gehrock aufmerksam, er
erschrak. Sie sagte, ob sie die Wunde verbinden solle – Er
sagte bitter, einen Buckel anzufassen, werde ihr nicht
angenehm sein. Sie sagte mitleidig errötend, ein Buckel sei
menschlich – Sie sagte, er möge zu ihr kommen. Der Buckel
müßte gesäubert und gekühlt werden. Dann wolle sie einen
Verband machen. Er könne den Nachmittag bei ihr
verbringen...
</p>

<p>
Kohn ging freudig zögernd auf ihren Vorschlag ein. Sie saßen
bis in die Nacht in der kleinen Stube Lisel Liblichleins.
Unterhielten sich über Seele, Buckel, Liebe. –
</p>

<p>
Schriftsteller Schulz war von diesem Tage an verschollen.
Zuletzt hatte ihn ein Bekannter an dem Abend vor dem
Schaufenster eines Schuhwarengeschäftes gesehen. Er soll
jeden Stiefel einzeln trübsinnig betrachtet haben. »Heiße
Helden« – eine Zeitschrift für romantische Decadence –
erhielt bald danach einen Eilbrief, in dem Schulz mitteilte,
daß er im Begriff sei, sich aus seelischen Gründen das Leben
zu nehmen. Einige hielten diese Mitteilung für nicht mehr
neue Reklame. Die meisten waren begeistert. Die Zeitungen
brachten aufregende Notizen. Ein Schulz-Leichen-Suchefonds
wurde gegründet. Ein Fabrikbesitzer stiftete einen
gediegenen Sarkophag.
</p>

<p>
Man durchforschte Wälder und Wiesen. Stocherte mit langen
Stangen in allen Seen. Man fand keine Spur von Schulz.
Wollte das Suchen schon aufgeben, als man ihn ganz entstellt
in einem mittelmäßigen Hotel eines entlegenen Vorortes
entdeckte. Er hatte sich an einem windigen Teich eine
schwere Influenza zugezogen, die ihn wochenlang an ein Bett
fesselte. Man traf ihn auf der knarrenden Hoteltreppe, wie
er, in viele Decken und Tücher gehüllt, noch einmal seine
Selbstmordabsichten versuchsweise verwirklichen wollte.
Unschwer brachte man ihn davon ab, führte ihn triumphierend
in die Stadt zurück. Der Sarkophag wurde versetzt. Aus dem
Erlös und von dem Rest des Schulz-Leichen-Suchefonds wurde
ein Bohemefest veranstaltet – – –
</p>

<p>
Gottschalk Schulz selbst thronte als Faust weltschmerzlich
in einem Winkel. Der begabte Doktor Berthold Bryller
erschien als: Einer der Literaten, die fett werden. Lutz
Laus verhielt sich in päpstlichem Ornat. Der Gymnasiast
Spinoza Spaß – der Klößchenclown – hatte ein Siegfriedkostüm
um den Leib gehängt, sich einen Goethekopf frisiert. Der
Lyriker Müller lag bald als grüne betrunkene Leiche. Kuno
Kohn, der sich mit Schulz formell wieder ausgesöhnt hatte,
kam, wie er war. Mit ihm auch Lisel Liblichlein, sie trug
ein ländliches Kleid. Die anderen liefen als Chinesen,
Schimpansen, Götter, Nachtwächter, Leute von Welt
quietschend und quer durcheinander. Das ganze Klößchen war
vorhanden.
</p>

<p>
Lisel Liblichlein tanzte in dieser bunten, kreischenden
Nacht nur mit dem buckligen Dichter. Manche sahen dem
seltsamen Paar zu, aber es ließ sich nicht lachen. Der
Buckel Kohns stieß hart und rücksichtslos wie eine
Tischkante gegen die weichen anderen. Es schien, als wäre
ihm eine Lust, immer wieder den Buckel in einen Tanzenden zu
stechen. Niemals versäumte er, mit Fistelstimme, unverschämt
höflich, »pardon« zu sagen, wenn ein verrücktes Weib
hochschrie oder einer aus Seligkeit »verflucht...« knurrte.
Lisel Liblichlein hielt den Dichter mit der einen Hand unten
an dem Buckel wie an einem Henkel, mit der anderen Hand
preßte sie den eckigen Kopf Kohns sanft in ihre Brust. So
tanzten sie durch viele besessene Stunden.

Kohns Buckel wurde immer schmerzhafter für die anderen
Tänzer. Man wagte Empörung zu äußern. Die Festleitung teilte
dem Kohn mit, daß er ersucht werde, das Tanzen einzustellen.
Mit einem derartigen Buckel dürfe man nicht tanzen. Kohn
widersprach nicht. Lisel Liblichlein sah, daß sein Gesicht
grau wurde.
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Sie führte ihn in eine versteckte Nische. Da sagte sie: »Von
nun an sage ich ‚du‘ zu dir.» Kuno Kohn antwortete nicht,
aber er empfing ihre mitleidende Seele wie ein Geschenk in
seine wasserblauen Troubadouraugen. Sie sagte zitternd, daß
sie ihn mit einem mal so lieb habe, sei ihr
unverständlich... Sie wolle seine arme Hand niemals mehr
loslassen... Sie habe nicht gewußt, daß man so maßlos
glücklich sein könne... Kuno Kohn lud sie ein, ihn an dem
nächsten Abend zu besuchen. Sie sagte gern zu.
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Kuno Kohn und Lisel Liblichlein waren wohl die ersten, die
das taumelnde Fest verließen. Sie gingen flüsternd in den
himmelhellen, von Mondlicht leuchtenden Straßen. Der
verliebte Dichter warf abenteuerliche Schatten mit riesigen
Höckern auf das Pflaster.
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Bei dem Abschied senkte Lisel Liblichlein den Kopf zu Kohn
nieder. Sie küßte mehrmals seinen Mund. So trennten sich
Kuno Kohn und Lisel Liblichlein... Er sagte, er freue sich,
daß sie ihn an dem nächsten Abend besuchen werde. Sie sagte
ganz leise: »Ich... ach... auch...«
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Die Häuser standen wohlgeordnet wie Bücher in Regalen auf
den gepflegten Straßen. Der Mond hatte hellblauen Staub auf
sie geschüttet. Wenige Fenster waren wach, die funkelten
friedlich wie einsame Menschenaugen, hatten immer denselben
goldfarbenen Blick. Kuno Kohn ging nachdenklich heim. Der
Körper war gefährlich nach vorn geneigt. Die Hände lagen
fest auf dem Ende des Rückens. Der Kopf war weit
heruntergefallen. Zu oberst ragte der Buckel, ein
abenteuerlicher spitzer Stein. Kuno Kohn war in dieser
Stunde kein Mensch mehr, er hatte seine eigene Form.
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Er dachte: »Ich will vermeiden, glücklich zu werden. Das
bedeutete: Die Sehnsucht über alle Erfüllung hinaus, die
mein köstlichster Inhalt ist, aufgeben. Den heiligen Buckel,
mit dem ein freundliches Geschick mich geweiht hat, durch
den ich das Dasein viel, viel tiefer, unseliger, herrlicher
gespürt habe, als die Menschen es spüren, zu einer lästigen
Äußerlichkeit degradieren. – Ich will aus Lisel Liblichlein
ihr höheres Wesen herausbilden. Ich will sie heillos
unglücklich machen...«
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Während der Dichter Kohn dies dachte, erstach sich der
Dichter Schulz endgültig mit einem Salatmesser. Er hatte
Kuno Kohn und Lisel Liblichlein bei ihrer vertrauten
Unterhaltung in der Nische beobachtet. Hatte gesehen, wie
sie zusammen weggingen. Er bemühte sich, seinen Jammer zu
besaufen und zu befressen, es half nicht. Nachdem er einige
Stunden gegessen und getrunken hatte, war er geisteskrank.
Er sang: »Der Tod ist eine ernsthafte Angelegenheit... Der
Tod läßt nicht mit sich spaßen... Der Tod ist ein dringendes
Bedürfnis...« Dann pikte er sich zaghaft und zögernd das
erste beste Messer in die linke Brust. Blut und blutige
Salatreste spritzten umher. Diesmal war der
Selbstmordversuch von Erfolg gekrönt.
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<h4 class="center">IV</h4>

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Lisel Liblichlein erschien an dem nächsten Abend früher als
verabredet war. Kuno Kohn öffnete die Tür, Blumen in der
Hand haltend. Er freute sich sichtbar, er sagte, er habe
kaum gehofft, daß sie kommen werde. Sie legte die Arme um
seinen knochigen Körper, preßte ihn an ihren Leib mit
saugendem Druck, sagte: »Du buckelliebes Dummchen... ich hab
dich doch gern –«
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Einige einfache Abendgerichte wurden gegessen. Sie
streichelte ihn, wenn ihr etwas gut schmeckte. Sie sagte,
sie wolle bis nach Mitternacht bei ihm bleiben. Dann könnte
sie mit ihm den Beginn ihres achtzehnten Geburtstages
feiern...
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Aus einer Kirchenuhr kam der neue Tag. Die ersten lauten
Atemzüge drangen wie gestöhnte Gebete in das verhangene
Kohnsche Zimmer. Da war Lisel Liblichleins junger
Seelenkörper ein Tempel geworden, sie hatte sich dem
buckligen Priester mit rührender Selbstverständlichkeit
unter Schmerzen geopfert. Hatte gesagt: »Bist du jetzt froh
–« Lag aufgelöst in Traum und Ergriffenheit. Die dünne Haut
der Lider hüllte sie ein.
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Plötzlich rannte ein Entsetzen über den Körper. Hatte sie
den Schrecken in dem Gesicht wie Krallen. Waren aufgerissene
schreiende Augen über dem Buckligen. Sagte Lisel Liblichlein
tonlos: »Dies – war – das Glück – – –« Kuno Kohn weinte.
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Sie sagte: »Kuno, Kuno, Kuno, Kuno, Kuno, Kuno... Was fange
ich mit dem übrigen Leben an?« Kuno Kohn seufzte. Er sah
ernst und gütig in ihre elenden Augen. Er sagte: »Armes
Lisel! Das Gefühl der vollkommenen Hilflosigkeit, daß dich
überfallen hat, habe ich häufig. Der einzige Trost ist:
traurig sein. Wenn die Traurigkeit in Verzweiflung ausartet,
soll man grotesk werden. Man soll spaßeshalber weiterleben.
Soll versuchen, in der Erkenntnis, daß das Dasein aus lauter
brutalen hundsgemeinen Scherzen besteht, Erhebung zu
finden.« – Er wischte Schweiß von Buckel und Stirn.
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Lisel Liblichlein sagte: »Warum du eine lange Rede hältst,
weiß ich nicht. Was du gesagt hast, verstehe ich nicht. Daß
du mir das Glück genommen hast, war lieblos, Kohn.« – Die
Worte fielen wie Papier.
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Sie sagte, sie wolle gehen. Er möge sich ankleiden. Der
nackte Buckel sei ihr peinlich...
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Kuno Kohn und Lisel Liblichlein sprachen kein Wort mehr, bis
sie sich vor der Tür des Hauses, in dem das Pensionat war,
für immer trennten. Er sah in ihr Gesicht, hielt ihre Hand,
sagte: »Lebe wohl –« Sie sagte leise: »Lebe wohl –«
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Kohn duckte sich in seinen Buckel. Lief niedergebrochen
davon. Tränen verschmierten das Gesicht. Er fühlte die
nachschauenden betrübten Blicke auf seinem Rücken. Da rannte
er um die nächste Häuserecke. Er blieb stehen, trocknete die
Augen mit einem Tuch, eilte weinend weiter.
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Wie Krankheit kroch schleimiger Nebel in der erblindenden
Stadt. Laternen waren düstere Sumpfblumen, die auf
schwärzlich glimmenden Stielen flackerten. Dinge und Wesen
hatten nur fröstelnden Schatten und verwischte Bewegung. Wie
ein Ungetüm torkelte ein Nachtomnibus an Kohn vorüber. Der
Dichter rief: »Jetzt ist man wieder ganz einsam.« – Da
begegnete ihm eine große Bucklige mit langen Spinnenbeinen
in gespenstig durchscheinendem Rock. Der Oberkörper glich
einer Kugel, die auf einem hohen Tischchen liegt. Sie sah
ihn mitleidig lockend an, mit verliebtem Lächeln, das durch
den Nebel zu einer tollen Grimasse gezerrt wurde. Kohn war
sogleich in dem Grau verschwunden. Sie ächzte, dann trug sie
sich weiter.
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Lahmer Tag hinkte heran. Zertrümmerte mit eiserner Krücke
die Reste der Nacht. Das halb ausgelöschte Café Klößchen lag
in dem lautlosen Morgen, eine glänzende Scherbe. In einem
Hintergrund saß der letzte Gast. Kuno Kohn hatte den Kopf in
den bebenden Buckel gesenkt. Die dürren Finger einer Hand
bedeckten Stirn und Gesicht. Der ganze Körper schrie
lautlos.
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