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authorPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2024-11-27 18:15:59 +0100
committerPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2024-11-27 18:15:59 +0100
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--- /dev/null
+++ b/09-alter-westen.rst
@@ -0,0 +1,189 @@
+.. include:: global.rst
+
+ALTER WESTEN
+============
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`D`\ er alte Westen — vom Tiergartenviertel
+abgesehen, das zwar auch viel gelitten, aber doch
+durchgehalten hat — der alte Westen hat verloren, wie man
+von Schönheiten sagt, die aus der Mode gekommen sind. ‚Man‘
+wohnt nicht mehr im alten Westen. Schon um die
+Jahrhundertwende zogen die wohlhabenden Familien fort in die
+Gegend des Kurfürstendamms und später noch weiter bis nach
+Westend oder Dahlem, wenn sie es nicht gar bis zu einer
+Grunewaldvilla brachten. Aber manche von uns, die im alten
+Westen Kinder waren, haben eine Anhänglichkeit an seine
+Straßen und Häuser, denen eigentlich nicht viel Besondres
+anzusehn ist, behalten. Uns ist es ein Erlebnis, eine der
+Treppen hinaufzusteigen, die ehedem zu Freunden und
+Verwandten führten. Es haftet soviel Erinnerung sowohl an
+den nüchtern gediegenen Aufgängen mit braunem Holzgeländer,
+farbloser Wand und den graugeritzten Gestalten im
+Fensterglas als auch an gewissen Palasttreppen mit steil zu
+ersteigendem Hochparterre, falscher Marmorwand und pompöser
+Glasmalerei. Führt uns ein Anlaß oder Vorwand — zum
+Beispiel, ein möbliertes Zimmer zu besichtigen — in eine der
+altvertrauten Wohnungen, so finden wir unter neuer Schicht
+die frühere Welt wieder: hinter verbarrikadierenden
+Schränken die Glasschiebetür, die einst Salon und Berliner
+Zimmer trennte, im sichtbaren schrägen Diwan den Schemen des
+Flügels, der damals hier stand mit seiner Samtdecke und den
+Familienphotographien. Nahe dem Fenster ist in dem ärmlichen
+Topfblumengestell noch etwas von der Tropenwelt der
+Zimmerpalmen geblieben. Von dem Haut-pas am Hoffenster des
+Berliner Zimmers sehen wir auf den Hof mit dem blassen Gras,
+das zwischen Steinen sprießt wie einst. Nur der Pferdestall
+und die Wagenremise des alten Generals aus der Beletage sind
+verdrängt durch eine Autoreparaturwerkstatt.
+
+Ein paar Häuser der alten Zeit sind noch unverändert in
+Nebenstraßen der Maaßen-, Derfflinger- und Kurfürstenstraße,
+die führen in Gärten ein wunderbares Inseldasein. Andre sind
+trotz ihrer Gärten verkommen, im Karlsbad zum Beispiel nahe
+der Potsdamer Brücke. Die eine Brunnenfigur dort im Grünen
+zerfällt so sehr, daß bald ihre Trümmer fortgeschafft werden
+müssen. Die ähnliche im Vorgarten des alten Familienhauses
+mitten im lebhaftesten Geschäftsviertel, Potsdamerstraße
+nahe der Linkstraße, ist noch ganz wohlerhalten, obgleich
+schon eine Zeitung mit ihrem Riesenplakat oben den
+antikisierenden Fries des Hauses verdeckt und im ersten
+Stockwerk sich der Vorderräume bemächtigt hat.
+
+Alter Westen — selbst in den rauchgeschwärzten Straßen nahe
+den Bahnhöfen bewahrt er noch hie und da einen Traubenfries,
+eine weibliche Maske zwischen nackten Jünglingen, die, den
+Thyrsusstab an der Schulter, auf Ranken hocken, eine
+Türfassung wie Tempeltür, all das erbaut, modelliert in
+schlechtem oder mäßigem Material von den allerletzten
+Schinkelschülern, letzte Reste des preußischen
+Griechenwesens.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Ehe wir in Museen und in fremden Ländern die echte Antike zu
+sehen bekommen, gesellt sich beiläufig dem Großstadtkind ein
+wenig Mythos aus zweiter Hand, im Elternhause etwa ein
+bronzener Apoll, der von des Vaters Schreibtisch zur Tür
+hinzeigt, oder im Salon eine Venusbüste, die den Marmor
+ihrer Armstümpfe in düsterm Glase spiegelt: seltsame nackte
+Wesen, man weiß nicht, ob sie zuschauen oder wegschauen.
+Kommt das Kind ins Freie, so begegnet ihm auf Schulweg oder
+Spaziergang bald ein und das andre Wesen dieser wartenden
+Welt. Hinter einem Gartenzaun hebt eine Flora Kranz oder
+Schale. In einer Türnische schänkt eine Hebe aus einem Kruge
+Unsichtbares. Auf der Freitreppe vor der Kohlenhandlung
+steht, das rechte Knie vorgeschoben, in schmiegendem
+Faltenkleid eine der vielen Grazien, die etwas zu halten
+oder anzubieten scheinen, das meist nicht vorhanden ist. Von
+uns älteren Kindern des Berliner Westens erinnert sich
+mancher vielleicht noch an die vier oder sechs Musen, die in
+einem Vorgarten der Magdeburgerstraße standen. Sie sind
+inzwischen verschwunden. Bruchsteinern standen sie da und
+hielten artig, soweit sie noch Hände hatten, ihre Kugel oder
+ihren Stift. Sie verfolgten mit ihren weißen Steinaugen
+unsern Weg, und es ist ein Teil von uns geworden, daß diese
+Heidenmädchen uns angesehen haben.
+
+Ob es wohl noch irgendwo im Tiergarten den bärtigen Apoll
+gibt, der damals auf einem Spielplatz, den ich jetzt nicht
+mehr finde, stand? Wir haben gegen seine Hinterseite, da, wo
+sie den stützenden Stumpf überragte, Prallball gespielt. Das
+war nicht ehrerbietig, hat aber eine Beziehung hergestellt.
+
+An unserm Wege geblieben sind mancherlei Sphinxe, die vier
+zum Beispiel, die auf der Brücke sich wegwenden von den
+beiden Taten des Herkules, welche auf mittlerer Brückenhöhe
+geschehen. Sie tragen sanft jede ein Kind mit Füllhorn auf
+dem Rücken und lassen die Autobusse vorübergehen. Die
+Herkulesse der beiden Taten sind etwas beunruhigend. Sie
+stehen so, daß man immer in Sorge ist, sie selbst oder ihre
+Gegner, der Löwe und der Zentaur, könnten ins Wasser fallen,
+wenn sie es weiter so treiben. Die Sphinxe hingegen sind
+beruhigend. Rätsel geben sie nicht auf. Eine noch harmlosere
+weiß ich über dem Portal eines Hauses, das der Mauer des
+zoologischen Gartens gegenüber liegt. Die wartet wie eine
+freundliche Hausmeistersfrau und hat doch Flügel und Tatzen.
+Allein diese Katze gehört schon halb in die Gegend des
+Kurfürstendamms und nicht mehr in die alte Welt, in der wir
+bleiben wollen. Wir finden zurück in stillere Straßen, und
+angesichts kleiner Kapitelle an den verschiedenen Etagen
+einiger Häuser fällt uns der erste Unterricht über
+Säulenarten ein, den uns bei einem Spaziergang der Vater
+oder der ältere Bruder gab: er lehrte uns den dorischen
+Fladen, die ionische Schnecke und den korinthischen Kelch
+mit seinen vielerlei Blättern unterscheiden. Und fortgesetzt
+wurde diese Vorschule vor ganzen Säulenhallen, wenn man bis
+unter die Linden kam und vom Brandenburger Tor bis zum
+Opernhaus und zur neuen Wache vordrang. Kam man aber nur bis
+zu den Tortempelchen am Leipziger Platz, gab es in nächster
+Nähe wieder etwas wenig Beachtetes zu entdecken. Ich meine,
+im Rasen verteilt, die acht Sandsteingruppen, die — einst
+Laternenträger auf einer längst abgerissenen Brücke — hier
+im Grünen gelandet sind. Daß es Laternen sind, was sie
+tragen, erkannten wir nicht, wir fanden sie nur
+geheimnisvoll um undeutliche Gegenstände und um einander
+bemüht. Sie haben mich immer viel mehr interessiert als die
+beiden Generäle Graf Brandenburg und Graf Wrangel, welche
+näher an der Straße das Interesse auf sich zu lenken suchen.
+Wenn ich eine Stimme im Rat der Stadt hätte, würde eine
+ganze Reihe solcher Kriegshelden und sonstig berühmten
+Männer, die auf Plätzen, an Brücken und Alleen sich
+vordrängen mit ihren porträtähnlichen Steingesichtern oder
+Bronzeröcken, durch unbestimmte Gartengötter ersetzt, die
+nicht viel anhaben.
+
+Nun, bis es dazu kommt, wollen wir zufrieden sein mit dem,
+was wir haben, und sei es auch nur das Kleinwerk an alten
+Häusern, Medaillons mit Mädchenköpfchen in reichem Haar oder
+Jünglingsgesichtern unter phrygischer Mütze, kleinen Opfer-
+oder Triumphzügen in Flachrelief über einer Beletage und
+Putten, die zwischen Blattwerk und Arabesken über Türen oder
+unter Fenstern hocken. Diese Putten waren immer besonders
+vertrauenerweckend, da sie an den eigenen Knabenkörper
+erinnerten. Ungewöhnlich verlockend aber wurden sie vor dem
+Zeughaus, wo sie überlebensgroß zu Füßen der Riesinnen
+stehen und, während die da oben nah bei ihren gewaltigen
+Brüsten Belehrendes vornehmen, sich selig an die Fülle der
+Gewandfalten schmiegen dürfen.
+
+Bekommt man solche Putten und Göttinnen nur selten zu sehen,
+so gibt es doch eine andere Art mythologischer Personen,
+eine ganze *Plebs deorum*, die uns häufig Gesellschaft
+leistet: die Karyatiden und Atlanten. Von so gelehrten Namen
+weiß das Kind nichts, es sieht Mädchen, die, unter leichter
+Last in die Hauswand eingelassen, ihr kleines Kapitell als
+Kopfputz tragen. Schon vom Schoß ab werden sie Mauerwerk.
+Andre müssen sich mühen und ducken, um vorragendes Gebälk zu
+stützen. Da wechseln die Arme, bald wird der rechte, bald
+der linke gebraucht und die freie Hand ruht auf dem Knie.
+Bärtige Männer schleppen das Haus auf erhobenen Armen und
+mit dem Nacken. Jünglinge stemmen die eine Schulter unter
+den Torbogen und strecken den Arm dem Nachbarn hin über ein
+Löwenhaupt. Manche haben wirklich schwer zu schleppen und
+schlagen gewaltige Bauchfalten, andre scheinen die Mühe
+etwas zu übertreiben und machen mehr Muskelspiel als
+erforderlich.
+
+Während diese Männer und Weiber im Freien ihr Wesen treiben,
+erwarten uns bei seltenen festlichen Gelegenheiten einige
+von ihnen in geschlossenen Räumen. Man wird mitgenommen, um
+den Freischütz oder die Zauberflöte zu hören und sieh, da
+tragen die weißen Freundinnen von der alltäglichen Straße
+feierlich die Brüstungen des Zuschauerraums. Und in einem
+andern Kunsthause stehen zwei, die ich immer besonders
+geliebt habe, mühelos aufrecht unter ihrer Last wie ihre
+Vorbilder im Tempel zu Athen. Das sind die beiden an der
+großen Orgel der Philharmonie, die sich rechts und links von
+dem filigranenen Gitterwerk des mächtigen Musikheizkörpers
+erheben. Sie halten Leiern in den Händen, ohne
+hineinzugreifen, und schauen leeren Gesichts geradeaus. Und
+all unser Gefühl konnte in die Hülsen ihrer Gesichter
+eingehen, wenn die Wasser der Musik uns zu ihnen
+emportrugen. Wohl gibt es da näher als diese gestrengen
+Göttinnen zwei christliche Engel, die mit belasteten Flügeln
+unter der Saalwölbung sich ducken und viel entgegenkommender
+auf uns heruntersehen, wir aber bleiben den fernen
+Heidenfrauen treu.