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author | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2024-11-27 18:15:59 +0100 |
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Aber dieser +Zeitlupenblick des harmlosen Zuschauers enerviert sie. Sie +merken, daß bei mir nichts ‚dahinter!‘ steckt. + +Nein, es steckt nichts dahinter. Ich möchte beim Ersten +Blick verweilen. Ich möchte den Ersten Blick auf die Stadt, +in der ich lebe, gewinnen oder wiederfinden |ellipsis| + +In stilleren Vorstadtgegenden falle ich übrigens nicht +minder unangenehm auf. Da ist gegen Norden ein Platz mit +Holzgerüst, ein Marktgerippe und dicht dabei die +Produktenhandlung der Witwe Kohlmann, die auch Lumpen hat; +und über Altpapierbündeln, Bettstellen und Fellen hat sie an +der Lattenveranda ihrer Handlung Geraniumtöpfe. Geranium, +pochendes Rot in träg grauer Welt, in das ich lange +hineinsehn muß. Die Witwe wirft mir böse Blicke zu. Zu +schimpfen getraut sie sich nicht, sie hält mich vielleicht +für einen Geheimen, am Ende sind ihre Papiere nicht in +Ordnung. Und ich meine es doch gut mit ihr, gern würde ich +sie über ihr Geschäft und ihre Lebensansichten befragen. Nun +sieht sie mich endlich weggehn und gegenüber, wo die +Querstraße ansteigt, in die Kniekehlen der Kinder schauen, +die gegen die Mauer Prallball spielen. Langbeinige Mädchen, +entzückend anzusehn. Sie schleudern den Ball abwechselnd mit +Hand, Kopf und Brust zurück und drehn sich dabei, und die +Kniekehle scheint Mitte und Ausgangspunkt ihrer Bewegungen. +Ich fühle, wie hinter mir die Produktenwitwe ihren Hals +reckt. Wird sie den Schupo darauf aufmerksam machen, was ich +für einer bin? Verdächtige Rolle des Zuschauers! + +Wenn es dämmert, lehnen alte und junge Frauen auf Kissen +gestützt in den Fenstern. Mir geschieht mit ihnen, was die +Psychologen mit Worten wie Einfühlung erledigen. Aber sie +werden mir nicht erlauben, neben und mit ihnen zu warten auf +das, was nicht kommt, nur zu warten ohne Objekt. + +Straßenhändler, die etwas ausschreiend feilhalten, haben +nichts dagegen, daß man sich zu ihnen stellt; ich stünde +aber lieber neben der Frau, die soviel Haar aus dem vorigen +Jahrhundert auf dem Kopf hat, langsam ihre Stickereien auf +blaues Papier breitet und stumm Käufern entgegensieht. Und +der bin ich nicht recht, sie kann kaum annehmen, daß ich von +ihrer Ware kaufen werde. + +Manchmal möcht ich in die Höfe gehn. Im älteren Berlin wird +das Leben nach den Hinter- und Gartenhäusern zu +dichter, inniger und macht die Höfe reich, die armen Höfe +mit dem bißchen Grün in einer Ecke, den Stangen zum +Ausklopfen, den Mülleimern und den Brunnen, die +stehngeblieben sind aus Zeiten vor der Wasserleitung. +Vormittags gelingt mir das allenfalls, wenn Sänger und +Geiger sich produzieren oder der Leierkastenmann, der +obendrein auf einem freien Fingerpaar Naturpfeife zum besten +gibt, oder der Erstaunliche, der vorn Trommel und hinten +Pauke spielt (er hat einen Haken am rechten Knöchel, von dem +eine Schnur zu der Pauke auf seinem Rücken und dem +aufsitzenden Schellenpaar verläuft; und wenn er stampft, +prallt ein Schlegel an die Pauke, und die Schellen schlagen +zusammen). Da kann ich mich neben die alte Portierfrau +stellen — es ist wohl eher die Mutter der Pförtnersleute, so +alt sieht sie aus, so gewohnheitsmäßig sitzt sie hier auf +ihrem Feldstühlchen. Sie nimmt keinen Anstoß an meiner +Gegenwart und ich darf hinaufsehn in die Hoffenster, an die +sich Schreibmaschinenfräulein und Nähmädchen der Büros und +Betriebe zu diesem Konzert drängen. Selig benommen pausieren +sie, bis irgend ein lästiger Chef kommt und sie wieder +zurückschlüpfen müssen an ihre Arbeit. Die Fenster sind alle +kahl. Nur an einem im vorletzten Stockwerk sind Gardinen, da +hängt ein Vogelbauer, und wenn die Geige von Herzen +schluchzt und der Leierkasten dröhnend jammert, fängt ein +Kanarienvogel zu schlagen an als einzige Stimme der stumm +schauenden Fensterreihen. Das ist schön. Aber ich möchte +doch auch mein Teil an dem Abend dieser Höfe haben, die +letzten Spiele der Kinder, die immer wieder heraufgerufen +werden, und Heimkommen und Wiederwegwollen der jungen Mädchen erleben; +allein ich finde nicht Mut noch Vorwand, mich einzudrängen, +man sieht mir meine Unbefugtheit zu deutlich an. + +Hierzulande muß man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht +man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für +unsereinen. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Ich kann noch von Glück sagen, daß eine mitleidige Freundin +mir manchmal erlaubt, sie zu begleiten, wenn sie Besorgungen +zu machen hat. In die Strumpfklinik zum Beispiel, an deren +Tür steht: ‚Gefallene Maschen werden aufgenommen.‘ In diesem +düstern Zwischenstock huscht eine Bucklige durch ihr +muffiges wolliges Zimmer, das eine neue Glanztapete +aufhellt. Ware und Nähzeug liegen auf Tischen und Etageren +um Porzellanpantöffelchen, Biskuitamoretten und +Bronzemädchen herum, wie Herdentiere um alte Brunnen und +Ruinen lagern. Und das darf ich genau besehn und daran ein +Stück Stadt- und Weltgeschichte lernen, während die Frauen +sich besprechen. + +Oder ich werde zu dem Flickschneider mitgenommen, der in +einem Hinterhaus der Kurfürstenstraße zu ebner Erde wohnt. +Da trennt ein Vorhang, der nicht ganz bis zum Boden reicht, +den Arbeitsraum vom Schlafraum ab. Auf einem gefransten +Tuch, das über den Vorhang hängt, ist bunt der Kaiser +Friedrich als Kronprinz dargestellt. ‚So kam er aus San +Remo‘, sagt der Schneider, der meinem Blick gefolgt ist, +und zeigt dann selber seine weiteren monarchentreuen +Schätze, den letzten Wilhelm photographiert und sehr gerahmt +mit seiner Tochter auf den Knien und das bekannte Bild des +alten Kaisers mit Kindern, Enkeln und Urenkeln. Gern will er +meiner Republikanerin das grüne Jackett umnähen, aber im +Herzen hält er's, wie er sagt, ‚mit den alten Herrschaften‘, +zumal die Republik nur für die jungen Leute sorge. Ich +versuche nicht, ihn umzustimmen. Mit seinen Gegenständen +kann es meine politische Erkenntnis nicht aufnehmen. Er ist +sehr freundlich mit dem Hunde meiner Freundin, der an allem +herumschnuppert, neugierig und immer auf der Spur gerade wie +ich. + +Mit diesem kleinen Terrier gehe ich gern spazieren. Wir sind +dann beide ganz in Gedanken; auch gibt er mir Anlaß, öfter +stehnzubleiben, als es sonst einem so verdächtigen Menschen +wie mir erlaubt wäre. + +Neulich ist es uns aber schlimm ergangen. Ich holte ihn aus +einem Hause ab, in dem wir beide fremd waren. Wir gingen +eine Treppe hinunter, in die ein Fahrstuhlgehäuse mit +Gitterwerk eingebaut war. Ein düstrer Eindringling war +dieser Lift in dem einst gelassen breiten Treppenhaus. Und +die bauschigen Wappendamen der bunten Fenster sahen irr auf +das Wanderverlies, und die Kleinodien und die Attribute +lockerten sich in ihren Händen. Sicher roch es auch sehr +diskrepant in diesem Ensemble verschiedener Epochen, was +meinen Begleiter von Gegenwart und Sitte derart ablenkte, +daß er auf der ersten Stufe der steilen Stiege, die zu Füßen +des Fahrgehäuses vom Hochparterre hinunterführte, — sich +vergaß! So etwas, hat mir später meine Freundin versichert, +konnte einem so stubenreinen Geschöpf nur in meiner +Gesellschaft passieren. Das nahm ich gern hin. Härter aber +traf mich der Vorwurf, den mir im Augenblick des peinlichen +Ereignisses der Portier des Hauses machte, der zum Unglück +gerade, als wir uns vergaßen, die Nase aus seiner Loge +steckte. In richtiger Erkenntnis meiner Mitschuld wandte er +sich nicht an das Hündchen, sondern an mich. Er zeigte mit +grau drohendem Finger auf die Stätte der Untat und herrschte +mich an: ‚Wat? Sie woll’n ein jebildeter Mensch sint?‘ diff --git a/02-ich-lerne.rst b/02-ich-lerne.rst new file mode 100644 index 0000000..15292df --- /dev/null +++ b/02-ich-lerne.rst @@ -0,0 +1,226 @@ +.. include:: global.rst + +ICH LERNE +========= + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`J`\ a, er hat recht, ich muß etwas für meine +Bildung tun. Mit dem Herumlaufen allein ist es nicht getan. +Ich muß eine Art Heimatskunde treiben, mich um die +Vergangenheit und Zukunft dieser Stadt kümmern, dieser +Stadt, die immer unterwegs, immer im Begriff, anders zu +werden, ist. Deshalb ist sie wohl auch so schwer zu +entdecken, besonders für einen, der hier zu Hause ist |ellipsis| Ich +will mit der Zukunft anfangen. + +Der Architekt nimmt mich in sein weites, lichtes Atelier, +führt von Tisch zu Tisch, zeigt Pläne und plastische Modelle +für Geländebebauung, Werkstätten und Bürogebäude, +Laboratorien einer Akkumulatorenfabrik, Entwürfe für eine +Flugzeugausstellungshalle, Zeichnungen für eine der neuen +Siedlungen, die Hunderte und Tausende aus Wohnungsnot und +Mietskasernenelend in Luft und Licht retten sollen. Dazu +erzählt er, was heute die Baumeister von Berlin alles planen +und zum Teil im Begriff sind, auszuführen. Nicht nur +Weichbild und Vorstadt will man durch planmäßige +Großsiedlung umgestalten, auch in den alten Stadtkörper soll +neuformend eingegriffen werden. Der künftige Potsdamerplatz +wird von zwölfgeschossigen Hochhäusern umgeben sein. Das +Scheunenviertel verschwindet; um den Bülowplatz, um den +Alexanderplatz entsteht in gewaltigen Baublöcken eine neue +Welt. Immer neue Projekte werden entworfen, um die Probleme +der Grundstückwirtschaft und des Verkehrs in Einklang zu +bringen. Künftig darf nicht mehr der Bauspekulant und der +Maurermeister durch seine Einzelbauten den Stil der Stadt +verderben. Das läßt unsere Bauordnung nicht zu. + +Der Architekt berichtet von den Ideen seiner Kollegen: Da +die Stadt allmählich auf dem einen Havelufer Potsdam +erreichen wird, stellt einer einen Plan mit Bahnen und +Verkehrslinien auf, dem er die schönen Waldbestände und +einzelnen Seen einfügt, um schließlich die Havel zwischen +Pichelsdorf und Potsdam zu einer Art Außenalster zu machen. +Ein anderer will zwischen Brandenburger Tor und Tiergarten +einen großen repräsentativen Platz schaffen, so daß erst die +Siegesallee die Parkgrenze bilden soll. Auf dem Messegelände +soll die Ausstellungsstadt die Form eines riesigen Eis +bekommen, mit einem Innen- und Außenring von Hallen, einem +neuen Sportsforum und einem Kanal, an dessen Endpunkt +zwischen Gartenterrassen ein Wasserrestaurant liegt. +Potsdamer und Anhalter Bahnhof sollen auf das Rangiergeleise +des nächsten Vorortsbahnhofs verlegt werden, um Platz zu +schaffen für eine breite Avenue mit Kaufhäusern, Hotels und +Großgaragen. Im Zusammenhang mit der Vollendung des +Mittellandkanals ändert sich Berlins Wasserstraßennetz, und +die entsprechende Umgestaltung alter und Erbauung neuer +Ufer, Brücken, Anlagen stellt wichtige Aufgaben. Und dann +das neue Baumaterial: Glas und Beton, Glas an Stelle von +Ziegel und Marmor. Schon gibt es eine Reihe Häuser, deren +Fußböden und Treppen aus Schwarzglas, deren Wände aus +Opakglas oder Alabaster bestehn. Dann die Eisenhäuser, ihre +Verkleidung mit Keramik, ihre Rahmung mit glänzender Bronze +usw. + +Der Architekt bemerkt meine Verwirrung, er lächelt. Also +schnell ein bißchen Anschauungsunterricht. Hinunter auf die +Straße und in sein wartendes Auto. Wir sausen den +Kurfürstendamm entlang an alten architektonischen Schrecken +und neuen ‚Lösungen‘ und Erlösungen. Wir halten vor den +Gebäuden des Kabaretts und des Filmpalastes, die eine gerade +durch ihre leisen Verschiedenheiten so eindringliche Einheit +bilden, beide beschwingt im Raume kreisend, immer wieder die +mitreißende Einfachheit ihrer großen Linien ziehend, wobei +das eine sich mehr in die Breite lagert, das andre mehr +aufragt. Der Meister neben mir erklärt eines Meisters Werk. +Und um, was seine Worte umfassen, aus der Mitte des Bauwerks +zu verdeutlichen, verläßt er mit mir den Wagen, führt mich +durch den breiten Wandelgang, der in dunklem Rot dämmert, +ins Innere des einen Theaterraums und zeigt mir, wie die +ganze Schauburg aus der Form des Kreises entwickelt ist und +wie die hellen Wände ohne vereinzelten und abwegigen Schmuck +durch flächige Muster gegliedert sind. + +Dann fahren wir eine Querstraße hinauf durch ein +kleinbürgerliches Stück Charlottenburg und am Lietzensee +vorbei zum Funkturm und den Ausstellungshallen, die er mit +ein paar Worten zur größeren Messestadt ausbaut. Ehe er +damit fertig ist, haben wir den Reichskanzlerplatz erreicht +und er stellt mir das Unterhaltungsviertel dar, das hier +entstehen soll, die beiden Baublöcke mit Kinos, Restaurants, +Tanzsälen, einem großen Hotel und dem Lichtturm, der das +Ganze überragen wird. Wir wenden in eine Parallelstraße des +Kaiserdamms und halten vor einem weiten Neubaugelände. Hier +ist mein Führer selbst Bauherr. Werkmeister kommen uns +entgegen und erstatten ihm Bericht. Indes seh ich in das +weitläufige Chaos, aus dem sich mir zunächst die beiden +Pylonen am Eingang, schon im Rohbauskelett deutlich +gestaltet, entgegenrecken. Dann geh ich mit dem Meister über +Schutt und Geröll bis an den Rand, hinter dem der Abgrund +der Mitte beginnt. Der Grundriß, wie man ihn sonst auf dem +Zeichentisch vom Blatt ablesen muß, dem Notenblatt dieser +‚gefrorenen Musik‘, liegt nun vor mir ausgebreitet. Dort +werden die beiden großen Depothallen sich erheben, die +Schlafstellen der Wagen. Hier werden Geleise entlangführen. +Am Rande rings werden Gärten entstehen, in denen unter den +Fenstern vieler lichter Wohnungen die Kinder der Beamten, +Fahrer, Schaffner spielen sollen. Wir fahren außen die eine +Seite des großen Vierecks entlang. An einer Stelle ist die +Straße erst im Entstehen begriffen, und wir müssen ein Stück +über wuchernde Wege gehn. Und um uns her wächst aus des +Baumeisters Worten eine ganze Stadt. + +Was er mir so am Werdenden sichtbar gemacht hat, kann er mir +nun auch noch am Vollendeten zeigen. Über die Spreebrücke +beim Schloß Charlottenburg eilt unser Wagen den Kanal +entlang und zum weiten Westhafen. Ein Blick auf die düsteren +Gefängnismauern von Plötzensee. Wir kommen durch die endlose +Seestraße an Kirchhofsmauer und Mietskasernen hin bis zur +Müllerstraße. Die mächtige Siedlung der Wagen und Menschen +taucht auf. Breiter Zugang eröffnet uns den Blick auf drei +eisengestützte Hallen. Wir durchschreiten das Tor und sehn +von innen die dreistöckigen Seitenflügel der Wohnstätten, +die vier Stockwerke der Frontseite und die mächtigen Pylonen +der Ecken. Dann treten wir überall ein, erst in die Glas- +und Eisenhalle, in der die Wagen wohnen, sehn dort hinauf +zum Bahnhofshimmel und hinab in die seltsame Welt der Gänge +unter den Schienensträngen. Dann in die Verwaltungsräume, +Reparaturwerkstätten und endlich über einladend ansteigende +Treppen in einige der hübschen Wohnungen. + +Beim Umschreiten des Komplexes begreife ich, ohne es +bautechnisch ausdrücken zu können, wie der Künstler durch +Wiederholung bestimmter Motive, Betonung bestimmter Linien, +durch das Vorziehen scharfer Kanten an den steigenden +Flächen und ähnliches diesem Riesending aus Backstein, +welches Bahnhof, Büro und Menschenhaus zugleich sein muß, +einen unvergeßlich einheitlichen Gesamtcharakter gegeben +hat. + +An der Nordostseite schauen wir weit über Feld, und ganz nah +bekomme ich des Riesen winzigen Nachbar gezeigt, ein +Häuschen, ‚so windebang‘, das da tief im Felde steht. Das +‚schmale Handtuch‘ nennen es die Leute. Das Nebeneinander +der ragenden Hallen und dieser Hütte ist wie ein Wahrzeichen +des Weichbildes von Berlin. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Am Abend dieses übervollen Tages bin ich bei einer alten +Dame zu Gaste gewesen, die aus Sekretär und Truhe +Erinnerungsstücke hervorholte, Dinge, die ihrer Ahnin im +alten Haus an der Stralauerstraße gehört haben, die große +englische Puppe im ergrauten Musselinempirekleid mit den +kreuzweis gebundenen, immer noch rosenfarbenen +Seidenschuhen; Tellerchen und Leuchterchen, sorglich aus +Holz geschnitten, mit denen diese Ahnin als Kind im Garten +spielte ganz nah an der Spree und der hölzernen +Waisenbrücke, von der Menzel auf seinem berühmten Stich +Chodowiecki ins Wasser schauen läßt. Aus einer Blechkapsel +nimmt sie die Hauspapiere mit den Wachssiegeln. Zierliche +Stammbücher der Urgroßtanten darf ich aufschlagen, in denen +die haarscharfen Schnörkelbuchstaben poetischer Widmungen +den kolorierten Buketts und hauchzarten Landschaften +befreundeter Maler gegenüberstehn. In den Landschaften +findet sich als Staffage bisweilen ein Reitersmann in gelbem +Frack und Stulpstiefeln oder eine Reiterin in violettem +Kleid. Die Buketts sind in Form und Farbe verwandt dem, was +mit spitzem Pinsel die Porzellanmaler auf Teller und Vasen +und Schalen ‚Königlich Berlin‘ setzten. + +Ich bekomme sogar eine Brautkrone von anno 1765 in die Hand, +mit grüner Seide umsponnenen, blütenbildenden Draht. Eine +Tabakdose aus Achat darf ich betasten. Die gütige Besitzerin +all dieser Schätze langt kleine Familienporträts von den +Wänden, Frauenköpfe in gelocktem, leichtgepudertem Haar und +zartfarbigem Schleiertuch, Herren in Perücke und +dunkelblauem Frack. Und dann erzählt sie von der Berliner +Putzstube, der schöneren Vorgängerin all der ‚guten Stuben‘ +mit Mahagonimöbeln und der blauen und roten Salons, die wir +bei unseren Großeltern gekannt haben, von der Putzstube, +die ein verschlossenes Heiligtum war, das die Kinder nur zu +besondern Gelegenheiten betreten durften. Wir schlagen eines +ihrer Lieblingsbücher, die Jugenderinnerungen eines alten +Berliners von Felix Eberty, auf und lesen: »Die Wände waren +hellgrau gestrichen, Tapeten kamen nur bei den reichsten +Leuten vor. Auf die Wand hatte Wilhelm Schadow, der +nachherige Direktor der Düsseldorfer Akademie und meines +Vaters Jugendfreund, demselben als Hochzeitsgeschenk die +vier Jahreszeiten grau in grau und mit weißen Lichtern +gehöht schön und plastisch gemalt, so daß es ein Relief zu +sein schien. Ein herrlicher Teppich, Erdbeerblätter, Blüten +und Früchte zeigend, bedeckte den Fußboden, die Möbel waren +sehr zierlich aus weißem Birkenmaserholz gefertigt. Ein +kleiner Kronleuchter zu vier Lichtern, an Glasketten +hängend, schien uns überaus prächtig und ein unnahbares +Kunstwerk zu sein, das wir gar zu gern mit den Händen +berührt hätten, wenn es nicht aufs strengste verboten +gewesen wäre; denn die Möglichkeit, diese Begierde zu +befriedigen, war vorhanden, weil die Zimmerhöhe gestattet +hätte, mittels eines Stuhls die glänzenden Glasstückchen zu +erreichen.« + +Wir sprechen von noch älteren Berliner Interieurs. Sie hat +Bilder von Zimmern, in denen die mit Tapisseriearbeit +überzogenen L’Hombre-Tische standen, die ausgenähten +Fauteuils, die Servanten mit den schönbemalten +Porzellantassen, auf der Kommode englische Repetieruhren, in +der Ecke ‚wohlkonditionierte‘ lackierte Flügel der +friderizianischen Zeit. Sie weiß von den hohen Betten, zu +denen mehrstufige Tritte führten, von Himmelbetten *à la +duchesse* und denen *à tombeau*, vom Bettzopf, Nachthabit +und Nachthandschuhen, von Tapeten *en hautelisse* mit +Personnagen nach französischen Dessins. Immer mehr Besitz +kramt sie heraus, Daguerreotypien, ausgetuschte +Kupferstiche, ausgeschnittene, aufgeklebte und mit +Lackfirnis überzogene Figuren |ellipsis| + +Über uns hängt eine Ampel, ein bronzenes Blumenkörbchen, aus +dem Blätter von grünem Glas und hellfarbige gläserne Winden +hangen und sich heben. Das Stück ist aus den dreißiger, +vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als eine neue +Vorliebe für das Rokoko aufkam. Das Licht flackert im +Nachtwind, als wäre es nicht elektrisch, sondern Öllicht +einer Astraganlampe. Es ist spät geworden für alte Damen. +Und ich merke, wie müde ich bin von soviel Berlin. diff --git a/03-etwas-von-der-arbeit.rst b/03-etwas-von-der-arbeit.rst new file mode 100644 index 0000000..7a29922 --- /dev/null +++ b/03-etwas-von-der-arbeit.rst @@ -0,0 +1,336 @@ +.. include:: global.rst + +ETWAS VON DER ARBEIT +==================== + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`S`\ icherlich ist in andern Städten der +Lebensgenuß, das Vergnügen, die Zerstreuung bemerkenswerter. +Dort verstehn es vielleicht die Leute, sich sowohl +ursprünglicher als auch gepflegter zu unterhalten. Ihre +Freuden sind sichtbarer und schöner. Dafür hat aber Berlin +seine besondere und sichtbare Schönheit, wenn und wo es +arbeitet. In seinen Tempeln der Maschine muß man es +aufsuchen, in seinen Kirchen der Präzision. Es gibt kein +schöneres Gebäude als die monumentale Halle aus Glas und +Eisenbeton, die Peter Behrens für die Turbinenfabrik in der +Huttenstraße geschaffen hat. Und von keiner Domempore gibt +es ein eindrucksvolleres Bild als, was man von der +Randgalerie dieser Halle sieht, in der Augenhöhe des Mannes, +dessen Luftsitz mit Kranen wandert, welche schwere +Eisenlasten packen und transportieren. Auch ehe man +versteht, in welcher Art die metallenen Ungeheuer, die da +unten lagern, zur Bereitung ähnlicher und andersartiger +Ungeheuer dienen, ist man von ihrem bloßen Anblick +ergriffen: Gußstücke und Gehäuse, noch unbearbeitete +Zahnkranztrommeln und Radwellen, Pumpen und Generatoren halb +vollendet, Bohrwerke und Zahnradbetriebe fertig zum Einbau, +riesige und zwergige Maschinen auf dem Prüfstand, Teile von +Turbogeneratoren in der betonierten Schleudergrube. + +Während wir in dieser Halle mehr bestaunen als begreifen, +wird uns in den kleineren Werkstätten manches zugänglicher. +Wir sehen, wie Nickelstahl in Stangenform auf der Schaufel +gefräst und geschliffen wird, wie in die Rinnen der +Induktorwelle blecherne Zähne eingeschoben werden, wie die +gewickelten Erregerspulen zwischen das Zahnwerk greifen. Wir +besuchen die Schmiede, wo die Arbeiter glühende Eisenstücke +unter den Dampfhammer halten, der sie kerbt und hobelt wie +weiches Wachs. + +Wir stehn am Wasser vor der Transformatorenfabrik und sehen, +wie Kohle aus dem Spreekahn mit der Laufkatze herübergekrant +wird in eine Art Eisenhammer, um dort ganz ohne Menschenhand +in Kohlenstaub verwandelt zu werden. Wir treten in die +Halle, in der niemand zugegen ist, und sehn die Verbrennung +in glühender Grotte. Nach den Räumen mit den großen +Maschinen besuchen wir Säle, wo Arbeiterinnen ganz dünnen +Draht spulen, Hartpapier walzen und zu Schichten ganz +leichter harter glatter Rollen pressen, wo von Hand zu Hand +das schmale Stanzplättchen wandert, das geglüht, geölt, +geschnitten wird. + +In der Zählerfabrik macht ein Griff der Maschine aus der +Blechplatte eine Schüssel mit hochgebogenem Rand, ein +zweiter durchlocht sie. Funkensprühend wird sie genietet und +geschweißt. Magnete werden eingefügt. Das ganze Haus ist +eine Kette der Arbeit, die ununterbrochen die Werkbänke hin +von Stockwerk zu Stockwerk wandert und in weitertragende +Schachte geschoben wird. Alle Teile und Teilchen, die den +sitzenden Frauen zur Hand liegen, werden dem werdenden +Zähler eingefügt, angesetzt, eingeschraubt und geprüft; und +zuletzt wird das ganze Zählergebäude verpackt. Stahlbänder +schieben sich um Kisten, die auf Rollen zum Fahrstuhl +gefördert und auch dort nicht von Menschenhand, sondern +mittels eines Hebels angehoben werden. Alle Kraftvergeudung +und schwächende Anstrengung wird erspart; immer mehr wird +der Arbeiter nur noch Wächter und Anlasser der Maschine. Und +wie die Maschinenteile, so wandern auf laufendem Bande auch +Tassen und Becher, in welche die Mädchen ihren Tee, Kaffee +und Kakao getan haben, und der kommt dann von seinem +Rundgang durch die Küche gekocht und fertig zu ihnen zurück. +Jede, die da sitzt, hat hinter dem laufenden Band nur ein +kleines Stückchen Tisch für sich, und doch ist Platz genug, +daß die Nachbarinnen der, die heute Geburtstag hat, ein paar +bunte Tassen, Teller und Löffelchen aufschichten konnten, +die hinter dem Wanderwerk rührend stillstehn. + +Es ist nicht nötig, alles zu verstehn, man braucht nur mit +Augen anzuschauen, wie da etwas immerzu unterwegs ist und +sich wandelt. Da ist in einer dieser Stätten andächtigen +Eifers ein Metall, von dem man dir erzählt, daß es einen +besonders hohen Schmelzpunkt hat und sehr schwer verdampft. +In Öfen kann’s nicht geschmolzen werden, die würden in +Stücke gehn, darum muß das aus dem Mineral gewonnene +Metallpulver durch Pressen, Sintern, Hämmern und wieder +Glühen allmählich zum festen Stab und weiter zum Draht +geformt werden. Und nun kannst du sehn, wie der Draht durch +Hämmermaschinen und durch Ziehsteine geht, an den Enden +gespitzt und so lange geglüht und gezogen wird, bis er zum +haarfeinen Fädchen geworden ist, das in der Glühlampe +gebraucht wird. All das machen die Maschinen, die Menschen +stellen nur an, nehmen heraus, schieben weiter. Und während +tausend solcher dünnen und immer dünneren Drähte entstehn, +wachsen in andern Sälen tausend Lampenkörper. An runden +Maschinentischen, die vor ihren Händen sich drehn, sitzen +die Geduldigen, reichen den Griffen zu und nehmen ihnen ab, +und gehorsam quetscht die Maschine den Lampenfuß, setzt +Halter ein, bespannt das Gestell, schmelzt, pumpt aus, +sockelt, lötet, ätzt, stempelt und verpackt. Aber das ist +wieder nur ein Teil der Arbeit. Da wird noch geprüft, +gemessen und sortiert, da wird mattiert und gefärbt. + +All das geschieht unablässig in Siemensstadt, +Charlottenburg, Moabit, Gesundbrunnen, hinter der Warschauer +Brücke und an der Oberspree. + +Und so großartig es ist, im Saal, von der Treppe, von der +Galerie auf die kreisenden und surrenden Maschinen zu sehn, +so ergreifend ist der Anblick der Nacken und Hände derer, +die da werkeln, und die Begegnung des Auges mit ihren +aufschauenden Augen. + +Aus dem, was diese Menschen schaffen, kommt Licht in dein +kleines Zimmer und wandert Häuserfronten entlang, bestrahlt, +preist an, wirbt und baut um. Leuchtende Kannelüren an der +Decke eines Riesenraums bilden ein festliches Zeltdach von +Licht. Konturenbeleuchtung gliedert die Fassade eines +Hauses, Flutlicht durchblutet Schaufenster, blaue +Taglichtlampen strahlen im Seidensaal, und der Stoff, den +der Verkäufer vorlegt, hat die Farbe, die ihm sonst die +Sonne gibt. Draußen gehn Wanderschriften über Transparente, +Buchstaben formen sich zu Worten und verschwinden, Bilder +tauchen auf und wechseln, farbige Räder rollen stumm. + +Ganze Häuser entstehen bereits in Hinblick auf die +Gliederung des Baukörpers durch das Licht. Man ahnt das +Kaufhaus der Zukunft, dessen Wand und Decke Glas sein wird +und das Ganze Eine Helle, tags die überall hindringende +Sonne, nachts das von Menschen und Maschinen geschaffene +Licht. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Daran arbeiten die in den großen Hallen des Eisens und der +Elektrizität; um den Fleiß von Berlin zu begreifen, mußt du +aber auch durch die kleinen Fabriken gehn. Mußt eintreten in +einen der Gebäudekomplexe und Höfe des Südostens. Besuche, +wie ich es tat, im Viertel der Leder- und +Galanteriewarenbranche, die Rahmenfabrik. Auf den Böden +lagert das Holz, wie es aus der Sägerei kommt, und trocknet +bei leichtem Durchzug. Wird es dann zugeschnitten, behält +jede Scheibe noch am Rand ein Stückchen Wald. So kommt sie +in eine Kerbmaschine mit feinen Zähnen, die Ecken einbeißen +zum Verzahnen der Rahmenteile, und durch die Exhaustoren +fliegen die Späne. Mit der Kreissäge werden die langen +Leisten verkleinert. Wenn in den großen Maschinenhallen die +Männer klein neben Kolossen erscheinen und wie Seeleute oder +Bergleute vorsichtig am Rand der elementaren Gewalten +bleiben, so beherrschen sie hier ihr Maschinentier mit +Bändigerblicken. Ich muß immer wieder den Buckligen ansehn +dort an der Kreissäge, dessen Backenmuskeln zornig und +herrisch zucken, so oft auf seinen Druck das Messer ins Holz +greift. + +Bei den siedenden Leimtöpfen und bei Glas und Pappe, die den +Rahmen eingefügt werden, hausen viel Mädchen und Frauen. Die +Leimerinnen sind ein derberer Schlag als die Kleberinnen und +Poliererinnen. Und an diesen könnte man Studien machen über +die Beziehungen zwischen dem einen Handgriff, der zu +vollführen ist, und der Hand, die ihn vollführt. Wie feine +Finger hat die, welche immer nur winzige Nägelchen in die +Pappschicht hinterm Rahmen einsetzt. Wie geduldig sind die +langen Hände jener, die Bilderränder so beschneidet, daß sie +gut hinter das Glas passen. Wie kindlich rund sind die +Händchen der Blaßblonden, die eine Blechform in die kreidige +Masse drückt und das Geformte angefeuchtet aufs Holzbrett +abstreift, wie es Kinder mit ihren Sandformen auf dem +Spielplatz tun. Ihre Arbeit ist ein sympathisches +Sonderwerk, denn die Rokoko-Ornamente, die sie dem Rahmen +gibt, werden nicht soviel gebraucht wie die gradlinigeren, +sie sind teurer herzustellen und nicht so zeitgemäß. Das +gibt ihnen und ihrer ahnungslosen Schöpferin eine besondre +Schönheit. In abgetrennten Räumen arbeiten die Vergolder. +Sie haben Gasmasken vor dem Gesicht gegen den Bronzestaub, +der den Lungen gefährlich ist. Leider will das Publikum und +wollen dementsprechend die vielen kleinen Geschäfte, die +Öldrucke verkaufen, nur Goldrahmen. Seit den Tagen der +Inflation braucht der Deutsche wieder Glanz in seiner Hütte. +Selbst die Rahmen für Photographien müssen vergoldet werden. +Das gute alte Mahagoni ist nicht mehr erwünscht. Über die +Photographienrahmen bekomme ich noch etwas zeitgeschichtlich +Interessantes erzählt. Früher waren Sammelrahmen beliebt, in +die mehrere Bilder gingen, eine ganze Sippe etwa, jetzt wird +jedes Bild lieber einzeln aufgestellt. So sind wir von den +Rahmen zu dem Umrahmten gekommen: der liebenswürdige Leiter +der Fabrik führt mich in den Ausstellungsraum der +beliebtesten Öldrucke. Der ist sehr lehrreich. Denn unter +den nicht gerade lebensnotwendigen Gegenständen, die man je +nachdem als Luxusartikel oder geistiges Volksnahrungsmittel +bezeichnen kann, spielt der Öldruck eine große Rolle. Er +möbliert unendliche Mengen von Zimmern und Seelen. + +Der *‚bestseller‘* der Branche ist seit Jahren immer noch +die heilige Büßerin Magdalena, die in ihrem blauen Gewande +weich aufgestützt lagert und buhlerisch kontemplativ auf den +Totenschädel schaut. Nicht nur bei den Frommen scheint sie +begehrt zu sein wie andre Reproduktionen aus dem Bereich der +Bibel und Legende, auch die Kinder der Welt wollen sie +haben. Lagernde leichtbekleidete Damen haben überhaupt viel +Chance. Und als Rahmen ihres von Amoretten umspielten, ins +Wolkenweiche verschwimmenden ‚Pfühls‘ ist ein nicht hohes, +aber ziemlich breites Format beliebt, das sich gut überm +Bett ausnimmt. Haben junge Paare, die solche +Glückseligkeits-Öldrucke kaufen, es ernstlich auf +Nachkommenschaft abgesehn, so richtet die Schöne im Bilde +sich ein wenig auf und betreut ein oder mehrere Kinder. Es +wird auch gern gesehn, daß etliche Haustiere das +Familienglück noch vollständiger machen. An einer der +beliebtesten dieser lagernden, beziehungsweise sitzenden +Damen wurde kürzlich, wie mir mein erfahrener Führer +erzählt, auf Wunsch des Publikums eine zeitgemäße Änderung +vorgenommen, ihr reiches Lockenhaar mußte zugunsten des +Bubikopfs entfernt werden. Auf andern Gebieten bleiben die +Käufer unmodern: das allbekannte Bild ‚Beethoven‘, eine +Versammlung auf dämmernden Diwanen hockender oder +hingegossener Männer und Frauen, die einem Klavier lauschen, +hat noch keiner Jazzbanddarstellung Platz gemacht. Von +berühmten Männern hat der Reichspräsident nicht mehr soviel +Zuspruch, seit er in Zivil ist; und mit seinen +Waffenrockbildnissen hat sich die deutsche Familie meist +schon während des Krieges eingedeckt. + +Die Jahreszeiten mit ihren beliebten Arbeiten und +Vergnügungen: Säemänner, Garbenbinderinnen, Jäger usw. in +der dazugehörigen Landschaft ‚gehen‘ immer, und zwar jede +speziell zu ihrer Zeit. Das wunderte mich etwas, ich hatte +gedacht: im Winter hätte man Frühlingssehnsucht, im Herbst +Sommerheimweh. + +Ich fange an, mich für Statistik zu interessieren. Ich +möchte genauer feststellen: Wieviel Magdalenen braucht +Magdeburg? Wieviel Damen auf Pfühl verlangt Breslau? Wo +läuft der Alte Fritz Böcklins ‚Schweigen im Walde‘ den Rang +ab? Wie hat sich in München von 1918 bis 1928 der +Öldruckgeschmack geändert? In welchen Provinzen und Städten +überwiegt das Bedürfnis nach Dame mit Kind, Kindern oder +Tieren dasjenige nach Dame mit nur Amoretten? Ich fange an, +mich für Statistik zu interessieren. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Wie der Markt von Bagdad seine Basare, so hat Berlin seine +Stadtviertel für die verschiedenen Betriebe. Der +Spittelmarkt, sagt man mir, trenne das Quartier der +Konfektion von dem der Mäntel. Ich besuche auf der +Konfektionsseite eine Hutfabrik, werde zu den Zeichnern +geführt, die nach Pariser Modellen aus Pappe Formen +schneiden, zu den Mädchen, die diese Formen in Stoff und +Leder nachschneiden, in den surrenden Saal der Näherinnen +und schließlich in einen Raum, wo Eisenformen elektrisch +erhitzt werden. Auf ihnen erhält der fertiggenähte und +zurechtgebogene Hut seine endgültige Gestalt. Aus einem +Schlauch wird er mit Dämpfen behandelt und dann in eine Art +Backofen getan, wo er im stillen weiterschmort. Für den +Kulturhistoriker ist es nicht unwichtig zu erfahren, daß es +zwar fast gar keine Garnituren mehr gibt, daß aber die +Appretur bisweilen Schleifenformen und Bandeaux nachahmt. +Vielleicht auch, daß, seit die Mode der knappen Baskenmützen +aufgekommen ist, viel Kappen gemacht werden, die aber nicht +baskisch streng bleiben, sondern etwas breiter und +pagenhafter ausfallen. In dieser Fabrik, die den morgens +bestellten Hut bereits abends liefert, entsteht fast alles +ganz im Hause vom Zeichentisch bis zur Verpackung. Nur ein +kleiner Teil der Hüte wird aus den sogenannten +Betriebswerkstätten bezogen, welche Heimarbeiterinnen +beschäftigen. Man belehrt mich über die große Rolle, die +sonst in der Berliner Konfektion diese Art Arbeitsteilung +spielt, bei der der ‚Zwischenmeister‘ von den großen Firmen +nach Musterung der Kollektionen die Stoffe übernimmt und +teils in seinen eigenen Räumen bearbeiten läßt, teils an +Heimarbeiterinnen weitergibt. Solche Zwischenmeister +arbeiten zum Beispiel für die große Schürzenfabrik, die ich +in einem der Riesenhöfe der Köpenickerstraße besuche. Die +hat im Vogtland ihr eigenes Haus, wo der Stoff hergestellt +wird. Hier kommt er dann in Maschinen, die viele Lagen auf +einmal zerschneiden, in fleißige Hände, die jede von ihrer +kleinen Maschine mit einem Griff Hohlsaum oder drei Falten +oder Saumspitzen machen und Knöpfe annähen lassen, welche +fester sitzen als die von Menschenhand. In diesem Betriebe +darf ich auch in die Büroräume eintreten und die neuen +Verbesserungen des kaufmännischen Ressorts kennen lernen. Da +sehe ich Rechenmaschinen, die multiplizieren, Markenkleb- +und Aufdruckmaschinen, neuartige Kartotheken und an der Wand +Karten mit den Wanderplänen der Reisenden, auf die unten in +der Garage die Musterkoffer zu zwanzig und zwanzig in großen +Autos warten. + +Ein ganzes Studium wäre die Basareinteilung von Berlin. Es +gibt da, abgesehen von den großen Quartiers der Tischlerei +und Metallbearbeitung, der Hausindustrie, der Wollwaren, der +Konfektion noch besondere Spezialitäten, zum Beispiel eine +Straße, in der seit vielen Jahrzehnten Beleuchtungskörper +hergestellt werden, die Ritterstraße. Am Moritzplatz ist das +internationale Exportlager gewisser Artikel, die aus dem +Erzgebirge, Thüringen und Nordböhmen kommen, wie +Schaukelpferde, Teepuppen, Frisierkämme, Jesusfiguren, +Zinnsoldaten und Gummikavaliere. Die ganze Seydelstraße +entlang stehen gespensterhaft in den Schaufenstern die +Puppen der Büsten- und Wachskopffabriken, die Attrappen und +‚Stilfiguren‘ der ‚Schaufensterkunst‘, die in Tausenden von +Exemplaren durch ganz Deutschland und weiter wandern, um +Hemden, Kleider, Mäntel und Hüte zu tragen. Interessant, was +für Gesichter die wachsköpfigen Mannequins schneiden! Mit +spitzen Mündern fordern sie dich heraus, schmale Augen +ziehen sie, aus denen der Blick wie Gift tropft. Ihre Wangen +sind nicht Milch und Blut, sondern fahles Gelbgrau mit +grüngoldenen Schatten. Kein Wasserstoffsuperoxyd kann ein so +böses Blond hervorrufen, wie die Tönungen ihres Haars es +haben. Oft sind die Gesichter nur skizzenhaft modelliert und +die angedeuteten Mienen sind dann von besondrer +Verderbtheit. Sowohl in der Steife wie in der sportlichen +Elastizität ihrer Bewegungen ist eine kühle Mischung von +Frechheit und Distinktion, der du Armer nicht wirst +widerstehen können. Aufregend sind die Grade ihrer +Entblößung. Ganz goldnackte strotzen und silberne blinken, +die nichts anhaben als bräunliche Schuhe; freibusige +behalten, sich dir zu entziehen, eine Art Leibschurz und +Strümpfe an. Bemerkenswert sind auch die Männerköpfe, +auffallend die vielen Männer der Tat mit dezidiertem +Ausdruck und winzigen Klebeschnurrbärtchen. Soweit sie +Leiber haben und nicht nur ein Gliederpuppengestell, müssen +sie sie in schwarzen Trikots verbergen, es sei denn, daß sie +sich ganz bekleidet im Frack und Smoking zwischen den +nackten Damen bewegen und dabei noch über Kinder +hinwegschauen, die in blauen Kleidchen und roten +Flatterkrawatten uns etwas vortummeln. + +Aber es gibt im Büstenhof auch Beine einzeln. Und +rätselhafte Gestelle, unten eine Goldkugel, darauf eine Art +Frauentorso, der in einen stilisierten Arm und einen +abgeschnittenen Armstumpf endet. Das wird alles seine +praktische Bewandtnis haben, aber ich starre unwissend in +diese Fülle von Wesen und Wesensteilen, Gestellen und +Gesichtern, von denen einige sogar Brillen tragen. diff --git a/04-von-der-mode.rst b/04-von-der-mode.rst new file mode 100644 index 0000000..65b2396 --- /dev/null +++ b/04-von-der-mode.rst @@ -0,0 +1,185 @@ +.. include:: global.rst + +VON DER MODE +============ + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`I`\ n den Zeitungen stehn Annoncen ‚Ein +Riesenposten entzückender Abendkleidchen in allen +Modefarben‘ oder ‚Meine spottbilligen Ausverkäufe in +pelzbesetzten Mänteln‘, dazu Name und Adresse der Firma +irgendwo im Osten. Sind wir neugierig, dort hinzugehn (wir: +das ist die Frau, die mir dies erzählt), so kommen wir in +Magazine, die auf elende Höfe hinausgehn und deren +Aufmachung auf allen Glanz verzichtet. Wir befinden uns in +einer Atmosphäre, die dem Kauf und Verkauf in ähnlicher +Weise günstig ist wie die der Pariser Warenhäuser. Zwar hat +kein Chef oder Rayonchef die Kenntnis des Frauenherzens, die +dem Pariser eingibt, der Zögernden ein freundliches +*‚fouillez, Madame‘* zuzurufen, aber auch hier gilt das +Prinzip, erst einmal die Schleusen der unkontrollierten +Berührung zu öffnen, bis sie zum Begehren wird, das alle +Dämme der Vernunft sprengt und überfließend die Kasse füllt. +Deutlich mit Preisen gezeichnet, hängen zerdrückte +Spitzenkleider, flitterbestickte Musseline, schäbige +Samtcapes mit undefinierbaren Pelzkragen, elende, billige +Pracht. Blumen drängen sich in Kartons, auf Tabletts +Schmuckstücke, deren Vorteil es ist, Schäden zu haben, die +fast gar nicht sichtbar sind. In hohen Stapeln, anheimelnd +durcheinandergezerrt, liegt rosa und violette Wäsche, reich +mit Spitzen garniert, die aus der Ferne luxuriös wirkt, +daneben stehn Abendschuhe mit Schnallen aus Diamanten und +Smaragden. Das Publikum dieser Basare der Restbestände oder +Konkursverkäufe besteht durchaus nicht nur aus freiwillig +oder berufsmäßig ‚Koketten‘. Es gibt nämlich zwischen dem +falschen Glanz auch vernünftige Artikel, grobe Bettücher und +derbe Lederstiefel, Bettvorleger und Stores, deren Preise, +wenn auch nicht herabgesetzt, so doch nicht zu unterbieten +sind. Der Name dieser Häuser ist auch im Westen Berlins +bekannt. Es geht von ihnen der Reiz des Zufälligen, der +Gelegenheit aus, auf den die Frauen reagieren, der sie +neugierig und gespannt macht, auch wenn es sich um nichts +andres handelt, als ein halbes Dutzend Taschentücher +einzukaufen oder ein Paar warme Handschuhe. + +Ja, sonst gibt es in diesen Straßen auch recht langweilige +Geschäfte mit leblosen Auslagen, die nichts weiter +suggerieren als einen Austausch von Ware und Geld. Wir +werden erst wieder wach vor der strahlenden Helle des +Riesenkomplexes Warenhaus. Ist es auch nicht so gedrängt, so +nachlässig künstlerisch, so listig üppig hier wie an dem +Ort, den wir verlassen haben, so genießen wir doch vor +diesem geordneten Reichtum an Waren aller Art die Vielfalt, +vor der unsere Bedürfnisse, die uns eben noch so erheblich +erschienen, plötzlich Liliputmaß annehmen. Aber uns kann +geholfen werden. Die Verkäufer und Verkäuferinnen haben den +‚Dienst am Kunden‘ von Grund auf studiert. Die großen +Kaufhausfirmen haben Schulen ins Leben gerufen, in denen +Lehrer, die an Handelshochschulen vorgebildet sind, den +jungen Mädchen Anschauungsunterricht über die Behandlung der +Ware und der Kunden geben. Wir ahnen gar nicht, was für +geschulten Künstlerinnen des Verkaufs und der richtigen +Suggestion wir gegenüberstehn, wenn uns die kleinen Fräulein +von Wertheim und Tietz sanft in ihren Bannkreis ziehn. + +Berlins große Warenhäuser sind nicht verwirrende Basare +bedrängender Überfülle, sondern übersichtliche Schauplätze +großer Organisation. Und sie verwöhnen ihre Besucher durch +das hohe Niveau ihres Komforts. Kauft man vom kreisenden +Ständer aus blitzendem Messing einen Meter rosa Gummiband, +so darf der Blick, während unsere Ware auf Blocks +eingetragen wird, auf Marmor ruhn, an Spiegeln entlang und +über glänzendes Parkett gleiten. In Lichthöfen und +Wintergärten sitzen wir auf Granitbänken, unsere Päckchen im +Schoß. Kunstausstellungen, die in Erfrischungsräume +übergehn, unterbrechen die Lager der Spielwaren und +Badeausstattungen. Zwischen dekorativen Baldachinen aus Samt +und Seide wandern wir zu Seifen und Zahnbürsten. Merkwürdig, +wie wenig in diesen der großen Masse gewidmeten Kaufhäusern +dem Bedürfnis nach Kitsch Rechnung getragen wird. Die +Mehrzahl der angebotenen Dinge ist fast nüchtern. +‚Anständig‘ ist das Adjektiv, dem der Geschmack nicht +widerstehn kann. Nur in Handarbeitslagern und bei +Galanteriewaren häufen sich die bedenklicheren Einfälle. In +den Lagern der Konfektion sieht man nur Gediegenes, +Unauffälliges, das sich der Mode mit einem gewissen Zaudern +und Widerstreben annähert und sie eher zu vertuschen sucht, +als daß es ihr entgegenkommt. Ein wenig leer ist es in +dieser Gegend, es ist, als fehle ein vermittelndes Element. +Da wirken die Stapel der Kochtöpfe und Backformen, der +Gardinenringe und Frühstückservice erheblich bunter und +munterer. + +Nah beim Quartier der Konfektion liegt an drei +Straßenfronten eins der berühmtesten Modehäuser von Berlin. +Seine Modelle ziehen das große Publikum an. Aus allen — +außer den exklusivsten — Kreisen, die sich für Mode +interessieren, sitzen Damen an zart gedeckten Tischen, an +denen die hübschen Mannequins sich entlang schlängeln. Bei +den Klängen einer Kapelle schreiten sie in duftigen und +feierlichen Kleidchen und lächeln von Beruf und damit man +sie von den Damen unterscheide, die verspätet ankommen oder +verfrüht weggehn. + +Dies Haus mit seiner nicht unberechtigten Prätention ist der +hinausgeschobene Vorposten der Mode, deren Gebiet eigentlich +erst anfängt, wo das Zentrum und der alte Westen sich +berühren. In Leipziger- und Friedrichstraße gehören ihr +schon viele Auslagen, oft Haus an Haus. Aber erst wenn man +die Fronten des Warenhauses von Wertheim und die Blocks der +Hotels beim Potsdamer Platz hinter sich gelassen hat und in +die Bellevue- oder Friedrich Ebertstraße einbiegt, nähert +man sich dem Hauptquartier in der Lennestraße am Saum des +Tiergartens. Die Mode wohnt — im Gartenhaus. + +Da flimmern durch das Grün der Vorgärten die Goldlettern der +Namen, die Geschmack bedeuten. Da sieht man in den späteren +Vormittagstunden und am frühen Nachmittag Reihen von Autos, +sehr gepflegten, sehr ‚rassigen‘, aus den Katalogen der +Autofirmen herausgerollt in ihrer funkelnagelneuen +Tadellosigkeit. Ernste Chauffeure erwarten die ‚gnädige +Frau‘. Von den Verkäuferinnen wird sie so devot empfangen, +als wären die Wellen der absoluten Monarchie noch nicht +verebbt. An Rokokosesseln vorbei wird sie über geblümte +Teppiche in den Salon geleitet, der Chef eilt herbei, der +*‚small talk‘* Wetter, Reise, Gesundheit wird erledigt, +während die Mannequins ihren Wandel vor der Kundin antreten. +Meist macht der Chef einen unzufriedenen Eindruck, er zupft +an Schleifen, gibt einem Gürtel neues Arrangement, wiegt +bedenklich den Kopf. Selten nur sieht man das hingerissene +Lächeln der Verkäuferinnen in den Pariser Modehäusern, die +ihre blinde Liebe zu vermitteln verstehn. Aber die +‚angezogne‘ Berlinerin scheint die Haltung des Chefs nicht +zu stören. ‚Sie wissen schon, was mir steht‘, ist eine +Redewendung, die ihn nicht als Schmeichelei, sondern als +Appell trifft. Er weiß es auch jedenfalls besser. Hat er +doch in Paris die Kollektionen der wichtigsten Modeschöpfer +gesehen und schon beim Défilé der Mannequins seine Auswahl +in Hinblick auf Frau von X. und Frau Z. getroffen. Allzuviel +Möglichkeiten gibt es da gar nicht. Das Berliner +Gesellschaftsbild kann so lange als einförmig gelten, als +die Frau auf die Auswahl angewiesen sein wird, die man ihr +als ‚Crème‘ der Pariser Produktion vorsetzt. Immer wieder +ereignet sich das Fatale: drei oder vier Damen begegnen sich +im gleichen Kleid. Ist es da ein Trost, daß sie alle den +‚Schlager‘ der Saison besitzen? Noch ist Berlin, vom +Standpunkt der Gesellschaft aus betrachtet, klein und die +Eleganz der Dame ein Produkt aus zweiter Hand. Aber schon +kommt ein neuer Frauentyp auf, der den Sieg davonträgt über +die, deren Schneider und Putzmacherin am Tiergarten wohnen, +die junge Avant-Garde, die Nachkriegsberlinerin. Um 1910 +müssen ein paar besonders gute Jahrgänge gewesen sein. Sie +haben Mädchen hervorgebracht mit leicht athletischen +Schultern. Sie gehn so hübsch in ihren Kleidern ohne +Gewicht, herrlich ist ihre Haut, die von der Schminke nur +erleuchtet scheint, erfrischend das Lachen um die gesunden +Zähne und die Selbstsicherheit, mit der sie paarweise durch +das nachmittägliche Gewühl der Tauentzienstraße und des +Kurfürstendamms treiben; nein, treiben ist nicht das +richtige Wort. Sie machen *‚crawl‘*, wenn die andern +Brustschwimmen machen. Scharf und glatt steuern sie an die +Schaufenster heran. Wo haben sie nur die hübschen Kleider +her, die Hüte und Mäntel? Neben den wenigen großen, die +bereits bis hierher vorgestoßen sind, gibt es im bayrischen +Viertel, in der Gegend der Kurfürstenstraße, in Nebenstraßen +des Kurfürstendamms eine ganze Menge kleiner Modegeschäfte. +Die begnügen sich häufig mit einem Vornamen als Enseigne. +Sie haben wohl auch ein, zwei Pariser Modelle. *Vogue* und +*Femina* liegen aus, *Harpers Bazar*, *Art*, *Goût et +Beauté*. Die Besitzerin des Ladens hat leichte Finger und +die Kundin genaue Kenntnis der eignen Gestalt und Spaß an +dem Zusammenspiel von Phantasie und Präzision. Diese Jugend +fängt an, einen Stil zu finden, gleich weit von dem +Snobismus der ‚Marke‘ und der Gleichgültigkeit, die sich mit +der Serie begnügt. Ist es schon wahr, was man immer lauter +und allgemeiner zu behaupten anfängt, die Berlinerin könne +sich an Eleganz mit den besten Europäerinnen messen? Wir +wollen nicht kleinlich nachprüfen, wie es sich genau damit +verhält. Es soll uns genügen, diese Scharen von jungen und +jüngsten Mädchen zu sehn, dieses Défilé von Jugend und +Frische in den knappen, gut sitzenden Kleidern mit den +Hütchen, denen eine Locke entquillt, die elastischen +Schritte der langen Beine, um überzeugt zu sein, daß Berlin +auf dem besten Wege ist, eine elegante Stadt zu werden. diff --git a/05-von-der-lebenslust.rst b/05-von-der-lebenslust.rst new file mode 100644 index 0000000..15501b6 --- /dev/null +++ b/05-von-der-lebenslust.rst @@ -0,0 +1,461 @@ +.. include:: global.rst + +VON DER LEBENSLUST +================== + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`D`\ iese Jugend lernt auch zu genießen, was doch +im allgemeinen dem Deutschen nicht leicht fällt. Der +Berliner von gestern verfällt in seinem Vergnügungseifer +immer noch der Gefahr der Häufung, der Quantität, des +Kolossalen. Seine Kaffeehäuser sind Gaststätten von +prätentiöser Vornehmheit. Nirgends die behaglichen +unscheinbaren Ledersofas, die stillen Winkel, wie sie der +Pariser und der Wiener liebt. Statt Kellner ruft er immer +noch das dumm titulierende ‚Herr Ober‘, einfacher +Bohnenkaffee heißt Mokka double, fünfzig Bardamen in einem +Verschank sind mehr als zehn. Immer wieder werden neue +‚Groß-Cafes‘ gegründet mit Platz für rund tausend Besucher. +Im Parterre ist eine ungarische Kapelle, im zweiten Stock +spielen zwei Kapellen zum Tanze auf. Erstklassige Kräfte +sorgen in den Tanzpausen für die Zerstreuung des Publikums. +‚Eigenartige‘ Vortragskünstlerinnen treten auf. +Internationale Attraktionen verheißen die Annoncen und +Anschläge, mondänen Betrieb usw. Ja, man bekommt etwas für +sein Geld. »Bei freiem Eintritt und Konsum von M 3 genießen +Sie von 8½ bis 12½ pausenlos das beste Kabarett +Deutschlands. Nachmittagsgedeck 2 M 50 mit Kuchen, soviel +Sie wollen.« + +Betrieb, Betrieb! Selbst die guten Alten wollen immer +mitmachen. + +Man muß einmal einen zweiten Feiertag, wo alles ausgeht, +weil doch auch die ‚Hausangestellte‘ Ausgang hat, in einem +Monsterspeisehaus erleben. Da läßt Vater was draufgehn. +Und manches Draufgängerische kann man ziemlich billig haben. +Es gibt die guten Hors d’œuvre-Mischplatten, wo alles dabei +ist, Hummer und Kaviar und Artischokenherz, und das Ganze +immer gleich für zwei Personen; Doppelportionen, wie das +gigantische Entrecôte, das mit lauter Gemüsebeilagen +garniert ist. Es gibt prima Dessertmischungen. Da fehlt +nichts. Der Sohn, der leise gelangweilt neben der +leichtgeschürzten Mutter sitzt, weiß natürlich schon, daß es +feiner ist, Apartes zu bestellen, und er wird vielleicht +Gelegenheit finden, dem Alten durch seine Sonderwahl zu +imponieren. Er benimmt sich dem Kellner gegenüber gelassener +als Vater. Lieber würde er ja drüben sitzen bei den beiden +einzelnen jungen Damen. Tippfräulein mögen das sein, die +heute allein ausgehn den Männern zum Trotz. Sie bestellen +sehr geschmackvoll: französische Gemüseplatten, Chicorée und +Laitu braisé, und dazu nur Cocktails und nachher zu den +Meringuen Tafelwasser. Er sieht hinüber und lernt. Sein +Hinterkopf ist amerikanisch rasiert und keine Speckfalte +drauf wie bei Papa |ellipsis| + +Die monströsen Riesendoppelkonzerte, welche die Hauptstadt +für Gaumen, Auge, Ohr und Tanzfuß veranstaltet, können der +neuen Jugend, unsern neuen Berlinerinnen nichts mehr +anhaben. Was das Essen, Trinken und Rauchen angeht, da haben +sie mancherlei neue Methoden, charmante Enthaltsamkeiten, +hygienische Kasteiungen, sportliche Grundsätze. Sicher wie +durch das Gedränge der Straße steuern sie durch das der +Vergnügungen, finden die paar Tanzpfade im Dickicht der +Menschenanhäufungen, wissen, in welchem Hotel oder Lokal man +allenfalls noch nachmittags tanzen kann und haben ihre +Cocktailsparties, wo man in geschlossener Gesellschaft +tanzt. Es ist bewundernswert, wie sie den Berliner Karneval +bewältigen. Der hört bekanntlich nicht mit Fastnacht und +Aschermittwoch auf, sondern geht noch wochenlang +ununterbrochen weiter. Und es gibt Nächte mit drei und mehr +wichtigen Festen, einem in den Sälen des ‚Zoo‘, einem bei +Kroll, einem in der Akademie zu Charlottenburg, einem in der +Philharmonie, und dazu kommt noch in dem und jenem Atelier +ein intimeres und besonders reizvolles. Da wissen sie zu +wählen, wissen, wo die beste Band spielt, erfinden eine +kluge Reihenfolge, um mehreres zu erledigen. Vor allem ist +es ihnen um gutes Tanzen zu tun. Der richtige Tanzpartner +ist eine sehr wichtige Persönlichkeit und nicht zu +verwechseln mit dem, den man gerade liebt. Seine Aufgabe ist +eine durchaus andre. Darüber haben mich meine jungen +Freundinnen belehrt, während sie sich für ein oder das andre +Fest zurechtmachten. Diese Vorbereitung, dies *‚Debarquement +pour Cythere‘*, ist ein bedeutender Augenblick und für uns +Zuschauer manchmal lehrreicher als das Fest selbst. Man muß +ihre ernsten Mienen vor dem Spiegel sehn, während sie Arme +und Schultern bräunen, das Gesicht ‚machen‘, Turbane und +Federkappen probieren. Sie eilen nicht, sie legen sorgsam +letzte Hand an das Werk des einen Abends wie ein Künstler, +der Dauerndes schaffen will. Sie erfinden wunderbare +Übergangsgebilde vom Maskenkostüm zum Gesellschaftskleid, +unschuldige Nacktheiten, lockende Verhüllungen und groteske +Übertreibungen, hinter denen sie sich gut verbergen können. +Da kann man in aller Ruhe ihre Gegenwart genießen, was sonst +nicht leicht ist. Denn im allgemeinen haben sie das Tempo +ihres Berlin, das unsereinen etwas atemlos macht. Es ist +erstaunlich, wieviel Lokale und Menschen sie an einem Abend +behandeln können, ohne zu ermüden. ‚Nun wollen wir Apéritif +trinken gehn‘, sagen sie plötzlich, wenn die Teestunde etwas +zu träumerisch geworden ist. ‚Apéritif?‘ frage ich +verwundert, ‚ich dachte, das gibt es hierzulande gar nicht.‘ +‚Sie unterschätzen wieder einmal den Fleiß unserer Stadt‘, +bekomme ich zu hören. Und ehe ich mich’s versehe, sitze ich +schon neben der eiligsten von ihnen im Auto, sie steuert die +Budapesterstraße entlang vorbei an den Glashallen, in denen +die ‚schnittigsten‘ aus- und inländischen Wagen ihren Salon +haben, und hält den Sauriern gegenüber, die auf die Wand des +Aquariums gemeißelt sind. Wir überschreiten die Glasplatte +am Hoteleingang, die leuchtende Platte mit der +paradiesischen Inschrift. In der Halle wechselt Maria (so +verlangt sie, daß ihre Freunde sie nennen, den lächerlichen +Marys, Miez und Mias ihrer Angehörigen zum Trotz) ein paar +Worte mit dem jungen Dichter, der demnächst im Film +auftreten wird, und erkundigt sich nach dem Befinden ihres +gemeinsamen Freundes, des Boxers, der so lange ausgesetzt +hat. Der Jüngling aber, der auf beide zueilt und ihr +geschwind etwas mitzuteilen hat, ist die jüngste Hoffnung +des Kabaretts. Maria kürzt ab und zieht mich weiter. Im +Vorraum der Bar, sozusagen in der Exedra, sitzen auf +Wandsofas Männergruppen im Gespräch; und wenn ich besser +Bescheid wüßte, würde ich gewisse Politiker oder Börseaner +erkennen. Wir treten in den angenehm niederen Raum mit den +roten Deckenbalken. Gern hätten wir auf den hohen Schemeln +an der Bar selbst Platz genommen, aber die sind alle +besetzt. Und so muß mich von unserm Tisch aus Maria +belehren, wer der schlanke englisch Redende im schönen +sandfarbenen Hemd da am Nebentisch und wer sein Begleiter +mit den Koteletten ist. Man grüßt Maria vom Tische der +jungen Attachés. Und das süße Geschöpf, das sie im +Vorbeistreifen rasch geküßt hat, das war das kleine neue +Revuewunder, das ich aus Bildern in den Magazinen kenne. Uns +zunächst sitzen zwei etwas zu frisch gemalte Mädchen. Die +rechts glaubt Maria in St. Moritz gesehn zu haben. ‚Warum +rümpft denn die Linke jetzt schon zum zweiten Male die +Nase?‘ ‚Das tut man jetzt viel. Die (sie nennt einen +Schauspielerinnennamen) machte es auf der Bühne. Es hat sich +eingeführt.‘ + +Rings an den Tischen wird geflüstert wie im besten Europa. +Man spricht nämlich im neuen Berlin nicht mehr so laut wie +im früheren. Man ist hier wie bei einem Empfang. Aber mehr +als eine Viertelstunde Aufenthalt erlaubt Maria nicht. Sie +hat Rendezvous zu frühem Essen im Neva Grill mit Freunden, +die nachher in die ‚Komödie‘ wollen. Sie überantwortet mich +einem ihrer Freunde, der mich zu Horcher mitnehmen soll. +Dort will sie uns in einer Stunde vorfinden. ‚Ihr könnt da +männlich langsam und gediegen speisen und Burgunder trinken. +Ich komme zum Dessert zurecht.‘ + +Die Seezunge, zu der Gert, mein Tischgenosse, nach einer +Beratung mit dem Sohn des Hauses sich entschlossen und mich +bestimmt hat, wird auf gut Pariser Art vor unsern Augen +behandelt. Und bei Nuit Saint-Georges lasse ich mir von +Gert, der bei jungen Jahren schon ein angesehener Mann in +Bank- und Diplomatenkreisen ist, Berliner Gesellschaft +erzählen. Ein schwer zu erfassender und zu begrenzender +Begriff. Die alte Trennung der Stände hört immer mehr auf. +Wohl gibt es noch einige mißvergnügte Noblesse in Potsdam +und auf Landschlössern, die den Glanzzeiten der exklusiven +Hofgesellschaft nachtrauert, aber gerade die Vornehmsten +suchen den Anschluß an die neue Zeit. Gastliche Häuser +vereinen Kunst und hohe Bourgeoisie, und am Tische großer +Bankherren begegnen sich sozialistische Abgeordnete mit +Prinzen aus dem früheren Herrscherhaus. Die großen +Sportklubs schaffen eine neue Haltung, die das Hackenklappen +ehemaliger Gardeleutnants und die alte +Korpsstudentenschneidigkeit ausschließt. Mit jugendlichem +Eifer stürzt sich der ehrgeizige Berliner in die neue +Geselligkeit, und die Minister und Staatssekretäre müssen +mehr Zweckessen mitmachen, als am Ende der Politik günstig +ist. Wir kommen auf die Frauen zu sprechen und gerade hat +Gert von einem Diner erzählt, bei dem er zwischen zweien +saß, von denen die zur Rechten vorsichtig und korrekt +unterhalten sein wollte, während die Linke jeder Äußerung +eine zweideutige Anspielung abzugewinnen suchte oder selbst +Themen anschlug, bei denen unsre Mütter vor Scham in den +Boden gesunken wären — da erscheint Maria und kommt uns vor +wie die junge Königin eines neuen Amazonenstaates, für den +der alte Begriff Gesellschaft nicht mehr existiert. Sie geht +nicht weiter auf unsere theoretischen Gespräche ein, sondern +will uns nur rechtzeitig abholen zu einem wichtigen +Russenfilm. Gert wollte eigentlich den des Pariser +Amerikaners sehn, der nur mit Hilfe von ein paar +Ateliergegenständen, Hemdkragen und Händen gemacht ist. Aber +den kennt Maria schon vom letzten Pariser Aufenthalt. Sie +hat ihn im kleinen Saal der Ursulinerinnen im Quartier Latin +gesehn. + +Nach dem Kino sitzen wir im ‚Casanova‘ unten, nicht weit vom +Klavier, an dem der durch einen Schlager berühmt gewordene +Komponist diesen allabendlich vorspielt und singt. Gert und +Maria beraten, was man noch unternehmen könnte. ‚Warum geht +ihr Jungen nicht hinauf tanzen?‘ frage ich. ‚Ich mag nicht,‘ +sagt Maria, ‚aber Gert findet vielleicht Anschluß im blauen +Salon.‘ ‚Eigentlich hätte ich heute um Mitternacht in die +»Ambassadeurs« kommen sollen.‘ Meiner Unerfahrenheit wird +mitgeteilt, daß dies die neueste Abzweigung der ‚Barberina‘ +ist. Gert und Maria diskutieren die Güte der verschiedenen +Jazzbands und Tangokapellen in den großen Hotels, im ‚Palais +am Zoo‘, in der ‚Valencia‘ usw. Ich bringe etwas schüchtern +meine Erfahrungen aus der kleinen ‚Silhouette‘ vor. ‚Wollen +wir nicht ganz einfach hier gegenüber ins »Eldorado« gehn? +Da ist das richtige Durcheinander, ihr seid doch für Chaos, +Smokings und Sportjacken, Transvestiten, kleine Mädchen und +große Damen. Sie sind natürlich wieder mehr fürs Korrekte, +Gert, Sie wollen soignierten Tanz und Rahmen, Sie wollen in +die »Königin«.‘ Aber schließlich entscheiden wir uns ganz +anders. + +Im dunkleren Teil der Lutherstraße ein einzelnes Licht. Ein +paar Privatautos vor der Tür. Schon der schmale Gang des +Vorraums ist überfüllt. Ein freundlicher Manager verheißt +uns Unterkunftsmöglichkeiten. Und in der Tür des zweiten +Zimmers reicht uns der Herr des Hauses die Hand. Es ist +nützlich, sich seiner persönlichen Protektion zu versichern, +denn hier ist, so sagt man mir, durchaus nicht jedermann +willkommen. Das heißt, er kommt wohl hinein und ißt und +trinkt, aber wenn seine Nase dem Besitzer dieses +merkwürdigen Zimmers mißfällt, so läßt er den Kellner keine +Bezahlung annehmen, sondern nähert sich selbst dem Tisch des +Fremdlings, bittet ihn, für diesmal sich als eingeladenen +Gast zu betrachten und — nicht wiederzukommen. Daher ist +hier ein erlesenes Publikum. Köpfe gibt’s hier! Und +Schultern! Und Augenbrauen. Dort in der Ecke sitzen sie +beide, die wohltätig üppige und die schmal lächelnde, die in +der Revue das Lied von der besten Freundin sangen. Und nah +dem Klavier — auch als stille Zuschauerin imponierend — die +rothaarige Meisterin der Groteske. Sie lacht auf, als schräg +gegenüber der dicke Riese von der Wasserkante, der tags +deutsche Dichtung und abends welsche Getränke umsetzt, +seinen bekannten Kriegsruf ausstößt, mit dem er den zweiten, +lebhafteren Teil seines Abends einzuleiten pflegt. Aber die +Nachbarn machen sanft psst! Denn jetzt steht auf dem +Klavier, den Kopf deckennah geduckt, ein Persönchen in +Matrosenbluse und gestikuliert vorbereitend für das Lied von +den Jungfern zu Camaret, das sie singen soll. Sie singt +französisch wie ihre Landsmännin, ihr Vorbild am +Montparnasse. Und wer lang genug in Paris war, versteht auch +die gefährlichen Worte des Liedes, das nun in einer Art +Kirchenmelodie anhebt. Die andern lachen ahnungslos und +dankbar mit. Wir haben im Gedränge stehend zugehört. Jetzt +bekommen wir Plätze im Winkel an der Bar. Während Gert und +Maria tanzen, schau ich umher. Die wenigen von der Kunst und +Lebenslust, die ich persönlich kenne, sind fast alle hier. +Sanft dröhnend ruft mich beim Vornamen die Stentorstimme +dessen, der einst in Paris aus einem kleinen Eckrestaurant +den ‚Dôme‘ gemacht hat und nun hier ein berühmter Maler ist. +Die schöne Russin, die sich neben ihn drängt, kenn ich doch +auch. Er gönnt ihr seine breite Nachbarschaft und betrachtet +durch kritische Brillengläser ein paar Jünglinge von der +allerneusten Literatur, die ihm in andächtiger Gruppe +gegenüber sitzen. Das wohlwollend langsame Lächeln im +Abbatengesicht dessen, der ein gut Teil der deutschen und +ausländischen Literatur in sein Bestiarium gesperrt hat, +gilt den beiden nun schon erwachsenen Poetentöchtern, die er +als Kinder hat spielen sehn, und inzwischen sind sie +Weltreisende und Eroberinnen geworden. Ein neuer Schub +Kömmlinge drängt den schmalen Tanzgang her und aus Mänteln +schälen sich Inder und Indianer beiderlei Geschlechts, +soweit sich das unterscheiden läßt. Sie kommen von einem +Fest und ehe sie auf das andre gehn, besuchen sie uns und +wollen uns zum Mitkommen verführen. Ach, das klirrende +Armband an Pucks Schenkel, ach, die Adlerfeder über Sonjas +Haar! Aber wir bleiben. Der junge Mixer ist ein zu guter +Schenke. Wir bleiben, bis es — mit einmal — drei Uhr ist +und einige Stühle schon auf den Tischen kopfstehn. Maria +will uns noch in den Damenklub hier in der Nähe bringen, +aber mit dem habe ich kein Glück. Selbst heute, da wir +Gefolge eines Mitglieds sind, bleiben seine Pforten uns +geschlossen. Dafür schafft uns Gert ungehindert ins +‚Künstler-Eck‘, wo wir unter gotischen Wölbungen eine +herrliche Hühnersuppe löffeln. Und nun könnten wir noch +weiterziehn in den dämmernden Morgen. Schwannecke hat für +die Seinen eine Seitenpforte noch offen. Und obendrein weiß +Gert einen Verband von Gastwirtangestellten, der mitten in +der Nacht aufmacht und bis Mittag zu essen und zu trinken +gibt. Auch hier ist er Mitglied. Da könnten wir zwischen den +Letzten vom Abend und den Ersten vom Morgen sitzen, zwischen +Sängern und Kellnern, Schauspielerinnen und Aufwartefrauen. +Aber für heute ist es genug. Das Bewußtsein, man könnte noch +lange weitermachen, schläfert so angenehm. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Gewisse Zeitungsannoncen und von Reklamemännern getragene +Plakate waren mir schon öfter aufgefallen. »Walterchen der +Seelentröster mit dem goldenen Herzen, Berlins bekannteste +Stimmungskanone |ellipsis| Wieder täglich Treffpunkt aller +Verlassenen |ellipsis| Witwenball für die ältere Jugend im +herrlichen Prunksaal Ackerstraße |ellipsis| Altdeutscher Ball, nur +ältere Jugend, flotte Ballmusik |ellipsis| Clärchens vornehmer +Witwenball das Tagesgespräch. Nur Auguststraße trifft sich +die Elite.« Manchmal heißt es auch zusammenfassend: +Elitewitwenball, wobei Elite sowohl auf Witwen als auf Ball +bezogen werden kann. In der Elsässerstraße hieß es: +‚Klassefrauen, Herren unter 25 Jahren haben keinen Zutritt.‘ +Ja, das haben sie wirklich nicht. An solch einem +Tanzpalasteingang habe ich beobachtet, wie einer seine +Papiere vorweisen wollte zum Beleg seiner Reife, aber der +Mann an der Kasse lehnte überlegen ab und sagte: ‚Das sehen +wir so!‘ Und ließ ihn nicht herein. + +Da ich nun sichtlich das nötige Alter besitze, habe ich mich +neulich, ich glaube, es war in der Kaiser Friedrichstraße zu +Charlottenburg, in solch einen Ball für die ältere Jugend +gewagt. Ich war mit Leuten, die eine Flasche Wein ‚anfahren‘ +ließen; Samos hieß, glaub ich, der Unglückliche. Das machte +Eindruck. Mit höflichem ‚Sie gestatten wohl‘ setzte sich der +Leiter der Veranstaltung zu uns. Er trug einen Gehrock, +ähnlich jenem, den unser Ordinarius von Untersekunda während +des Wintersemesters in der Klasse auftrug. Der Verein, sagte +er, sei noch jung, erst im Begriff, Statuten zu bekommen. +Dies Haus, müßten wir wissen, gehörte früher einer +Freimaurerloge, die Kaiser Friedrich selbst eingeweiht habe. +Hier an den Wänden könnten wir noch die aufgemalten Ringe +aus der Logenzeit sehn. Damals war dieser Raum +Andachtshalle. (Richtig, da waren unter den Trinksprüchen +von der Art, wie man sie auf Bierfilzen liest, wirklich +solche Ringe.) Und unten, wo jetzt die Evangelische +Gemeinschaft G. m. b. H. einlogiert ist, stand damals der +Sarg für den Eid. + +Er sprang auf und leitete mit einer würdigen Dame, die +schwere Stickereien auf ihrem Samtkleid und etwas +ungleichmäßig dicke Beine hatte, die Polka mazurka ein. +Diesen historischen Tanz konnten mehrere Paare ausführen, +ohne auf die Bewegungen des vortanzenden Paares sehn zu +müssen. Danach kam der Vereinsgründer wieder zu uns und +teilte mit, am Tage sei er handwerklich tätig (so drückte er +das aus) und mit seiner Gründung hier beabsichtige er +gemütliches Beisammensein von Mensch zu Mensch. Störende +Elemente, die zum Beispiel eventuell einer Dame zu nahe +treten, sollten ausgeschieden werden. (Wir waren hier zu +fremd, um derartiges zu riskieren.) + +Inzwischen führte der eigentliche angestellte Tanzleiter den +sogenannten Schlittschuhtanz an. Er war mager, und was er +anhatte, war ein Frack. Bei bestimmten Wendungen dieses +Tanzes klatschte seine Partnerin einmal kurz in die Hände +und die andern ahmten ihr das nach. Der Tanzleiter aber +machte nur eine elegant geschwungene Geste mit der Rechten. +Manche Paare hatten eine überaus zierliche Art, mit +abgespreizten Fingern und hohen Ellenbogen einander zu +halten. Einige Herren hatten zwischen ihre Hand und den +Rücken der Dame ein Taschentuch getan. Ich machte die +Beobachtung: je reifer die Jugend der Herren war, um so +tiefer gerieten ihre Hände an der Dame hinab. Waren das +‚Elemente‘? Damen, die miteinander tanzten, legten dabei +nicht die Innigkeit an den Tag, die wir aus gewissen Lokalen +kennen, sondern ironisierten mit Blicken und Bewegungen die +ungewohnte Verkuppelung. Häufig war Damenwahl und dabei +durften die Damen, die gerade frei waren, jeder Tänzerin +ihren Tänzer ‚abklatschen‘ — so lautet der Kunstausdruck. +Das gab artige Momente. + +Wenn man erst Mitglied geworden ist, belehrte uns der +Vereinsvorstand, wird auch die Garderobe billiger. Dann +erhob er sich wieder zu einer kurzen Ansprache, in welcher +er die Vorzüge der altdeutschen Tänze hervorhob und die +Herrschaften aufforderte, zur Gemütlichkeit beizutragen. +Dieser Gemütlichkeit brachte die Kapelle, als sie frisches +Bier bekam, ein Prosit dar. + +Nach diesem Erlebnis habe ich mir eine Vorstellung von den +Bällen für die ältere Jugend gebildet, die doch eine gewisse +Rolle im Leben von Berlin zu spielen scheinen. Man findet da +sicher Anschluß. Sie sind vielleicht sozial von ähnlicher +Wirkung wie die Eheanbahnungsinstitute, deren Ankündigungen +man in Zeitungen und auf Hausanschlägen liest. Wenn ich nun +lese: Rundtänze außer Montag, Donnerstag und Freitag +verkehrter Ball und dergleichen, dann weiß ich Bescheid. + +Weniger sozialmoralische Zwecke scheinen die Bälle zu +verfolgen, bei denen der Anschluß durch sogenannte +Tischtelephone hergestellt wird. Sie haben mitunter auch +hängende Springbrunnen und stets das, was ihre Annoncen +‚urfidelen Hochbetrieb‘ nennen. Sie verheißen ‚Prunkvolles‘, +‚Künstlerisches‘, ‚Intimes‘, sie finden statt in den +‚kultiviertesten Luxusstätten der Welt‘ auf Glasparkett, +nahe den ‚High Life Bars‘ und ‚exquisiten Küchen‘. In dem +berühmtesten dieser erheblich erleuchteten Prachtsäle gibt +es eine wunderbare Kombination von Wasser und Licht in +drehenden farbenwechselnden Schalen. Diese Wasser- und +Lichtwunder haben laut Programm nicht nur die Aufgabe, das +Auge zu erfreuen und die Stimmung zu erhöhen, sie sorgen +auch für frische Luftzufuhr. Die Erfindung des +Tischtelephons ist sehr seelenkundig: der mittlere Berliner +ist nämlich gar nicht so selbstsicher, wie er gern +erscheinen möchte. Am Telephon aber faßt er Mut (Der +Fernsprecher ist ihm ja überhaupt sehr gemäß. Statt ‚Auf +Wiedersehn‘ pflegt er heutzutage zu sagen ‚Na, klingeln Sie +mal an‘ oder ‚Ich rufe Sie nächster Tage an‘) und darin +bekräftigt ihn noch der Versappell der Direktion, die er auf +dem interessanten Programm findet: + + + | :smallerfont:`‚Genier' dich nicht und läute an,` + | :smallerfont:`Ob sie dich mag, erfährst du dann.‘` + +Ja, das Ballhaus ist, wie es mit dem beliebtesten Verbum des +neuen Deutschlands erklärt, ganz auf seine Gäste +‚eingestellt‘. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Im Schummerlicht farbiger Ampeln bewegen sich in einer +Anzahl kleinerer Säle und Zimmer des Nordens wie auch des +Westens Pärchen gleichen Geschlechtes, hier die Mädchen, da +die Knaben. Bisweilen sind in mehr oder weniger erfreulicher +Art die Mädchen als Männer, die Knaben als Damen angezogen. +Ihr Treiben, früher einmal ein kühner Protest gegen die +herrschenden Sittengesetze, ist mit der Zeit ein ziemlich +harmloses Vergnügen geworden, und es sind zu diesen sanften +Orgien auch Besucher zugelassen, die gern mit dem jeweils +andern Geschlechte tanzen. Sie finden hier eine besonders +günstige Umgebung. Die Männer lernen von den weiblichen +Kavalieren, ihre Partnerinnen von den männlichen Damen neue +Nuancen der Zärtlichkeit, und die eigne Normalität wird zu +einem besondern Glücksfall. Ach, und rührend sind die +Beleuchtungskörper. Da sieht man zackig gerandete +Ampelhüllen aus Holz oder Metall, die an die +Laubsägearbeiten unserer Knabenzeit erinnern. + +Früher, so kommt es mir vor, muß das alles sündhafter +gewesen sein. Da waren offenbar die Angelegenheiten der Lust +mehr auf Gefährlichkeit abgestimmt. Wo heute Reinhardts +Kammerspiele erlesene Kunstleistungen darbieten, dunstete +ehedem ein purpurn und goldener Tanzsaal. Da drehten sich +vor unseren erschrockenen jungen Augen hohe Korsettgestalten +in vertragenen Ballroben mit Büsten, die manchmal bis an die +Brustwarze nackt waren, welche Tüll verhüllte und betonte. +Knisternde Jupons quälten unsere Sinne, und wenn zu einem +etwas schwerfälligen Cancan die Röcke gerafft wurden und +grelle Stimmen den Gassenhauer von der Pflaume am Baume +sangen, erging es uns nicht gut. Verständigere fanden in den +Sälen der Vorstädte etwas fürs Herz, in Südende und +Halensee, wo brave Mädchen mit Grundsätzen und Beruf den +sogenannten ‚Bruch‘ überwogen. Sie hatten rotgewaschne Hände +und merkwürdige Veilchenparfums, die in dauerndem +Widerstreit mit der Natur lagen. + +Das war die Zeit, in der für die Verschwenderischen unter +uns in der Stadt das ‚Palais de Danse‘ blühte. Dort waren +die Damen Babylon und Renaissance mit gewissen +präraffaelitischen Einlagen und Spielarten. Manche von +denen, die dazumal mit der Droschke oder dem Auto aus ihrer +Zweizimmerwohnung im bayrischen Viertel einliefen, dem +Portier das Geld für Kutscher oder Chauffeur distinguiert in +die Hand drückten und sich auf die Stühlchen an der Bar +setzten, haben Karriere gemacht. Bäckerstöchter sind +Herzoginnen geworden. Eine soll es sogar bis zur Königlichen +Hoheit gebracht haben, dafür aber in der Gesellschaft nicht +in demselben Grade *‚reçue‘* sein wie die neuen Gräfinnen +und Herzoginnen. Nun, heute ist dies Palais nicht +wiederzuerkennen. Was sah ich, als ich vor kurzem einmal +hineingeriet? Einige lebenslustige Leute aus Meseritz oder +Merseburg waren mit Berliner Verwandten, bei denen sie zu +Besuch waren, ‚ausgegangen‘, um hier die halbe Welt zu sehn, +von der nur ein abnehmendes schüchternes Viertel +auftauchte |ellipsis| diff --git a/06-rundfahrt.rst b/06-rundfahrt.rst new file mode 100644 index 0000000..aa9765a --- /dev/null +++ b/06-rundfahrt.rst @@ -0,0 +1,2704 @@ +.. include:: global.rst + +RUNDFAHRT +========= + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`U`\ nter den Linden nahe der Friedrichstraße +halten hüben und drüben Riesenautos, vor denen livrierte +Männer mit Goldbuchstaben auf ihren Mützen stehen und zur +Rundfahrt einladen; drüben heißt ein Unternehmen ‚Elite‘, +hüben ‚Käse‘. Bequemlichkeit oder natürliches +Kleinbürgertum? — Ich wähle ‚Käse‘. + +Da sitze ich nun auf Lederpolster, umgeben von echten +Fremden. Die andern sehen alle so sicher aus, sie werden die +Sache schon von 11 bis 1 erledigen; die Familie von +Bindestrich-Amerikanern rechts von mir spricht sogar schon +von der Weiterfahrt heut abend nach Dresden. Mehrsprachig +fragt der Führer neu hereingelockte Gäste, ob sie Deutsch +verstehn und ob sie schwerhörig sind; das ist aber keine +Beleidigung, sondern betrifft nur die Platzverteilung. Vorn +hat man mehr Luft, hinten versteht man besser. + +Auf weißer Fahne vor mir steht in roter Schrift: *Sight +seeing*. Welch eindringlicher Pleonasmus! — Mit einmal +erhebt sich die ganze rechte Hälfte meiner Fahrtgenossen, +und ich nebst allen andern Linken werde aufgefordert, sitzen +zu bleiben und mein Gesicht dem Photographen preiszugeben, +der dort auf dem Fahrdamm die Kappe vor der Linse lüftet und +mich auf seinem Sammelbild nun endgültig zu einem Stückchen +Fremdenverkehr macht. Fern aus der Tiefe streckt mir eine +eingeborene Hand farbige Ansichtskarten herauf. Wie hoch wir +thronen, wir Rundfahrer, wir Fremden! Der Jüngling vor mir, +der wie ein Dentist aussieht, ersteht ein ganzes +Album, erst zur Erinnerung, später vermutlich fürs +Wartezimmer. Er vergleicht den Alten Fritz auf Glanzpapier +mit dem ehernen wirklichen, an dem wir nun langsam entlang +fahren. Er sitzt recht hoch zu Roß in unvergeßlicher +Haltung, die Hand unterm weiten Mantel in die Seite gestemmt +mit dem Krückstock, den berühmten Dreispitz etwas schief auf +dem Kopf. Er schaut weit über uns weg auf Pilaster und +Fenster der Universität, einst seines Bruders Schloß. +Wohlwollend sieht er gerade nicht aus, soweit wir das von +unten herauf beurteilen können. Wir sind fast in Augenhöhe +mit der gedrängten Helden- und Zeitgenossenschar seines +Sockels. Die hat’s etwas eng zwischen Reliefwand und +Steinabhang. Zusammengehalten wird sie von den vier +Reitersleuten an den Sockelecken, die keinen mehr +herauflassen würden. Nun gleiten wir an der langen Front der +Bibliothek entlang auf der Sonnenseite. Hinter Markisen +eleganter Läden lockt Seidenes, Ledernes, Metallenes. Die +Spitzengardinen vor Hiller erwecken ferne Erinnerungen an +gute Stunden, an fast vergessenen Duft von Hummer und +Chablis, an den alten Portier, der so diskret zu den +*Cabinets particuliers* zu leiten wußte. Ich reiße mich los, +— bin doch Fremder — um gleich wieder eingefangen zu sein. +Reisebüros, Schaufensterrausch aus Weltkarten und Globen, +Zauber der grünen Heftchen mit den roten Zetteln, +verführerische Namen fremder Städte. Ach, all die seligen +Abfahrten von Berlin! Wie herzlos hat man doch immer wieder +die geliebte Stadt verlassen. + +Aber nun aufgepaßt. Wir biegen in die Wilhelmstraße ein. +Unser Führer verkündet in seltsam amerikanisch klingendem +Deutsch: Hier kommen wir in die Regierungsstraße +Deutschlands. Still ist es hier, fast wie in einer +Privatstraße. Und altertümlich einladend stehen vor der +diskreten gelbgetünchten Fassade, hinter der Deutschlands +Außenpolitik gemacht wird, zwei großscheibige Laternen. Was +für ein sanftes Öllicht mag darin gebrannt haben zur Zeit, +als sie zeitgenössisch waren? Eines dieser braunen +Eingangstore, die mit geschnitztem Laubwerk geziert sind, +führte einstmals in die Wohnung der gefeierten Tänzerin +Barberina zu einer Zeit, als sie nicht mehr tanzte und eine +Freiin Barbara von Cocceji geworden war. Und über ein +Jahrhundert später von 1862 bis 1878 hat Bismarck hier +gewohnt. Da war das kleine Arbeitszimmer mit den +dunkelgrünen Fenstervorhängen und dem geblümten Teppich und +daneben der Speisesaal, in dem die Emser Depesche verfaßt +worden ist. Später zog er dann ins Palais Radziwill, wo auch +heute noch der Reichskanzler wohnt, friedlich hinter einem +Gartenhof wie ein paar Häuser vorher der Reichspräsident. +Aber unser Führer erlaubt nicht in diesen Frieden zu +versinken, er reißt den Blick zu dem mächtigen +Gebäudekomplex gegenüber hin und ruft selbst verwundert: +‚Alles Justiz!‘ — ‚Und hier,‘ fährt er fort, ‚vom Keller bis +zum Dach mit Gold gefüllt, das Finanzministerium.‘ Das ist +ein Witz, über den nur die richtigen Fremden lachen können. +Ich tröste mich an der schönen Weite des Wilhelmplatzes, an +des Kaiserhofs flatternden Fahnen, an dem grünen Gerank um +die Pergolasparren des Untergrundbahneingangs und an General +Zietens gebeugtem Husarenrücken. + +Ein Gewirr von Türmen, Buckeln, Zinnen und Drähten: +‚Leipziger Straße, die größte Geschäftsstraße der +Metropole!‘ Aber die durchkreuzen wir einstweilen nur. Wir +fahren die Wilhelmstraße weiter vorbei an vielen +Antiquitätenläden (Erinnerung taucht auf an die +verbrecherisch schöne Inflationszeit. Weißt du noch, +Wendelin, Herrn Krotoschiner damals in seinem Laden zwischen +dem Pommerschen Schrank und dem Trentiner Tisch auf den +Wappenstuhl starrend!), vorbei am Architektenhaus (ältere +Erinnerung an strebsame Jugendzeit, da man nichts zu tun +brauchte als zu lernen, und hier gab’s viel lehrreiche +Vorträge in dem Saal, wo die Fresken von Prell auf uns +herabschauten; besonders jener Pfahlbautenmensch ist mir +unvergeßlich, der sich dort auf dem Wandbild den aus +Vischers ‚Auch Einer‘ berühmten weltgeschichtlichen +Schnupfen holte). + +Das Palais des Prinzen Heinrich, vor dem wir einen +Augenblick halten, um durch die schöne Säulenhalle auf den +alten Hof und die alten Fenster zu sehn, und seine +schlichten mit dienender Tugend sich anschließenden Gebäude +haben die hellbräunliche Farbe, die dem Dichter Laforgue an +vielen Berliner Palais auffiel, als er in den achtziger +Jahren des vorigen Jahrhunderts als Vorleser der Kaiserin in +Berlin war, er nennt sie *couleur café au lait* und sie +erscheint ihm als der vorherrschende Farbton der Kapitale. +Für die Welt der Wilhelmstraße und viele Teile der älteren +Stadt gilt das noch heut. + +An den altvertrauten Museen der Prinz Albrechtstraße hält +unser eiliger Wagen nicht. Die meisten Insassen schauen +hinüber in den großen Garten hinter dem Landtagsgebäude. Ich +sehe in die Fenster, hinter denen die schönen +Kostümbildermappen der herrlichen Lipperheideschen Sammlung +in der Staatlichen Kunstbibliothek auf ruhevolle Betrachter +warten. Am liebsten möchte ich aussteigen und zu den +befreundeten Bildern gehen, aber heute habe ich +Fremdenpflichten, darf auch in Gedanken nicht zu lange bei +dieser Stätte des alten Kunstgewerbemuseums verweilen, die +soviel Auswanderung erlebt hat. Der größte Teil der +Sammlungen ist jetzt im Schloß. Und die Karnevalsfeste der +Kunstgewerbeschüler, einst die schönsten von Berlin, finden +jetzt, da die Kunstschulen nach Charlottenburg verlegt sind, +im dortigen Hause statt, und als richtiger *Laudator temporis +acti* finde ich natürlich, daß sie dort nicht so schön sein +können, wie sie hier waren. Ach, selbst die kleinen Feste, +die nach Verlegung der Kunstschule hier noch im Dachgeschoß +sich abspielten, sind unvergeßlich. Wir gleiten an der +bauchigen Hochrenaissance des Völkerkundemuseums vorbei. +Auch dies wird nur beim Namen genannt und nichts gesagt von +Turfan und Gandhara, von Inka und Maori. Vielmehr verkündet +unser Sprecher schon von weitem: ‚Vaterland, Café Vaterland, +das größte Café der Hauptstadt!‘ Die Fremden stieren auf die +große Prunkkuppel des Baues, und die, welche bereits +abendliche Berliner Erfahrungen haben, raten den andern, +dieses Monsteretablissement mit all seinen Abteilungen, dies +kulinarische Völkermuseum von Kempinski und seine Panoramen +in nächtlicher Bestrahlung zu besichtigen. + +Ja, das sollen sie. Was helfen ihnen unsre alten Paläste und +Museen? Sie wollen doch das Monsterdeutschland. Also nur da +hinein heute abend, meine Herrschaften, in das alte +Piccadilly, jetzt Haus Vaterland! Da wird euch +Vaterländisches und Ausländisches vorgesetzt. Hat Sie der +Fahrstuhl aus dem prächtigen Vestibül hinaufgetragen, so +können Sie bei dem üblichen Rebensaft von der Rheinterrasse +bequem ins Panorama blicken, wo Ihnen über Rebenhügeln, +Strom und Ruine ein Gewittersturm erster Klasse vorgeführt +wird. Heitert sich der Himmel wieder auf, so tanzen Ihnen +rheinische Girls unter Rebenreifen eins vor und samtjackige +Scholaren singen dazu. Das müssen Sie gesehen haben. Von da +taumeln Sie, bitte, in die Bodega, wo Ihnen merkwürdige +Mannsleute mit bunten Binden um Kopf und Bauch was Feuriges +bringen, um Sie in eine spanische Taverne zu versetzen. Die +beiden schüchternen Spanierinnen aus der Ackerstraße dort in +der Ecke werden durch Tanzvorführungen Ihre Stimmung +erhöhen. Beim Betreten der Wildwestbar werden Sie laut +Programm die ganze Romantik der amerikanischen Prärie +empfinden. Kaufen Sie sich auf alle Fälle ein Programm! Da +wissen Sie gleich, wie Ihnen zumute zu sein hat. Was tut im +Grinzinger Heurigen das liebliche Wien? Es liegt in der +Abenddämmerung vor den Augen des Beschauers. Wozu laden vor +der sonnendurchglühten Puszta ungarische Weine ein? Zum +Verweilen. Was empfängt uns im Türkischen Café? +Märchenzauber aus Tausendundeiner Nacht. Versäumen Sie +nicht, dort auf den Taburetts zu sitzen an Tischen mit echt +arabischen Schriftzeichen darauf, und den stärksten aller +berlinisch-türkischen Mocca double zu +trinken. In der Glaswand, die das Bosporuspanorama abtrennt, +können Sie Ihren Nachbarn, den Herrn mit der papiernen +Zigarrenspitze, so gespiegelt sehn, als säße er an dem Tisch +mit der Wasserpfeife, der schon zum Vordergrund des Bildes +gehört. + +Aber nun bekommen Sie Bierdurst und finden in das Münchner +Löwenbräu, das laut Programm ‚lebensfreudig eingerichtet‘ +ist. Die aufwartenden Madeln, die Ihnen zuliebe noch +bayrischer als bayrisch reden, tragen Strohhüte mit Federn, +blaue Jacken, geraffte, gestreifte Röcke und jodeln +bisweilen ermunternd mit, wenn die Musik es nahelegt. Die +wird von den Herren Buam in Hosenträgern gemacht. Auf ihre +Hosenbeine ist bauchabwärts bayrisches Kunstgewerbe +tätowiert. Da ist ja auch das künstlerisch ausgeführte +Glasfenster mit Ausblick auf die ‚wildromantische Szenerie +des Eibsees‘. Und schon geht’s los mit der Attraktion. Der +Saal verdunkelt sich. Am Eibseehotel gehn die Lichter an. +Auch Alpenglühn wird von der Direktion, die keine Kosten +scheut, geboten. Sobald der Saal hell wird, beginnt ein +Trio, Bua, Madl und Depp, ganz wie auf der weiland +Oktoberwiesenausstellung am Kaiserdamm. Dabei zerschlagen +die beiden Nebenbuhler, einer auf des andern Kopf, richtige +Tonnen. Ja, ja, die Direktion scheut keine Kosten. Wollen +Sie noch in den großen Ballsaal, der sich ‚dem Glanz der +schönsten Säle der Welt würdig an die Seite stellen‘ kann, +wollen Sie ‚Tanzgelegenheit auf schwingendem Parkett‘, so +müssen Sie drei Mark extra zahlen, die werden Ihnen aber auf +Speisen und Getränke angerechnet. Dafür sehen Sie in einen +buntgeschliffnen Spiegelhimmel; Palmenschäfte tragen als Säulen +den Saal. Und ‚deutsche Girls‘ streifen, wenn sie zum +Auftreten eilen, mit ihren Gazeschleiern dicht an Ihnen +vorüber. Es tanzt für Sie ein badehosiger starker Jüngling +mit einer Dame, die außer der Badehose nur noch eine Art +Büstenhalter trägt, tanzt mit ihr, wirbelt sie, während sie +nur mit Knöchelschleife um seinen Hals hängt, hantelt mit +ihr. Die deutschen Girls aber rutschen als Ruderballett auf +dem Boden hin und singen von unserer Zeit, der Zeit des +Sports. + +Nun haben Sie wohl ein bißchen Linderung von soviel +Darbietungen. Da, wo überlebensgroß am Fenster der Teddybär +steht, den die vorüberstreifenden Mädchen umarmen, gehn Sie +auf den offnen Balkon und sehn in heller Nacht schön +altberlinisch, gelblichbraun, mild nüchtern den Potsdamer +Bahnhof, denselben, auf den jetzt am Tage unser Sprecher +zeigt. + +Über die Freitreppe zur Station gehen Ausflügler in hellen +Röcken und Waschkleidern. Die Glücklichen, es ist ein so +schöner Herbsttag. Manche gehn auch den schmalen Durchgang +hinüber zu dem kleinen Wannseebahnhof. Ich möchte ihnen am +liebsten nachlaufen. Ein Segelboot oder auch nur ein +Paddelboot. Oder nichts als ein Gang durch einen der +Potsdamer Parke. Potsdam und die Havelseen, die heimliche +Seele, das irdische Jenseits von Berlin! Noch dazu heut, an +einem Wochentag. Aber nun kommen wir auf den Potsdamer +Platz. Von dem ist vor allem zu sagen, daß er kein Platz +ist, sondern das, was man in Paris einen *Carrefour* nennt, +eine Wegkreuzung, ein Straßenkreuz, wir haben kein rechtes +Wort dafür. Daß hier einmal ein Stadttor und Berlin zu Ende +war und die Landstraßen abzweigten, man müßte schon einen +topographisch sehr geschulten Blick haben, um das an der +Form des Straßenkreuzes zu erkennen. Der Verkehr ist hier +offiziell so gewaltig auf ziemlich beengtem Raum, daß man +sich häufig wundert, wie sanft und bequem es zugeht. +Beruhigend wirken auch die vielen bunten Blütenkörbe der +Blumenfrauen. Und in der Mitte steht der berühmte +Verkehrsturm und wacht über dem Spiel der Straßen wie ein +Schiedsrichterstuhl beim Tennis. Seltsam verschlafen und +leer sehn jetzt am hellen Mittag die riesigen Buchstaben und +Bilder der Reklamen an Hauswänden und Dächern aus, sie +warten auf die Nacht, um zu erwachen. Scharf und glatt, +jüngstes Berlin, zieht das umgebaute Haus, das die +altberühmte Konditorei Telschow birgt, seine gläsernen +Linien. Das Josty-Eck bleibt noch eine Weile alte Zeit. Aber +an der andern Seite der Bellevuestraße wächst — einstweilen +noch hinter hoher plakatbedeckter Wand — etwas ganz Neues +herauf, ein Warenhaus mit einem Pariser Namen. Ob es so +schön werden wird, wie da drüben hinterm Laub des Leipziger +Platzes Messels Meisterwerk, das Haus Wertheim? Die +Bellevuestraße, in die wir schnell einen Blick werfen +dürfen, wird immer mehr eine *‚Rue de la Boëtie‘* von +Berlin. Kunstladen gesellt sich zu Kunstladen. Und davon +werden auch die Schaufenster der Modegeschäfte immer +erlesener, immer mehr Stilleben. Und das kommt sogar den +großen und kleinen Privatautos zugute, die in der Bucht der +Auffahrt vor dem Hotel Esplanade warten. Ihre Karosserien, +immer besser werdende Kombinationen von Hülle und Hütte, +haben wunderbare Mantelfarben. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Grünes Licht am Verkehrsturm. Wir umkreisen den Potsdamer +und fahren an den weißen Säulen der beiden Tortempelchen +vorbei den Leipziger Platz entlang. Rechts und links von dem +erzenen General Brandenburg, der, wie der Berliner Volkswitz +behauptet, mit seinem Visavis, dem General Wrangel, über das +Wetter spricht (‚Was für Wetter ist heut‘, fragt Wrangel und +streckt die Hand mit dem Feldmarschallstab etwas vor. ‚So +hoher Dreck‘, erwidert Brandenburg mit flachgehaltener +Rechten), neben diesem Kriegsmann stehn wieder in langer +Reihe die Blumenfrauen. Vor uns der Seiteneingang und die +stolzsteigenden schmalen Pfeiler und Metallzierate des +Warenhauses Wertheim. Von den neuen strahlenden Stoffen +seiner hohen Schaufenster wandert der Blick hinüber zu den +zartbunten und weißen Schüsseln, Tellern und Schalen aus +Altberliner Porzellan drüben im Hause der staatlichen, einst +königlichen Manufaktur. + +Recht leer und wie zu vermieten sieht das lange Herrenhaus +aus, es soll zurzeit in Ermangelung von Herren ein bißchen +Staatsrat und Volkswohlfahrt darin untergebracht sein. Auch +das benachbarte Kriegsministerium ist ziemlich ehemalig. +Selbst die meisten Reichswehrangelegenheiten werden anderswo +erledigt. Wie Spielzeug von weiland Fürstenkindern, in deren +Schlössern und Gärten man ja auch die +kleinen Spielkanonen sehen kann, stehn überm Portal ein paar +steinern winzige Soldaten in altertümlicher Uniform. Überm +Postministerium, das uns der Cicerone an der nächsten Ecke +zeigt, schleppen sich einige Giganten oder Atlanten mit +einer mächtigen steinernen Weltkugel, die ihnen hoffentlich +nicht verkehrstörend auf die Straße fallen wird. Solcher +Weltkugeln gibt es mehrere in Berlin, sie gehören mit zu den +Schrecken der letzten Jahre des vergangenen Jahrhunderts, +die jetzt an vielen Privatgebäuden in großartiger +Aufräumearbeit weggeputzt werden. Ich kenne persönlich eine +in der größten Geschäftsstraße von Schöneberg, die auf hohem +Eckhause über buckelndem Zwiebelgetürm schräg als +Glasveranda liegt. Diese und eine nicht minder stattliche im +bayrischen Viertel sind aus Glas. Und da sie nicht einmal +von zuverlässigen Giganten gestützt werden, wie hier die +über dem Postministerium, fürchte ich immer, daß sie noch +einmal herunterkugeln, und hoffe, sie werden beim nächsten +Großreinemachen beseitigt. Man könnte sie ja dann in ein zu +gründendes Museum der neowilhelminischen Architektur und +Plastik unterbringen, wohin sich vieles, was jetzt an +öffentlichem und Privatprunk störend herumsteht, entfernen +ließe. Das beste an diesem gewaltigen Eckhaus ist drinnen +eine Sammlung alter Verkehrsmittel; da gibt es Postkutschen +und erste Eisenbahnen *en miniature*, vor allem aber eine +Menge alter Briefmarken und Stempel, ein Erinnerungsfest für +jeden, der als Kind Thurn und Taxis und Alte Preußen, den +Kolibri von Guatemala und den Schwan von Australien +‚getauscht‘ hat, + +Zur Rechten und zur Linken rundet sich an dieser Ecke die +Mauerstraße, angenehme Unterbrechung in dieser Welt der +rechten Winkel. Ihre Kreislinie bezeichnet die Strecke einer +alten Stadtmauer, und der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm +I., der die ganze Friedrichstadt mit hübsch in Reih und +Glied stehenden Häusern hat bebauen lassen, soll seinen +Verdruß an den unvermeidlichen Rundungen der alten Straße +gehabt haben. Eh wir noch eine der beiden gleichfalls +rundlichen Kuppelkirchen deutlicher gesehen haben, zur +Rechten die Bethlehemskirche, zur Linken Schleiermachers +Wirkensstätte, die Dreifaltigkeitskirche, fährt unser Wagen +schon weiter. Und statt auf alte Kirchmauern haben wir auf +Pelz, Leinen, Seide und Stahl der prächtigen Auslagen zu +schauen. Bevor aber die gewaltigen nackten Steinmädchen über +dem Portal uns in das riesige Warenhaus Tietz locken können, +biegen wir in der Richtung auf den Gendarmenmarkt ein. Schon +von weitem haben die beiden patinierten Kirchenkuppeln und +das grüne Flügelpferdchen auf dem Dach des Schauspielhauses +gegen den lichten staubblauen Himmel geleuchtet. Nun halten +wir. Ich starre auf ‚Bühneneingang‘. Ihr andern, ihr +richtigen Fremden, habt hier nie als Schüler gewartet, um +die hehre Darstellerin der Jungfrau von Orleans herauskommen +zu sehn. Ihr bekommt die beiden Kirchen mit den berühmten +Gontardschen Kuppeltürmen, die Friedrich der Große anbauen +ließ, gezeigt und eingeprägt, daß die eine der deutsche, die +andre der französische Dom ist. Die beiden Türme sind +erheblich stattlicher als die zugehörigen älteren Kirchen, +die sich schüchtern neben ihnen ducken. Dafür ist das +Schauspielhaus, das Schinkel auf den stehengebliebenen Mauern nach dem +großen Brande, welcher das frühere Nationaltheater der +Ifflandzeit zerstörte, errichtet hat, eine wunderbare +Einheit. Die schöne Freitreppe zu der stolzen Vorhalle mit +den schlanken ionischen Säulen! Hinaufgegangen ist man sie +zwar nie. Für die einfachen Besucher gab’s da unten unterm +Durchgang den Zuweg. Die Freitreppe war am Ende für den +Hofstaat reserviert, zur Zeit, als dies noch ein königliches +Theater war. Der Begas-Schiller steht etwas unglücklich vor +dem Ganzen. Er wäre hier wohl lieber ein braver +moosansetzender Brunnentriton geworden als so in der Toga +und mit mehreren prätentiösen Damen am Sockel, welche Lyrik, +Drama, Geschichte und Philosophie vertreten, immer geradeaus +repräsentieren zu müssen. + +Die Fremden werden auf die Preußische Staatsbank, die alte +‚Königliche Seehandlung‘, aufmerksam gemacht, indessen +schiele ich hinüber nach der berühmten Weinstube, in der +Ludwig Devrient mit E. Th. A. Hoffmann gezecht hat. Der +wohnte hier an diesem Platze zur Zeit, als noch lauter +Immediatbauten den Gendarmenmarkt umgaben. Und ‚Des Vetters +Eckfenster‘ muß man sich auch hierhin denken und ihn dazu, +wie er in seinem Warschauer Schlafrock und die große Pfeife +in der Hand den munteren berlinischen Markt übersah. + +Wir biegen um eine Ecke und sind wieder auf einem dieser +merkwürdig schrägeckigen Plätze, die in alter Zeit Bastionen +der Stadtmauer waren. Er heißt Hausvogteiplatz und früher +war in der Nähe ein garstiges Haus, das in den vierziger und +fünfziger Jahren politische Gefangene vergitterte. Jetzt ist +ein fleißiges Geschäftsviertel rings umher. Altertümlich ist +hier nur noch der Grundriß, hier beginnt die Gegend der +verschiedenen Wallstraßen und das Gelände des alten +Friedrichwerders, dieses dritten Berlin neben dem, das +jenseits beider Flußarme liegt, und dem näheren Cölln an der +Spree. Hier könnten wir rechtshin fahren, erst an den +Engelchen vorbei, die in den Fensterkreuzen des Hospitals +der Grauen Schwestern von der heiligen Elisabeth beten, und +weiter in die Alte Leipzigerstraße und die wunderlichen +Winkel bei Raules Hof. Statt dessen lenkt unser Gefährt auf +breiterem Damme gen Norden, vorbei an dem rötlichen +Mauerwerk der Reichsbank, einem Werke Hitzigs, des Erbauers +der Börse, der für das reicher werdende Berlin der sechziger +und siebziger Jahre eine Art gediegener Renaissance für +Handel und Industrie schuf, die den bescheidenen +Klassizismus der letzten Schinkel-Schüler ablöste, immer +noch besser war als das, was hinterdrein kam, aber doch den +Weg ins Wilhelminische Spiel mit alten Stilen vorbereitet +hat. Noch recht unschuldig ist dagegen die sogenannte +‚modifizierte Gotik‘, in welcher Schinkel Ende der zwanziger +Jahre die Friedrich Werdersche Kirche am Werderschen Markt, +unserm nächsten Ziel, erbaut hat. Das ist ein brav +altpreußisches Werk, hat den braunen Backsteinton, wie ihn +in unserer guten Stadt eine ganze Reihe Kirchen und Bahnhöfe +haben, mehr pflichtgetreu als fromm aussehend, mehr an ‚Treu +und Redlichkeit‘ als an Mystik gemahnend. Ein strenger +Erzengel tötet überm Portal einen unbefugten Drachen und +schaut dabei nicht träumerisch ins Weite wie seine älteren +Vettern aus Holz, Stein und Farbe, sondern +zielend auf sein Opfer. Ob ihm dabei wohl manchmal die +eleganten Verkäuferinnen und Besucherinnen des großen +Modehauses gegenüber zuschauen? Ob sie es sympathisch +finden, daß er so beschäftigt ist mit seiner Mission oder es +lieber hätten, er träumte ein wenig ins Ungewisse, und +herüber? + +Über die Schleusenbrücke und den Schloßplatz. Denen, die die +Hälse nach dem stolzen Bau recken, verspricht der Führer, +daß wir nachher wieder hierher kommen, doch jetzt erst eine +kleine Tour durch Alt-Berlin machen wollen. Die muß leider +etwas eilig ausfallen, denn wir haben noch so viel zu +absolvieren. Ich aber rate dir, lieber Fremdling und +Rundfahrtnachbar, wenn du noch einmal in diese Gegend kommst +und Zeit hast, dich hier ein wenig zu verirren. Hier gibt es +noch richtige Gassen, noch Häuserchen, die sich +aneinanderdrängen und mit ihren Giebeln vorlugen, gar nicht +weiter berühmt außer bei ein paar Kennern und auch nicht so +leer oder nur so am Rande besiedelt, wie es die richtig +sehenswürdigen Häuser sind. Nein, sie sind dicht bewohnt +von ahnungslosen Leuten, die durch die weit offne Haustür +eine steile Treppe mit breitem Holzgeländer herunter kommen +oder hinter Blumenkästen und Vogelbauern aus schöngerahmten +Fenstern schauen. Sieh, da zur Rechten zweigt so ein Gäßchen +ab, Spreegasse heißt es und ist Raabes Sperlingsgasse, und +da steht auch das Haus, in dem der Dichter gewohnt hat, und +gleich daneben weiß ich eins mit reizenden Steingirlanden +über den Fenstern und wunderbar altgrünem Holz an Tür und +Torfassung. Die Brüderstraße, durch die +wir fahren, hat noch Schwung, und ihre Häuser, ob alt, ob +neu, stehn in bewegter Kurve. Dort in das unscheinbare mußt +du gehn. Das ist eine wichtige Berliner Stätte. Dem +berühmten und berüchtigten Friedrich Nicolai hat es gehört. +Die schöne Barocktreppe, die du innen sehn wirst, hat ein +früherer Bewohner, ein Kriegskommissär, bauen lassen. Eine +Zeitlang hat es der ‚patriotische Kaufmann‘ Gotzkowsky +besessen, der, als er noch reich war, Berlin im +Siebenjährigen Krieg vor Plünderung durch die Russen rettete +und später die Porzellanmanufaktur an Friedrich den Großen +verkaufte. Dies Haus hier kam dann, als er ruiniert war, mit +all seinem Besitz unter den Hammer und ist noch von mehreren +andern bewohnt worden, bis es der Buchhändler Nicolai +erwarb. Da wurde es zum gesellschaftlichen Mittelpunkt von +Berlin. Davon spürst du vielleicht etwas, wenn du in den +großen Saal mit den Wandspiegeln und Paneelen kommst. In den +kleineren Räumen aber, die jetzt ein Lessing-Museum bergen, +haben ein paar entzückende Kinder gespielt und gelernt, +worüber zu lesen in den unvergleichlichen Tagebüchern der +Lily Partey, die des alten Nicolai Enkelin war. Viele +bedeutende und manche kuriose Berliner der +geistig-geselligen Zeit im Anfang des neunzehnten +Jahrhunderts gingen in diesen Räumen ein und aus und waren +zur Sommerszeit in der Gartenwohnung der Parteys zu Besuch, +die in der Blumenstraße lag, draußen bei der Contrescarpe, +dem späteren Alexanderplatz. + +Petrus ist der Patron der Fischer und nach ihm heißt die +Kirche, um die wir jetzt herumfahren. Sie steht an der +Stelle des Heiligtums der Fischer von Alt-Cölln. Einem andern +heiligen Wesen, an dem das Herz der Cöllner und Berliner +hing, ist dort auf der Brücke, über die der Weg zum +Spittelmarkt führt, ein Denkmal, allerdings erst in neuerer +Zeit, errichtet. Das ist Sankt Gertraudt, die Äbtissin, die +Spitäler und Herbergen für Reisende gegründet hat. Der +Spittelmarkt hat seinen Namen von dem Gertraudtenhospital, +als dessen letzter Rest noch bis in die achtziger Jahre die +kleine Spittelkirche stand, mitten auf einem idyllischen +Marktplatz, aus dem mit der Zeit einer der +verkehrsreichsten, von hohen Geschäftshäusern umgebenen +Plätze der Stadt geworden ist. Vor der Heiligen auf der +Brücke kniet ein fahrender Schüler, dem sie einen Trunk +reicht. Sieht sie nicht, daß er eine gestohlene Gans an +einer Leine mit sich führt, oder übersieht sie es gnädig? +Als Freundin der Wanderer ist sie auch den Seelen der +Verstorbenen auf ihrer Wanderschaft hold. Die verwandeln +sich nach einer Volkssage in Mäuse und kommen in der ersten +Nacht nach dem Tode zu Sankt Gertraudt, in der zweiten zum +heiligen Michael und erst in der dritten in ihr +Dauerjenseits. Daher die Mäuseschar am Sockel des Denkmals. +Sankt Getraudt hat in der Hand einen Spinnrocken. Sie ist +der Frau Holle und der heidnischen Gottheit, aus der die +Frau Holle wurde, verwandt und beschützt den Flachsbau und +die Spinnerinnen. Die Frühlingsblumen aber, die als Spende +zu ihren Füßen liegen, bedeuten Dankgaben der Landleute, +deren Flur und Feld die Gebieterin der Mäuse vor den Tieren, +die unter ihrem Zauber stehen, schützt. Es ist gerade kein +großes Meisterwerk, das Denkmal, das hier so ausführlich +beschrieben wird, aber es passiert soviel darauf, daß man +davon berichten kann wie Pausanias von dem heiligen +Steinwerk Griechenlands. + +Die Gertraudtenstraße führt uns zum Cöllnischen Fischmarkt, +der einstmals der Hauptplatz von Cölln an der Spree war. +Hier stand bis vor dreißig Jahren das Cöllner Ratshaus. Aber +ein putzigeres Gebäude aus älterer Zeit ist schon seit +Jahrhunderten verschwunden. Das Narrenhäuslein meine ich, in +das man in alten Tagen die Betrunkenen brachte, damit sie +ihren Rausch ausschlafen konnten. Wenn das Narrenhäuslein +nicht mehr steht, so gibt es doch nicht weit von hier ein +uraltes Haus, in dem es auch recht närrisch zugehen kann. +Das ist am Ende der Fischerstraße, die an alten Gassen +vorbei vom Fischmarkt zu der Friedrichsgracht führt, das +Gasthaus zum Nußbaum. Man behauptet, es sei Berlins ältestes +Haus und es sollen hier schon die Landsknechte mit +berlinisch-cöllnischen Dirnen gezecht haben. Es hat einen +hohen mittelalterlichen Giebel. Wer es richtig kennen lernen +will, der muß spät abends hingehen. Da ist eine seltsam +gemischte Gästeschar versammelt. Seidenbluse und Schürze +sieht man nebeneinander am selben Tisch und Fischer- und +Fuhrmannskittel neben Bratenröcken. An der Wand hängen unter +alten Gastwirtsdiplomen echte Zille-Bilder, vom Meister +selbst geschenkt. Hier habe ich zum ersten Male die +neuerdings veränderte Loreley singen hören mit den +schmetternden Strophenanhängseln: + + | ‚Sie kämmt sich mit dem Kamme, + | Sie wäscht sich mit dem Schwamme‘ + +und die Bekanntschaft von Ludeken gemacht, die sich selbst +‚eine Alte von Zille‘ nennt, zu allem, was sie sagt, den +Finger geheimnisvoll an den Mund legt und, wenn sie munter +wird, abwechselnd ihre Papiere und ihre weiße Unterwäsche +zeigt. Sie bekommt von aller Welt zu trinken, gießt aber +doch noch heimlich in ihrer Ecke die Neigen einiger Gläser +zusammen. Tanzen tut sie auch manchmal mit Kavalieren oder +allein, und das ist ein erbaulicher Anblick. Nur wenn ihr +‚Chef‘ kommt, hockt sie sich brav in ihre Ecke. Der Chef ist +einer, dessen Pferde Ludeken in aller Morgenfrühe betreuen +und füttern muß; und dazu nüchtern zu sein, ist nicht +leicht. + +Unser Wagen rollt über den Mühlendamm, das ist die Brücke, +die Cölln und Berlin verband, als es noch ihrer zwei waren, +verband und trennte. Denn auf dieser Stelle haben sich die +Bürger der Nachbarstädte des öftern die Köpfe blutig +geschlagen. Am Brückenrand stehen zwei bronzene Markgrafen: +Albrecht der Bär und Waldemar. Sie sind einem nicht gerade +im Wege, aber sie brauchten nicht unbedingt hier zu stehen, +sie haben ja schon ihren Standort in unserer kompletten +Siegesallee. Hübsch muß, nach den alten Bildern zu +schließen, dieser Mühlendamm gewesen sein, als noch +Bogenhallen und Trödlerläden hier waren. Und die Mühlen +selbst waren gewiß auch erfreulicher anzusehen, als es das +städtische Dammühlengebäude ist, diese falsche Burg aus den +neunziger Jahren, in der jetzt eine städtische Sparkasse +untergebracht ist. Wenn sich das große Bauprojekt für das +Berliner Wasserstraßennetz verwirklichen und die +Mühlendammschleuse umgebaut +werden wird, um den Ansprüchen größerer Schiffe zu genügen, +wird unter anderm auch dies Gebäude fallen, und dann gibt es +schöne Aufgaben für unsere Stadtbaumeister und Architekten. + +Wir halten auf dem Molkenmarkt. Da fällt uns ein schönes +Haus aus friderizianischer Zeit auf, das Palais Ephraim, das +des großen Königs berüchtigter ‚Münzjude‘ erbauen ließ, der +Verfertiger der minderwertigen Friedrichdors, der +sogenannten ‚Grünjacken‘, von denen man reimte: + + | Von außen schön, von innen schlimm, + | Von außen Friederich, von innen Ephraim. + +Innen kann man das schöne Haus nicht besehen, da sitzen +Behörden. Außen bildet es als Eckhaus mit seinen auf +toskanischen Säulen ruhenden Balkonen, den korinthischen +Wandpfeilern, den zierlichen Putten überm Gitterwerk ein +wunderbares Halbrund. Um den Molkenmarkt herum lag die +älteste Ansiedlung auf der berlinischen Seite der Spree, und +hier finden wir auch die einzige ganz erhaltene +mittelalterliche Gasse, den oft beschriebenen und oft +abgebildeten Krögel, der so berühmt ist, daß unser Wagen vor +seiner Einfahrt hält und die Insassen aussteigen und den +schmalen Gassengang nach dem Wasser zu gehn. Ursprünglich +soll hier ein schon in alter Zeit zugeschütteter Kanal oder +Spreearm gewesen sein, der dem Verkehr vom Markte und +Packhof zum Flusse diente. Ein Torweg führt in den inneren +Hof der Gasse. Hier war im Mittelalter das einzige Badehaus +von Berlin. Da bedienten den Badenden die Töchter der Stadt, +von denen man sagte, daß sie ‚an der Unehre saßen‘. Sie +hatten eine Art Berufstracht, kurze Mäntel, und mußten ihr +Haar kurzgeschoren tragen. Es war also wohl sehr +beleidigend, als anno 1364 der Geheimschreiber des +Erzbischofs von Magdeburg, ein leichtfertiger Lebemann, eine +ehrsame Bürgerstochter aufforderte, ihn nach dem Krögel zu +begleiten, und die Wut der Bürger ist zu verstehn, die zum +Hohen Haus zogen, wo des Bischofs Gefolge zu Gaste war, den +Frevler von der Tafel wegrissen und auf dem Markte zu Tode +prügelten. Zu besondern Gelegenheiten sind aber auch ehrsame +Frauen in den Krögel gekommen. Es war Sitte, daß man die +Brautfeierlichkeiten mit einem Bad und Frühstück beim Bader +begann. Dann kam ein bunter, munterer Zug die alte Gasse +herauf, voran die Musiker und der Spaßmacher. Sehr +zartfühlend werden die Scherze nicht gewesen sein, die sich +die Braut gefallen lassen mußte. An eine spätere Zeit +erinnert die alte Sonnenuhr, die noch heute an einer Mauer +zu sehn ist. Sie zeigte die Stunde den Hofleuten fremder +Fürstlichkeiten, die hier einquartiert wurden, wenn ihre +Gebieter beim Kurfürsten zu Gaste waren. Heut sind in den +überhängenden Stockwerken und hinter den kleinen Fenstern +der Erdgeschosse Werkstätten und kleine Wohnungen. Und einer +der Anwohner dieses Restes Mittelalter besitzt ein Museum +mit Waffen, Stichen und altem Hausrat. Zur Sommerzeit hallt +manchmal der lustige Lärm vom neuesten Freibad herüber, das +nach der Waisenbrücke zu und Neucölln am Wasser gegenüber +liegt. Da hat sich aus dem Schutt der Umbauten für die +Untergrundbahn, deren Tunnel hier aus der Spree taucht, eine +Art Strand gebildet. Den hat sich +junges Volk zunutze gemacht und das Freibad Paddensprung +eröffnet. Sonst aber ist es recht still im Krögel, und wenn +abends auch noch die Arbeitsgeräusche der Werkstätten +verstummen, kann im späten Licht mit Fachwerk und Giebel +hier ganz altes Berlin erstehn. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Vom lebhaften Molkenmarkt führt rund eine Gasse auf den +stillen Platz, auf dem die älteste Kirche der Stadt steht, +sie ist dem Schutzpatron der Reisenden und Kaufleute, Sankt +Nikolaus, geweiht gewesen. Von ihrer älteren Mauer ist noch +ein massiver Turmunterbau aus Granitquadern erhalten, alles +andre verbrannte bei einem der vielen Brände, die Berlin +verheert haben, im Jahre 1380. Die späteren Teile, Chor und +Langschiff, sind viel umgebaut worden. Hier mußt du einmal +wochentags mittags eintreten an Tagen, an denen die Orgel zu +stiller Andacht spielt. Unter ihrer Masse erkennt man im +Dämmerlicht die Umrisse eines Erbbegräbnisses, das von +Schlüters Meißel stammt. Je länger man hinschaut, um so +deutlicher tritt die Rundung der Vasen und barocker +Faltenwurf hervor. Die gotische Halle hat viel große und +kleine Kapellen mit Denkmälern aller großen Kunstepochen und +heiligt das Gedächtnis mancher Männer, die weit über den +Stadtbereich hinaus berühmt geworden sind. Da gibt es +Porträts von Militärs, Pröpsten, Gelehrten, Ratsherren und +ihren Ehegattinen. Viel bärtige Häupter in Fältelkragen und +Allongeperücke, gekrönt von allegorischen Frauenhänden mit +Lorbeer oder von Putten mit Sternenkronen. Auf Urnen +rahmt Akanthus alte Wappen. Ein kleiner Amor weint über +Stundenglas und sinkender Fackel. Unter geflügelten +Totenköpfen erscheint auf dunklem Grund ein Bildnis, +umringelt von der Schlange der Ewigkeit. + +Die Nikolaikirche ist wie die Marien- und die Klosterkirche +protestantisch geworden, aber sie hat wie jene noch etwas +von der alten Pracht behalten. Schade, daß es nicht mehr +nach Weihrauch riecht in ihren Hallen. Interessant zu +wissen, daß hier der Ablaßkrämer Tetzel gepredigt hat, +umlagert von dem damaligen *Tout-Berlin*, das ihn mit +Würdenträgern, Zünften, schwarzen und weißen Mönchen vom +Stadttore abgeholt hatte. + +Der stille Platz, der die Kirche umgibt — diese Trauminsel +mitten im Lärm der Großstadt — war und hieß früher +Nikolaikirchhof und das paßte zu den vielen Grabmälern im +Innern der Kirche und außen an der Kirchenwand. An diesem +Platz stehen noch ein paar sehr alte Häuschen, und wenn man +in eines geht, sieht man auf winzig kleine Höfe. In die +Wohnungen führen steile Stiegen, manche der Häuser haben +keine selbständige Giebelmauer, sondern sind ans Nachbarhaus +‚angebacken‘; und eins, das sich rühmt, Berlins kleinstes +Haus zu sein, hat zwar einen Privatmittagstisch, aber keine +Hausnummer, und man kann es nur vom Nachbarhaus her +betreten. Von solchen Häusern können wir bei einer Wanderung +durch die Altstadt noch hie und da einige sehn. Sie sind oft +nur drei Fenster breit. Die Haustür hat zwei Flügel, der +eine öffnet sich direkt vor der Wohnung im Erdgeschoß, der +andre stößt auf die schmale Treppe, die an der Türschwelle +beginnt und ins obere Stockwerk steigt. + +Wir fahren zurück zum Mühlendamm, dann die Straße ‚An der +Fischerbrücke‘ entlang und kommen über die Inselbrücke nach +Neukölln am Wasser. Hier und gegenüber auf der +Friedrichsgracht gibt es wieder einige alte Häuser, teils +mit spitzen Satteldächern, teils mit den hübschen +Mansardendächern der Barockzeit, mit Girlanden unter den +Fenstern und Pilastern, die die Hausfront schön gliedern. +Unser Wagen fährt zu eilig, um das alles anzusehn, wir +müssen es auf eine Fußwanderung durch die Straßen und die +nahen Gassen am Fluß verschieben. Da werden sich neben dem +Malerischen auch einige Kuriosa finden, wie die Riesenrippe +an einem Eckhaus des Molkenmarkts oder an einem Hause in der +Wallstraße das Relief eines Mannes, der eine Tür auf dem +Rücken trägt. Er wird nach der biblischen Sage vom Tore zu +Gaza der Simson genannt. Nach einer Überlieferung soll diese +Gestalt an die Zeit erinnern, da hier das Köpenicker Tor +stand, dessen Haspen seinerzeit in diesem Hause aufbewahrt +worden seien. Witziger aber ist die Deutung, die von einem +armen Schuster zu erzählen weiß, der hier mit seiner +kinderreichen Familie kümmerlich lebte. Als nun Friedrich +der Große mit seinem Lotteriedirektor Casalbigi, den wir aus +Casanovas Memoiren kennen, eine große Lotterie aufmachte, +die ihm viel Geld eintrug und seine Bürger viel Geld +kostete, soll dieser Schuster ein Los gekauft und, da er +fürchtete, seine Kinder könnten es in der engen +Schusterstube beim Spielen verbringen, mit Pech an die +Stubentür geklebt haben. Gerade +dieser Arme hatte Glück und zog das große Los. Um nun seinen +Schein vorzuweisen, blieb ihm nichts übrig, als die Tür aus +den Angeln zu heben und auf den Rücken zu laden. So wanderte +er zur Verwunderung seiner Mitbürger zum Lotteriegebäude. +Und nachdem er sein Geld bekommen, ließ er aus Dankbarkeit +das Bildnis an seinem Hause anbringen. Solcher an Altertümer +anknüpfender Geschichten gibt es auch in unserer nicht +gerade sagenreichen Stadt einige. Die bekannteste ist die +oft erzählte vom Neidkopf in der Poststraße, den der +Soldatenkönig und gute Hausvater Friedrich Wilhelm I. +anbringen ließ, eines fleißigen Goldschmieds neidisches +Gegenüber zu bestrafen. + +Jetzt wollen wir im Vorbeifahren wenigstens auf die Brücken +einen Blick werfen, Waisenbrücke, Inselbrücke und die schöne +Roßstraßenbrücke, welche der Stadtbaurat Ludwig Hoffmann, +dem Berlin so viel verdankt, gebaut hat. Nirgends ist die +Spree so sehr wie in dieser Gegend ein Teil der +Stadtlandschaft geworden und geblieben. Hoffmann und seine +Mitarbeiter haben es verstanden, was neu zu bauen war, dem +alten anzupassen ohne in Historismus und Abhängigkeit zu +verfallen wie die ‚romanischen‘ Baumeister Wilhelms II. An +einem der Meisterwerke dieses Künstlerkreises kommen wir +jetzt vorbei, dem Märkischen Museum. Cöllnischer Park heißt +der Garten, an dem dies stolze Bauwerk sich erhebt, und im +Grünen lagern Säulenstücke und stehen brüchige Engel, +zwischen denen man umherspazieren, spielenden Kindern +zusehen oder die eine Front der Museumsburg anschauen kann. +Um den dicken eckigen Turm sind in Backstein allerlei +märkische Stilperioden, +wie sie in reicher bedachten Städten, Tangermünde, +Brandenburg usw., vertreten sind, vereinigt. Und diese +Vielgliedrigkeit paßt gut zu dem Museumscharakter des +Ganzen. Im Innern läßt sich reichlich Heimatskunde treiben, +von ältester Zeit bis in Theodor Fontanes Tage. Hier kann +man Hosemanns Kleinbürgerstadt kennen lernen, Berliner +Zimmer aus der Biedermeierzeit sehn, eine Putzstube wie die, +von der Felix Eberty erzählt; man könnte allerdings aus +Berliner Privatbesitz noch viel mehr Biedermeier sammeln, +all den rührenden Kleinkram an Etuis und Bestecks, +Spieldosenhäuschen aus Zitronenholz, Stammbuchbildern, das +viele herbstliche Goldgelb der Möbel aus flammender Birke +und das Mahagoni der Schränke. Ja, ich könnte mir ein ganzes +Museum Berliner Inneneinrichtung denken, wo als Kuriosum +auch das späte neunzehnte Jahrhundert mit Plüsch und Nippes, +verdunkelnden Butzenscheiben, Gipsengeln und Reisealben zu +sehen wäre. Eine sehr reizvolle Abteilung des Märkischen +Museums ist auch die Flora- und Faunasammlung: schöne +Schachtelhalm- und Weidenarten, Rohr, Farren und Getreide +und die Schnecken und die wunderbaren Ornamente der +Wespennester. + +Vor dem Museum steht ein Roland, der dem Roland von +Brandenburg nachgebildet ist. Seinen eignen Roland hat +Berlin schon früh verloren. Er soll als Sinnbild der +städtischen Selbständigkeit auf dem Molkenmarkt oder da in +der Nähe gestanden haben. Und Friedrich II. der Kurfürst, +der der Stadt ihre Macht raubte und den Bären ihres Wappens +unter den Adler des seinen zwang, soll ihn haben fortnehmen +und in seine Zwingburg bringen lassen. Da man aber nie ein +Stück von diesem Roland auffand, entstand die Sage, der +Kurfürst habe ihn in die Spree geworfen. Nun neuerdings hat +Berlin wieder Rolande, den am Kemperplatz, welcher den +träumerisch grünen sogenannten Wrangelbrunnen unserer +Kindheit und seine freundlichen Meergötter verdrängt hat. +Und den, der als eine Art Brunnenbübchen vor dem einen der +unglücklichen romanischen Häuser an der Kaiser +Wilhelm-Gedächtniskirche steht. Der wird aber, wie wir +hören, demnächst dem überhandnehmenden Verkehr aus dem Wege +geschafft werden. + +Wir fahren über die Waisenbrücke zurück und sehen zur +Rechten, da, wo die alte Jannowitzbrücke abgebrochen wird, +ein wunderbares Schauspiel aus Ruinen und Neubauwelt. +Zwischen Kranen und Kähnen, Schuttbergen und Baggermaschinen +schwimmt der Trümmerrest der alten Brücke, ein ‚Ponte rotto‘ +mitten in der Spree. Auch an dem Stadtbahnbogen da oben wird +gearbeitet und sein aufgebrochenes Mauerwerk ist ein von +Erinnerungen angeräuchertes Stück Tempel des Dampfes, dieser +schon altertümlich gewordenen Lokomotion. + +Die Stralauerstraße führt uns an dem mächtigen Stadthaus +entlang, das Ludwig Hoffmann gebaut hat. Wir blicken hinauf +zu dem hohen Turm mit seinen zwei Säulengeschossen und der +‚welschen Haube‘, die ihn deckt. Wir biegen in die +Jüdenstraße ein und sehen an dem Eingang zur Festhalle des +Stadthauses den bronzenen Bären von Wrba, der hier als +wackeres Totemtier des Berliner Volkes Wache steht. Der gute +Bär von Berlin, er muß durch irgend eine immerhin +begreifliche Volksetymologie zu seiner Stadttierwürde +gekommen sein. Denn das Wort Berlin hat nichts mit Bär zu +tun, sagen die Gelehrten, vielmehr bedeutet es hier wie an +mehreren andern Orten, wo Plätze so heißen, auf wendisch das +Wehr. Und solch ein Wehr oder Wasserrechen verband in der +wendischen Vorzeit das rechte und das linke Spreeufer, so +daß schon vor den Zeiten des Mühlendamms eine Gemeinschaft +zwischen den späteren Orten Berlin und Cölln bestand. Aber +nun ist der Bär einmal unser Stadttier geworden und der von +Wrba ist besonders sympathisch. Jetzt schaut der spitze +grüne Turm der Parochialkirche auf uns nieder, in dem ein +schönes Glockenspiel Sonntag und Mittwoch mittags erklingt. + +In der benachbarten Parochialstraße stehn ein paar uralte +Häuschen, die bald abgerissen werden sollen. Sie sind so +baufällig, daß die Baupolizei den Aufenthalt von Menschen +darin nicht länger dulden kann. Man weiß aber oft gar nicht +recht, wer da wohnt, und so werden denn die unbekannten +Einwohner durch Anschläge aufgefordert, die Stätte zu +räumen. Eins heißt bei den Nachbarn das Spukhaus, dessen +‚Schwarzmieter‘ lassen sich tags überhaupt nicht sehn. Da +sind die Fenster und Türen zum Teil schon herausgenommen. +Ein andres ist die provisorische Stätte einer sehr +merkwürdigen Ausstellung. Da hat ein Friedensfreund sein +‚Antikriegsmuseum‘ aufgemacht. Als Blumentöpfe hat er vor +dem Laden Helme aufgehängt, wie man sie im Schützengraben +trug. In der Auslage gibt es vielversprechende Sprüche und +Bilder. Stufen führen hinunter in einen kellerähnlichen +Raum, der hinterwärts an ein schon im Abbruch begriffenes Stück +Haus stößt. Ein Todesgrinsen liegt auf den Photographien +gräßlich Verwundeter, den Waffenteilen, Geschoßstücken, den +Mobilmachungsbefehlen und Aufforderungen zu goldnes +Zeitalter verheißenden Kriegsanleihen. Helmchen und +Säbelchen für die lieben Kinder zu Weihnachten, Kissen, auf +denen gestickt zu lesen ist ‚Unserm tapfern Krieger‘, +Erkennungsmarken, Auslandskarikaturen auf die Großen der +großen Zeit, Seifenkarten, Brennholzscheine, ‚deutscher‘ Tee +neben Bleisoldaten und Tassen mit der Inschrift ‚Gott strafe +England‘. Eine lehrreiche Sammlung, die hoffentlich eine +würdige Stätte finden wird, wenn hier alles abgerissen ist. + +Ein paar Schritte weiter die Jüdenstraße hinauf öffnet sich +zwischen den Häusern ein Durchgang zum sogenannten Großen +Jüdenhof — wie schon das Beiwort andeutet, hat es außer ihm +ehedem noch einen kleinen nicht weit von hier gegeben, der +inzwischen einer Straßenverbreiterung zum Opfer gefallen +ist. Der große aber ist noch ganz vorhanden und umgibt mit +einem Dutzend Häuser einen stillen hofartigen Platz. Vor dem +stattlichsten der Häuser, in das eine Freitreppe mit +Eisengitter führt, steht ein alter Akazienbaum. Unter diesem +Baum ‚vor dem Haus mit der Treppe‘ sollen die Juden, als sie +wieder einmal vertrieben wurden, ihr Gold vergraben haben — +sie wußten gewiß, der Markgraf oder Kurfürst, der sie +fortjagte, werde bald wieder seine ‚Kammerknechte‘, so +nannte man sie, nicht entbehren können. Das war in der Zeit, +als sie hier hinter Eisentoren hausten, die des Nachts +verschlossen und bewacht wurden. Auf der Straße +durften sie sich nur in ihrer Zwangsuniform, Kaftanen von +bestimmten Farben und spitzen Hüten, zeigen. Festen Wohnsitz +durften sie nicht erwerben, auch nicht während der Märkte +und Messen Handel treiben, und sie mußten hohe Schutzgelder +zahlen. Offenbar wird es ihnen hier doch gefallen haben, +denn aus jeder Verbannung sind sie, sobald sie konnten, +wieder hierher zurückgekehrt, haben Reichtümer erworben, +sich verdächtigen und foltern lassen. In ausführlichen +Darstellungen und Bildern ist die Geschichte jenes Lippold +erhalten, der an des Kurfürsten Hof in hohem Ansehen stand, +aber von dem Sohn und Nachfolger seines Gönners schwer +beschuldigt und zu qualvollem Sterben verurteilt wurde. Der +Henker im hellgrauen Hut mit der roten Binde mußte ihn auf +dem Armesünderkarren von Stätte zu Stätte führen, wo der +Karren an einer Ecke hielt, gräßlich martern und endlich auf +dem Markte vierteilen. Die Gassenbuben liefen hinterdrein +von Ecke zu Ecke, es war ein Fest für sie zuzusehen, wie der +Henker dem Verurteilten den Staupbesen gab. Als dann +humanere Zeiten kamen, bezogen die Juden Quartiere außerhalb +des alten Ghettos, das nun ganz zum Idyll mitten in der +lärmenden Stadt geworden ist. + +Etwas Ghettoähnliches gibt es noch heut an andrer Stelle, +übrigens auch nur noch für kurze Zeit, denn das +Scheunenviertel mit seinen vielen Gassen zwischen +Alexanderplatz und Bülowplatz, das dieses Wahlghetto birgt, +ist im Begriff, vom Erdboden zu verschwinden. Man muß sich +beeilen, wenn man das Leben in den Straßen mit den +merkwürdig militärischen, garnicht ans Alttestamentarische +erinnernden Namen wie Dragoner- und Grenadierstraße, noch kennen lernen +will. Schon erheben sich die neuen Häuserblöcke und +überragen die Reste, die langsam Ruine werden. Aber eine +Zeitlang gehen noch die Männer mit den altertümlichen Bärten +und Schläfenlocken in langsamen, die schwarzhaarigen +Fleischertöchter in munteren Gruppen den Damm ihrer Straße +auf und nieder und reden Jiddisch. An Läden und +Stehbierhallen sind hebräische Inschriften. Noch sind diese +Straßen eine Welt für sich und den ewigen Fremden eine Art +Heimat, bis sie, die vor noch nicht langer Zeit von einem +Schub aus dem Osten hergetragen worden sind, sich soweit in +Berlin akklimatisiert haben, daß es sie verlockt, tiefer in +den Westen vorzudringen und die allzu deutlichen Zeichen +ihrer Eigenart abzutun. Es ist oft schade darum, sie sind +eigentlich so, wie sie im Scheunenviertel herumgehen, +schöner als nachher in der Konfektion und an der Börse. + +Böse Zungen haben die schmale Privatstraße, die von der +Potsdamer an alten Gärten entlang führt und zur Lützowstraße +umbiegt, das neue Ghetto genannt. Dieses Scherzes sind die, +welche hinter dem Gitter des Durchgangs wohnen, wohl kaum +würdig, man wird da keinen Kaftan und keine Schläfenlocke +finden. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Rasch fährt unser Wagen durch die Klosterstraße. Er hält +nicht vor den Wandelgängen des alten Gymnasiums zum Grauen +Kloster, dem ältesten Berlins. Es ist aus dem Kloster +der Franziskaner oder Grauen Brüder hervorgegangen und +enthält in seinen Mauern noch Konvent- und Kapitelsaal. Im +Hofraum erhebt sich die Klosterkirche. Sie ist von dem +großen Brande des Jahres 1380 bis auf den Turm unversehrt +geblieben, und ihre Mauern bergen das meiste Mittelalter von +allen Berliner Kirchen. Im dämmerigen Chor wird der Besucher +die fünfzig Gestühle der Mönche bewundern, sie sind aus +Eichenholz, mit reichem gewundenen Schnitzwerk geziert. Über +ihnen sind in der Wandbekleidung geschnitzte Sinnbilder, +merkwürdige Allegorien der Passionsgeschichte, ein Zählbrett +mit Silberlingen, das den Verrat des Judas, zwei +aneinandergeschmiegte Köpfe, die seinen Kuß bedeuten, Fackel +und Laterne gemahnen an die nächtliche Verhaftung im Garten +Gethsemane, Ketten an Jesu Fesseln, Schwert und Ohr an Petri +Hieb nach dem Knecht der Hohenpriester. + +Als das Gymnasium gegründet wurde, bekam es nur die Hälfte +der Klostergebäude, die andre, und zwar die nach dem +sogenannten Lagerhause zu, bekam Leonhard Thurneysser, der +Tausendkünstler aus Basel. Er hatte hier und in dem +Lagerhause selbst seine Buchdruckerei, Schriftgießerei, +Werkstätten für Holzschnitt und Kupferstich, er machte +Goldtinkturen und Perlenelixiere, Amethyst- und +Bernsteinessenzen, ja auch Schönheitswässer für die Damen +der hohen Gesellschaft, die ihn jede einzeln in Dankbriefen +baten, er solle doch ja keiner andern den gleichen +Zaubersaft zukommen lassen. Man erzählte sich von ihm, daß +er Satan in Gestalt eines Skorpions in einem Glase gefangen +halte und daß täglich drei schwarze Mönche mit ihm speisten, +die gewiß Abgesandte der Hölle seien. + +Das Lagerhaus war hervorgegangen aus dem Hohen Hause, der +alten Markgrafenresidenz, die der erste Zollernkurfürst +bezog und seine Nachfolger erst verließen, als ihre +Zwingburg zu Cölln an der Spree vollendet war. Da wurde dann +das Lagerhaus wie alles in dieser Gegend Burglehen. Was in +diesen Burglehen hauste, war abgabenfrei, aber zum +Schloßschutz verpflichtet. Aus den Burglehen sind die +späteren Freyhäuser geworden, deren noch eine Reihe an den +Inschriften überm Hauseingang kenntlich sind. Die Geschichte +des Hohen und späteren Lagerhauses ist interessant: hier +wurde von Friedrich II. der Schwanenorden gestiftet. Bei der +Aufteilung kam es an einen Ritter von Wardenfels und nach +ihm an eine Reihe Adliger und Geistlicher. Im siebzehnten +Jahrhundert wurde es eine Zeitlang Privatbesitz, im +achtzehnten Ritterakademie. Dann gab es Friedrich Wilhelm I. +dem Staatsminister Johannes Andreas Kraut als Lagerhaus für +Wollwaren. Der König, der für sein Militär kein +ausländisches Tuch kaufen wollte, begünstigte sehr die +Fabrik seines Getreuen. Sie ist erst im Anfang des 19. +Jahrhunderts eingegangen. Die Räume wurden staatliche +Dienstlokale. Eine Zeitlang war das Geheime Königliche +Staatsarchiv darin. Jetzt steht an den Erdgeschoßfenstern +des immer noch stattlichen Hauses ‚Zu vermieten‘. + +An dem mächtigen Gebäude des Land- und Amtgerichts entlang +kommen wir zu den Stadtbahnbögen und dem Alexanderplatz, auf +dem es zurzeit recht unordentlich aussieht, +weil hier ein ganzes Stadtviertel eingerissen und umgebaut +wird. Die Heimlichkeiten der Umgebung dieses Platzes zu +erforschen, ist hier vom Fremdenwagen aus keine Zeit. Das +muß einem Spaziergang nach dem Osten vorbehalten bleiben. +Ein Stück Neue Friedrich- und ein Stück Kaiser Wilhelmstraße +fahren wir bis zum Neuen Markt. Zu Fuß wären wir dahin die +schmale Kalandsgasse gegangen und hätten uns der etwas +rätselhaften Kalandsbrüder erinnert, von denen sie ihren +Namen hat und deren Kalandshof hier im Schatten von Sankt +Marien stand. Die alte Elendsgilde dieser Gesellen, deren +Name rätselhaft bleibt (die Deutung nach calendae wird +angezweifelt), verwandelte sich mit der Zeit aus einer nach +gestrengen, in manchem an Templersitten gemahnenden Gesetzen +lebenden Bruderschaft der ‚elenden Priester der Propstei‘ in +eine recht wüste Rotte, deren Lebensweise bewirkte, daß man +hierzulande unter ‚Kalandern‘ eine besonders wüste Art +Müßiggang verstand. + +Auf dem Neuen Markt steht vor der Marienkirche ein großes +Lutherdenkmal. Da ist der Reformator mit obligater Bibel +nebst seinem ganzen Stabe zu sehen. Die Mitstreiter bewohnen +sitzend und stehend den breiten Sockel des großen +Steinwerks, und zwei sitzen sogar noch auf den +Treppenwangen. + +In alter Zeit hat hier ein Galgen gestanden für Soldaten, +die zu einem schimpflichen Tode verurteilt waren. Als er +errichtet wurde, war gerade Peter der Große von Rußland bei +König Friedrich Wilhelm I. zu Besuch. Der Zar interessierte +sich sehr für das neue Hinrichtungsinstrument und bat den +König, an einem seiner langen Kerle den Apparat +auszuprobieren. Als der König sich entrüstet weigerte, sagte +Peter: ‚Nun, dann können wir’s mit einem aus meinem Gefolge +versuchen.‘ Hoffentlich haben die Monarchen von diesem +Versuch Abstand genommen. Es ist immerhin besser, daß jetzt +da kein Galgen, sondern nur ein Denkmal steht. Am besten +aber stünde gar nichts oder nur die bunten Buden eines +Marktes wie in früheren Zeiten. Die Marienkirche hat breite +Steinquadern, Granit der Findlingsblöcke, aus der Zeit, +bevor man in der Mark mit Backstein baute. + +Diese Kirche, mein lieber Fremder, mußt du dir innen +anschauen, wenn du irgend Zeit hast. Da ist eine wunderbare +Kanzel von Schlüter. Und das Ergreifendste an dieser Kanzel +sind zwei große Engel, welche die Ekstase von den tastenden +Zehen bis zu den emporgedrehten Hälsen bewegt. Im Flaum +ihrer mächtigen Marmorflügel zittert Verzückung. In den +Kapellen schöne Grabmonumente: hinter schmiedeeisernem +Gitter das reichverzierte Grabmal eines Patrizierehepaars. +Zwischen derben Engeln ein wackrer Reitersmann mit dem +würdigen Vorbauch der Wallensteinzeit, halbleibs über einem +Totenkopf betend. Eine süß lagernde Barockputte zeigt auf +das Reliefbildnis einer Verstorbenen. Im Chor das große +Grabmal des Grafen Sparr, der ein Wohltäter der Kirche war; +ein Antwerpner Künstler soll das geschaffen haben. Der +Feldmarschall kniet mit den bepanzerten Beinen in +säulenumgebener Kapelle vor seinem Betpult auf einem +Marmorkissen. Unterm Pult aber legt ein Hündchen die Pfote +über die Leiste und schaut zu seinem Herrn hinauf. Das hat +ihm einmal, als er auf Feldwacht war, des Feindes Ankunft +durch Bellen verraten, darum ist es hier zu Füßen seines +Herrn begraben. Hinter dem Grafen steht ein schöner Page und +hält den federngeschmückten Helm seines Herrn. An Sparrs +Türkensiege erinnern die Gestalten von Mars und Minerva, die +da oben von rechts und links her sein Wappen halten. Zu +ihren Füßen hocken je zwei mit Fesseln an Kanonenrohre +geschmiedete Sarazenen. Hier wie in Sankt Nikolai und in der +Klosterkirche sah sich der Adel und die Patrizierschaft von +den Grabmälern der Ahnen umgeben, und sie sind eine Welt für +sich: die aufrecht stehenden Grabsteine an den Wänden, die +abgetretenen Sandsteinplatten, auf denen die Wappen mit den +reichen Helmen dem Hinschauenden langsam deutlicher werden, +die Holztafeln mit Bildern der Stifter, umgeben von steinern +rankender Allegorie. Zu all diesem Grabgestein in der Kirche +und an ihren Außenmauern muß man nun noch die Gräber des +Volkes hinzudenken, die vor der Kirche auf Plätzen waren, +über welche Herden weideten und die auch zur Bleiche oder +als Seilerbahn dienten. Mehr und mehr sind diese Friedhöfe +von den Kirchen abgewandert. Nur ganz wenige sind noch bei +ihrem Gotteshaus wie der alte Parochialfriedhof. Schon unter +Friedrich Wilhelm I. fing man an, die Begräbnisplätze der +Gemeinden vor die Tore der Stadt zu verlegen. + +In der Marienkirche findet sich noch etwas, wovon ich +sprechen muß, und zwar in der Turmhalle. Da läuft ein über +zwanzig Meter langes Fresko die Kirchenwand hin, das man +erst vor einem halben Jahrhundert unter der Tünche +entdeckt hat, mit der es bilderfeindliche Zeiten verbargen. +Vor blauem Himmel und grünem Anger bewegen sich zwischen den +tanzführenden Toden geistliche und weltliche Gestalten. +Neben der Kanzel des braunbekutteten Franziskaners, zu +dessen Füßen teuflische Fratzenungeheuer den Tanz lauernd +und musizierend verfolgen, beginnt den Reigen der Küster im +Chorhemd, von einem Tode angefaßt, der seine Linke dem +nächsten Geistlichen reicht, den verbindet der grausige +Nachbar mit dem grauen Augustiner, den wieder einer mit dem +Kirchherrn in rotem Gewand, und so geht es weiter über den +Kartäuser, den Doktor — den zählte das Mittelalter auch zu +der Geistlichkeit und ließ ihn mit frommem Schauer die +Flüssigkeit in seinem Glase beschauen —, den zierlichen +Domherrn, den feisten Abt, den prunkenden Bischof, den roten +Hut des Kardinals bis zu des Papstes dreifacher Tiara. +Hinter dem Papste bildet die Wand eine Ecke, und da ist der +Tanz durch das Bildnis des Gekreuzigten unterbrochen, zu dem +die Mutter und der Lieblingsjünger betende Hände erheben. +Dann kommen die Weltlichen. Zunächst wird hier der Kaiser +mit Zepter und Krone und blau-golden gekleidet vom Tode zur +Kaiserin hingetanzt, die ihr Schleppgewand rafft. Sehr jung +in seinen hellen Tuchschuhen ist der König. Im Harnisch muß +der Ritter, in pelzverbrämter Schaube der Bürgermeister sich +zum Tanze bequemen und sich’s gefallen lassen, daß, nur eine +Todesbreite von ihm entfernt, der Wucherer, nicht minder +vornehm und verbrämt angetan, denselben Reigen tritt. Der +Junker in Joppe und prallem Beinkleid, der Handwerksmann im +Kittel und ein +armer stolpernder Bauer folgen. Den Abschluß aber macht im +Schellenkleid der Narr. Der immer selbe und immer +verschiedene Tod, der bald schreitend, schleifend, bald mit +erhobenem Fuße hüpfend die Menschenkinder zum Reigen +vereint, ist nicht eigentlich als Gerippe dargestellt wie +auf den meisten Totentänzen, sein magerer Leib ist nur +umrissen, nicht Skelett, auf den spitzigen Knochen seines +Gesichtes wechseln in reicher Variation die Grimassen +starren und belebteren Hohnes. Um die Schultern hängt ihm +als Mantel, der seinen Leib frei läßt, das weiße Grabtuch. +Und einmal in der Gestalt, die nach dem Heiligen Vater +greift, ist er ganz nackt. + +Es ist das älteste Stück Berliner Malerei, was wir hier im +Kirchendämmer wandentlang wandern sehen. Und in altem +Niederdeutsch stehen, zum Teil erloschen, bittere Reime +darunter, die von der Unabwendbarkeit des Reigens reden. Der +ist ja nicht so berühmt wie die Totentänze von Lübeck, +Straßburg, Basel usw., aber er hat ergreifende Realität und +berlinische Helle und Kühle. Die Menschen, für die dieses +Bild gemalt wurde, haben übrigens das große Sterben und +die Lebenslust mit einem wirklich getanzten Reigen gefeiert, +der Totentanz hieß. Der kam nach einem der großen Pestjahre +auf, in einer Zeit, in der, wie immer nach der furchtbaren +Seuche (und oft schon, während sie wütete, ihr zum Trotz), +die Freude am Dasein besonders stark war. Bei diesem Tanze +traten jung und alt unter Jubel und Gelächter zu einem +Reigen zusammen. Plötzlich hörte die muntere Musik mit einer +schrillen Dissonanz auf, eine leise düstere Melodie +hob langsam an und ging in einen Trauermarsch über, wie er +bei Begräbnissen gespielt wurde. Währenddessen legte sich +ein junger Mann auf den Boden und blieb dort regungslos +ausgestreckt wie ein Toter. Die Frauen und Mädchen tanzten +um ihn herum gaben ihrer Trauer in komischer, höhnischer +Weise Ausdruck und sangen lustig ein Trauerlied dazu, dem +allgemeines Lachen Echo machte. Dann traten sie eine nach +der andern an den Toten heran und suchten ihn durch Küsse +ins Leben zu rufen. Eine Ronde der ganzen Gesellschaft +beschloß den ersten Teil der grotesken Zeremonie. Beim +zweiten Teil tanzten Männer und Jünglinge um eine, die die +Tote spielte. Ging es dann ans Küssen, war des Jubels kein +Ende. + +Wir kreuzen die Spandauerstraße. Eh wir südlich wenden, ein +Blick auf die Heiligegeistkapelle. Sie ist erhalten +geblieben, indem man ein neues Haus, die Handelshochschule, +ihr anbaute und sie diesem Hause so einfügte, daß sich in +ihrem tief herabreichenden Ziegeldach mit den +Mansardenfenstern das Dach der Hochschule fortsetzt. Innen +ist sie jetzt Vortragssaal. Zu dem gotischen Sterngewölbe +steigen Belehrungen über Bilanz, Buchführung und Bankwesen +empor. Im Mittelalter lag sie am Armenhospital zum Heiligen +Geist. Viel Efeu rankt um die spitzbogigen Fenster. + +Wir kommen an der Hauptpost vorbei und zum Ratshaus, dem +‚Roten Hause‘ aus Ziegelstein und Terrakotta. Den hohen Turm +mit den schmalen Säulen an den durchbrochenen Eckvorsprüngen +haben wir auf unserer Fahrt schon ein paarmal über alle +Dächer ragen sehn und er wird uns noch ein ganzes +Stück nachschauen. Von dem alten Ratshause, an dessen Stelle +dies Gebäude in den sechziger Jahren des vorigen +Jahrhunderts errichtet worden ist, gibt es in dem Park des +Schlosses Babelsberg bei Potsdam noch einen Rest zu sehn, +die Gerichtslaube mit ihrem allegorischen Zierat, dem Affen +der Wollust, dem Adler des Raubes und Mordes, dem +Wildschwein der Verkommenheit und einem seltsamen Vogel mit +Menschengesicht und Eselsohren, dem blutsaugenden Vampir der +Habsucht und des Wuchers. + +Nun fahren wir die Königstraße bis zur Spree und erreichen +die ‚Lange Brücke,‘ die jetzt Kurfürstenbrücke heißt. Da +läßt unser Führer halten, um uns das berühmte Denkmal des +Großen Kurfürsten zu erklären. Während unten am Sockel die +Sklaven grollend sich ducken, einer die gefesselten Hände zu +dem stolzen Überwinder hebt, der Führer von Schlüters +Entwurf und von Johann Jacobis Erzguß berichtet, denke ich +an die Volkssage, nach welcher der da oben in seinem +Imperatorenmantel auf seinem ehern schreitenden Roß in der +Neujahrsnacht Schlag zwölf mit einem Geistersprung das hohe +Postament verläßt und durch seine gute Stadt reitet, zu +sehen, was aus ihr geworden ist. Vor ihm auf dem Sattel +sitzt dann das Kind von Fehrbellin, welches er selbst aus +dem brennenden Hause gerettet hat, in dem die Schweden alle +andern Lebendigen erschlagen hatten, und das sein +schützender Engel wurde. Schlag ein Uhr kehrt er auf seinen +Sockel zurück. Unter diesem Sockel aber ruht ein reicher +Schatz. Diesen Hort darf nur der Preußenfürst heben und der +auch nur, wenn er in großer Not ist. + +Der Führer zeigt uns von hier teils rekapitulierend, teils +ankündigend Ausblicke auf das Dammühlengebäude, das Rathaus +und die ältesten Teile des Schlosses, den grünen Hut und die +Schloßapotheke, erzählt uns dabei von der kleinen Zwingburg +des zweiten Zollernkurfürsten und dem Renaissanceschloß, das +Kaspar Theyss für Joachim II. erbaute. Das hören ein paar +Straßenjungen mit an. Denen kommen wir armen Fremden recht +lächerlich vor. Sie machen des Führers erklärende Gebärden +nach und rufen ‚Det da drüben is Wasser und die ins Auto +sind Zoologscher Jarten‘. + +Wir dulden still, bis der Wagen weiterfährt, um vor dem +Neptunsbrunnen und den herrlichen Säulen und Pilastern an +der Südfassade des schönen Schlüterbaues wieder zu halten. + +Etwas zu lange verweilt unser Führer bei dem Brunnen, an +dessen Rand es immerhin eine gut lagernde Nixe mit einem +Fischnetz im Schoße gibt, und dem ehemaligen königlichen +Marstall drüben, von dem nur zu sagen ist, daß er stattliche +Breiten- und Höhenmaße aufweist und jetzt eine städtische +Bibliothek mit vielen interessanten Büchern über Berlin +enthält. Ich bleibe während seiner Erläuterungen mit den +Augen auf Schlüters Pilastern, Fensterfassungen und den +Statuen über dem Gitter des Balkons. Auf diesem Balkon mußte +am 19. März 1848 König Friedrich Wilhelm IV. erscheinen, um +die Bürgerleichen zu sehen, die von der Breiten Straße nach +dem Schloß angefahren wurden. Die Volksmenge sang und schrie +und alles hatte den Kopf entblößt, nur der König hatte die +Mütze auf, da hieß es gebieterisch ‚Die Mütze herunter!‘ +und er nahm sie ab. Die Leichen wurden durchs Schloß nach +dem Dom gefahren. Auf dem innern Schloßhof machte der Zug +halt und dort mußte wiederum der König auf der Galerie +erscheinen, vieles anhören und das Haupt entblößen. + +Wir fahren um die Ecke und halten vor dem Eosanderportal. +Hier zwingt der Erklärer unsere Blicke, statt sie auf diesem +barock gesteigerten Severusbogen von Berlin zu lassen, +hinüber zu den Steinfalten, Allegorien, trophäenraffenden +Löwen und Umbauten des Begasschen Nationaldenkmals für +Kaiser Wilhelm I., dem da oben eine Balletteuse sein +Zirkuspferd gängelt, und er behauptet, das Portal und +darüber die Kuppel der Kapelle komme erst recht zur Geltung, +seit das Nationaldenkmal die alten Gebäude der +Schloßfreiheit verdrängt habe. + +Da kann man andrer Meinung sein und sich nach dem bescheiden +gedrängten Holz- und Mauerwerk zurücksehnen, wie man es auf +alten Stichen sieht. Es hat gewiß das Königsschloß +gesteigert wie in alten Städten Marktbude und angelehnte +Häuschenschar die Kathedrale, von der sie überschattet und +gehegt wurden in den Tagen, als echte Pracht gut inmitten +echter Armut wohnte. + +Unter dem Portal ist der Eingang in das Schloßmuseum. Im +Erdgeschoß und einem Teil des ersten Obergeschosses ist seit +einigen Jahren Kunstgewerbe untergebracht. Es ist ja noch +nicht lange her, da wohnten hier die Letzten von der +Familie, der man dies Schloß gebaut hat. Wir haben sie noch +herausfahren sehn aus den Portalen und auf dem Balkon +stehen, von dem aus sie zu dem Volk sprechen konnten. Nun +sind alle Räume des Riesenbaus Museum geworden. Außer den +richtig zu Museenzwecken eingerichteten Räumen kann man nun +auch die andern, die Königskammern und Repräsentationsräume +und sogar die historischen Wohnräume jederzeit besichtigen. +Meistens ist leider ein Führer dabei. Es wird einem nicht +leicht gemacht, Schlösser anzusehn. In manchen, wie dem +reizenden Gartenschlößchen Monbijou, welches das +Hohenzollernmuseum birgt, kann man ungestört herumgehn und +Krückstöcke, Uhren, Porzellan und Prunktabaksdosen des alten +Fritzen, die Zimmer seiner Mutter, das chinesische Kabinett, +die kuriosen Wachsbilder der Fürsten und Fürstinnen usw. in +aller Ruhe betrachten. Aber so gut hat man es sonst in +Berlin, Charlottenburg und Potsdam selten. Meist wird man +geführt, und was der Führer erzählt, steht besser, +prägnanter und wissender im Baedeker. Und was das Schlimmste +ist, das Tempo der Betrachtung hängt ganz von ihm und seiner +Herde ab. Wenn man nicht Gelegenheit zu einer Sonderführung +bekommt, bleibt einem also nichts übrig, als auf gut Glück +vor einem schönen Möbel oder Bilde zu verweilen, während der +Fremdenwärter sein Sprüchlein über den ganzen Saal aufsagt. +Manchmal empfiehlt sich’s auch, statt der Altertümer die +drollige Gegenwart des Kunst- und Fürstenportiers und seiner +filzpantoffelschlurfenden Herde, welche die Anwesenheit von +Sehenswürdigkeiten mit merkwürdigen Ausrufen und Aussprüchen +begutachtet, zu genießen. Während wir uns freuen, die Räume, +die im Berliner Schloß der letzte Kaiser bewohnt hat, in den +Zustand zurückversetzt zu finden, in dem seine Vorfahren sie +ihm hinterließen, meint der Kundige, der uns nun herumführt und der +die letzte Pracht noch gekannt hat, die Räume seien jetzt +etwas kalt, und beschreibt ausführlich, was hier vor zehn +Jahren an Perserteppichen gelegen, an Schlachtenbildern und +Porträts gehangen habe. Er zeigt uns sogar die Stelle, wo +die hochmodernen elektrischen Zigarrenanzünder von damals +waren. Wenn er in die Zimmer der Kaiserin kommt, muß der +Kunstfreund die ganze Zeit, die jener über ihre Gewohnheiten +und Lieblingsgegenstände spricht, nutzen, um mit einiger +Gründlichkeit die herrlichen Watteaus zu betrachten, die +sich als verwunderte Fremdlinge in den Zimmern dieser +watteau-fernsten aller denkbaren Damen befinden. Und wenn im +Charlottenburger Schloß der Wanderwart die gräßliche +Trompetenuhr aufzieht und blasen läßt, von der er behauptet, +sie habe Napoleon, als er hier übernachtete, aus dem Schlafe +geschreckt, halte man sich die Ohren zu und sehe so lange +die süße Seide um den Schlaf der hübschen munteren Königin +Luise an, ihre kleinen Öfchen oder ihr apartes Bild in +Totenhusarentracht. In solchen Räumen müßte man lange allein +oder unter seinesgleichen sich aufhalten dürfen, um mit den +Geistern derer zu verkehren, für die einst die Schlüter und +Schinkel und ihre Schüler und Helfer gearbeitet haben, und +die großen Zeiten des älteren Berlin, das preußische Barock +und Rokoko und den preußischen Klassizismus zu erleben. + +Einiges wird einem vielleicht auch auf den ersten Blick +zuteil, die strotzend blühende Pracht im Rittersaal, den +Schlüters Gruppen der vier Erdteile schmücken, die reinen +Formen und angenehmen Farben des Parolesaals mit Schadows +Marmorgruppe der jugendlichen Kronprinzessin Luise und ihrer +Schwester, das Gold und Grün des runden Kuppelkabinetts, das +Friedrichs des Großen Schreibzimmer war. Und nach +Herzenslust verweilen kann man in dem innern Schloßhof vor +Schlüters Bogenhallen. Die Höfe nämlich versperrt uns kein +König mehr und kein Führer zwingt hier zur Eile. + +Wir halten an der Lustgartenseite des Schlosses vor den +beiden Rossebändigern, die der russische Kaiser dem +Preußenkönige in den vierziger Jahren geschenkt hat. Der +Berliner Volkswitz nannte sie den gehemmten Fortschritt und +den beförderten Rückschritt. + +Aus dieser Zeit stammen auch die einzelstehenden Säulen aus +geschliffenem Granit an den Ecken der Terrasse, auf denen +goldne Adler horsten. Varnhagen, der als kritischer +Zeitgenosse beobachtete, fand diese Verzierung zu elegant +für das mächtige, schwerfällige, düstre Gebäude und diese +Sucht, zu schmücken, sehr geschmacklos. »Die Leute«, +schreibt er, »stehen davor und machen ihre Bemerkungen +darüber, sie finden die Sache unnötig, man vergleicht sie +mit den Achselklappen der königlichen Lakaien, die waren dem +König auch zu einfach, es mußte eine Krone hinein.« Den +einen goldnen Adler an der Ecke nannten die bösmäuligen +Berliner den ‚größten Eckensteher‘ — anspielend auf die +vielbewitzelten, etwas faulen und versoffenen Vorläufer des +Berliner Dienstmanns. Und sie meinten: Nun weiß man doch, +wie das Hotel heißt, das Schild sagt’s: ‚Zum goldenen +Adler.‘ Zu dieser Zeit kurz nach den Revolutionstagen 1848 +waren immer noch viel Aufläufe von Arbeitergruppen und +Studenten und Lehrburschen +unter den Linden und vorm Schloß, da ließ ein +Hofmarschall Eisengitter an die Schloßportale befestigen. +Die Bürgerwehr konnte nicht verhindern, daß ein großes +Gitter von den Arbeitern ausgerissen und an der +Kurfürstenbrücke in die Spree geworfen wurde, ein andres, +kleineres schleppten die Studenten auf die Universität. +Später ließ man alles ruhig geschehen und sah die Gitter als +Denkmal des 18. März an, das Schloß, sagte man, sei dadurch +zum Käfig geworden, der König bemitleidenswert, und es sei +ein Schildbürgerstreich von ihm, Gitter nach der Gefahr zu +machen. Die Adler gibt es noch, die Gitter sind gefallen. +Das Schloß ist von der Lustgartenseite gesehen schöner, +ehrwürdiger und historischer denn je. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Der große weite Platz dem Schloß gegenüber, der Lustgarten, +geht bis an die Stufen des Alten Museums und die führen in +ein wunderbares Eiland mitten in der Stadt. Es ist nicht nur +topographisch richtig, daß dieser von schützenden Wassern +umflossene Stadtteil die Museumsinsel genannt wird. Die +Welt, die hier mit Schinkels jonischer Säulenhalle beginnt, +ist des jungen Berliners Akademoshain — oder war es +wenigstens für meine Generation — und was er auch später im +Louvre und Vatikan, in den Museen von Florenz, Neapel, Athen +wird zu sehen bekommen, er kann darüber die Säle des Alten +und Neuen Museums und unserer großen Bildergalerien nicht +vergessen, ja selbst die Wandelgänge hinter den Säulen hier +nach dem Platz zu und innen am Neuen +Museum entlang und rings um die Nationalgalerie sind ihm +dauernder Besitz und Stätte unvergeßlicher Stunden. + +Doch wir wollen in der Stadt und auf der Straße bleiben. Für +einen kurzen Besuch der Museen unterrichtet der Baedeker +ausgezeichnet, seine einfachen und Doppelsternchen +orientieren über das, was eine Art *consensus gentium* +letzthin für besonders schön und wertvoll hält, und das +hindert niemanden, seine eignen Entdeckungen zu machen. + +Aus der Vorhalle des Alten Museums gelangt man unter die +Kuppelwölbung der Rotunde, die mit meist römischen +Nachbildungen griechischer Statuen ins Eigentliche einlädt. +Es ist schön, in dem Kreis dieser Marmorwesen zu sein, ohne +sie genauer anzusehen, und seine Kräfte zu sammeln für all +das Wunderbare, was uns im archaischen Saal und in den Sälen +des 5. und 4. Jahrhunderts, der Spätzeit und bei den Römern +erwartet. Im Oberstock versammelt das Antiquarium die +Kleinkunst in Bronze, Gold und Silber, Schmucksachen und die +grotesken und reizenden Terrakotten der Meister von Tanagra +und ihrer Schüler. In Stülers Neuem Museum wirst du, wenn +ich dir raten darf, Fremder, dich nicht allzu lange in dem +großen Treppenhaus mit den riesigen Fresken von Kaulbach +aufhalten, die sich bekanntlich mit den Hauptmomenten der +Weltgeschichte befassen und als Anschauungsunterricht für +Volksschulen vielleicht nicht allzuviel Schaden anrichten. +Du wirst in der ägyptischen Abteilung gewaltige Statuen und +Sarkophage und die holden kleinen Köpfe der Königinnen Teje +und Nefretete finden, und bei schwarz- und rotfigurigen +Vasen in den Dämmerzustand versinken, in dem man nicht weiß: fließt draußen die +Seine oder der Tiber? Werden wir auf dem Posilipp oder im +Savoy frühstücken? Gibts bestimmt eine Gegenwart? Fürs +Kupferstichkabinett laß dir etwas Zeit, sieh nicht nur an, +was an den Wänden hängt oder in den Glaskästen ausliegt. Man +gibt dir gern eine der vielen schönen Mappen, einen guten +Platz, und du kannst dich ein Stündchen gebärden wie ein +Kunstgelehrter. Es lohnt. Bis diese Zeilen in deine Hand +kommen, ist vielleicht auch schon der Museumsneubau endlich +vollendet, den Alfred Messel begonnen hat. Dann wirst du den +herrlichen Altar von Pergamon aufgebaut sehn mit seinen +Göttern und Giganten. Was die Nationalgalerie anbetrifft, so +muß ich als dein Führer durch Berlin dich besonders auf die +Bilder hinweisen, in denen Berlinisches verewigt ist. +Menzels wunderbares Balkonzimmer und sein Schlafzimmer, das +höfische Ballsouper, den Palaisgarten des Prinzen Albrecht, +die alte Berlin-Potsdamer Bahn, ferner die Maler des alten +Stadtbildes und Volkslebens, vor allen Theodor Hosemann, und +Franz Krügers Porträts und seine großen Paradebilder. +Berliner Romantik wirst du in den Landschaftsbildern des +großen Schinkel, der ja eigentlich kein Maler, sondern ein +Baumeister war, finden. Er hat sie für eines der alten +Patrizierhäuser in der Brüderstraße gemalt und wenn du Muße +dafür hast, so lies, was Hans Mackowsky in seinen ‚Häusern +und Menschen im alten Berlin‘ darüber schreibt, und lies +weiter, was er von diesem Haus und andern berichtet, das +wird dir eine vergangene Stadt mitten in der gegenwärtigen +aufbauen. Über das Kaiser Friedrich-Museum, das nach dem Manne, der es zu einer +Weltberühmtheit gemacht hat, besser Wilhelm von Bode-Museum +hieße — statt sich auf den recht kunstfreundlichen Herrn zu +beziehen, dessen garstiges Reiterdenkmal leider vor der Tür +dieser Schatzkammer steht — über diese Welt von Bildern und +Bildwerken habe ich hier nichts aufzuschreiben, denn wenn +sie auch höchster Ruhm von Berlin ist, so hat sie doch mit +unserer guten Stadt selbst nichts zu tun. Man ist hier von +ihr noch weiter fort als in den Sälen der griechischen +Bildwerke, nach denen doch in den Versuchen des preußischen +Klassizismus eine Sehnsucht — nüchtern abgeblaßt, verhalten, +prunkfeindlich und redlich bemüht — hindrängt. + +Aber zurück aus dieser schönen Ferne zum Lustgarten und +unseren Rundfahrtwagen. Die weite Fläche dieses Platzes hat +auch schon etwas inselhaft Ruhevolles. Von der langen +Schloßfront mit den breiten Portalen ist — hoffentlich auf +recht lange Zeit — keinerlei Gegenwart vorauszusehen. Die +einzige Unruhe an dieser gelassenen Stätte ist der Dom mit +seinen vielen Hochrenaissanceeinzelheiten, Nischen, Hallen, +Kuppelaufsätzen. Er macht sich da breit, wo noch bis in die +neunziger Jahre ein kleinerer aus Friedrichs Tagen stand. Er +bedeckt eine Fläche von 6270 qm, während der Kölner Dom es +nur bis zu 6160 qm gebracht hat. Es ist höchst überflüssig, +hineinzugehen, denn auch innen verletzt dieses Riesengefüge +aus eitel Quantität, Material und schlecht angewandter +Gelehrsamkeit jedes religiöse und menschliche Gefühl. Die +Akustik soll übrigens ausgezeichnet sein, und +um sie zu verstärken, hängen eigens noch Bindfäden von der +Innenkuppel des Mittelbaues. Mit Recht verkündet ein +marmorner Engel ‚Er ist nicht hier, Er ist auferstanden‘. +Wahrhaftig, hier ist Er sicher nicht. Schade um ein paar +schöne Sarkophage, mit denen die Namen Peter Vischers und +Schlüters verbunden sind. Vielleicht kommt noch einmal eine +Zeit, in der man dieses Gebäude und manches andre so kurz +entschlossen abreißt, wie man es jetzt mit häßlich +gewordenen störenden Privathäusern tut. Dann wird diese +Stätte ganz der Vergangenheit und Ruhe gewidmet sein. + +Belebt wird sie auch jetzt immer wieder nur, wenn +Volksversammlungen sich ihrer bemächtigen, und dafür ist sie +sehr geeignet, seit der Lustgarten nichts als ein großer +Sandplatz ist. Sein Name erinnert noch an eine ganz andre +Zeit, die der Parkkunst, der Grotten und Grottierer. In des +Großen Kurfürsten und seines Sohnes Tagen waren hier ein +Kolossalneptun mit Grotten und Wasserstürzen zu sehen, +Vexierspringbrunnen und die Riesenmuscheln an Meinhards +Lusthaus. Da hatten die ‚Grottenmeister, Sprützenmacher und +Stukkateure‘ reichlich Arbeit wie später wieder unterm +Großen Friedrich, dem sie in Sanssouci eine Neptunsgrotte, +im Neuen Palais einen Muschelsaal bauten. Auf der Remusinsel +zu Rheinsberg schufen sie das chinesische Haus. Und später +hat dann noch der Erbauer des schlichten Landschlößchens zu +Paretz in einem Parkwinkel als eine Art Relikt aus der +Rokokozeit ein muschelbuntes japanisches Tempelchen +errichtet. Die letzten Nachklänge dieser Grottenkunst aber +sind mitten in der Großstadt die schaurigen +Tropfsteingebilde an den +Aufgängen zu veralteten Nachtlokalen und an den Bühnenrahmen +verstaubter Tingeltangel. Den nüchtern verständigen +Friedrich Wilhelm I. verdrossen die Blumenparterres und +Lusthäuser dieses Paradieses seiner Vorfahren. +‚Alfanzereien‘ nannte er das und machte aus dem +Pomeranzenhaus eine Tapetenfabrik mit einer Art Börse im +oberen Stockwerk und aus den Blumenparterres einen +Exerzierplatz für seine Grenadiere. Seit hier nun nicht mehr +exerziert wird, kann das freie Volk seine Versammlungen +abhalten. Da kann man mit Fahnen und Fähnchen zum Beispiel +die Kommunisten demonstrieren und lagern sehen. Rote +Pfingsten: Sie sind weither gekommen aus allen Teilen +Deutschlands, Textilproleten aus dem Erzgebirge, Kumpel aus +den Zechen in Hamm und in der Kanonenstadt Essen, die eine +Hochburg der Rotfront geworden ist, dazu rote Marine von der +Waterkant. Aber auch das fernere Europa und die weite Welt +senden ihre Vertreter; die Schutzwehr der Schweizer +Arbeiterschaft, die tschechische Arbeiterwehr rückt an mit +Fahnen und Plakaten, und ehrfürchtig wird die +Sowjetstandarte begrüßt. In langen Zügen sind sie +hermarschiert von den Enden der Stadt, seltsame +Musikinstrumente wandern ihnen voran, Trompeten mit mehreren +Schlünden, Jazztuben, Negertrommeln. Diese Kämpfer sind +uniformiert, wie auch die es waren, die sie kämpfend ablösen +wollen. Kriegerisch gegürtet sind die grauen Blusen und +braunen Kittel. Und wie einst von den Tressen der +Chargierten wird jetzt das Wanderbild des Zuges skandiert +von den roten Armbinden der festleitenden Flügelmänner. +Sogar die Kinder haben ihre Uniform. +In weißen Hemdblusen mit rot flatternden Krawatten +haben sie ihr Lastauto erklommen, dessen Aufschrift die +Abschaffung der entwürdigenden Prügel verlangt. So einen Zug +hab ich begleitet von der Bülowpromenade im Südwesten her, +die Yorkstraße hin unter den Bahnübergängen, deren +Eisenbrücken das ‚Rot Front!‘ und das ‚Seid bereit!‘ mächtig +widerhallten. Von den bürgerlichen Klebebalkons der langen +Avenuen schauten etwas verdrossen alte Männer und Frauen auf +das muntre Volk, das waren vielleicht pensionierte Beamte, +die sich noch nicht ‚umgestellt‘ haben. Aus den +Seitenstraßen aber wehten rote Fahnen von den Häusern, und +ein paar Jungen auf Rädern, deren Reifen rot umwickelt +waren, schlossen sich an. So ging es weiter das Planufer hin +und über die Kanalbrücke in die Altstadt. In der Alten +Jakobstraße stand auf einem Altan, das Haar im Wind, ein +graues Weib wie eine Parze des Weltgeschicks oder Furie der +neuen Begeisterung. Jüngere lagen sonntäglich träge mit +nackten Armen auf ihren Fensterkissen und freuten sich an +dieser Musik und Menge wie ehedem am Aufmarsch der +Soldatenkompagnien. Die Geschäftshäuser der Markgrafenstraße +waren ganz menschenleer. Nur auf einem hohen Dach bewegte +sich ein Wesen und winkte mit einem winzigen Fähnchen. In +der Oberwallstraße wehte dem Zug eine tiefe Stille entgegen +von dem Torbogen, der die verträumte Auffahrt und die alten +Balkone und Mansardenfenster des Prinzessinnenpalais +abschließend schützt vor aller Gegenwart. Durch dies Tor +drang der Zug, um auf dem Platz vor dem Zeughaus mit den +Zügen aus andern Vorstädten zusammenzutreffen. +Eine unabsehbare Menge erfüllte in Einzelgruppen und Zügen +von der Schloßbrücke bis zur Kaiser Wilhelmsbrücke den +ganzen Lustgarten und die Schloßfreiheit. Die Schloßfront +entlang liefen an den Gittern rote Plakatbänder, hinter +denen sowohl die Bronzestandbilder der niederländischen +Fürsten und des Admirals Coligny wie auch die der beiden +liberalen Rossebändiger fast verschwanden, abgetan von den +flammenden Buchstabenbändern. Auf der obersten Stufe der +Domtreppe stand ein Redner, dessen verkündigende Schlußworte +die Menge unten wiederholte wie die Gläubigen in der Litanei +des Priesters Worte. Rings auf dem Anstieg zum Denkmal +Friedrich Wilhelms des Gerechten, der seinen Luftritt +beklommen fortsetzte, und um die Granitschale herum und auf +der Museumstreppe unter der Amazone, die den Tiger abwehrt, +und unter dem Löwenkämpfer lagerten die Massen und sahen +hinunter auf die vielen hin und her wandernden Züge mit +ihren Fahnen, Plakaten und Karikaturpuppen, die den Genfer +Völkerbund verhöhnten, und hinüber zu der +Meetingsbevölkerung des Kaiser Wilhelms- und +Nationaldenkmals an der Schloßfreiheit. + +Den Dom, von dem ich wegschaue, so gut es geht, erspart uns +der Rundfahrtführer nicht, er läßt eine schrecklich lange +halbe Minute vor ihm halten und nennt ihn ‚sehr hübsch, +besonders innen‘. Aber mir zum Trost ist hier dicht vor uns +an der Bordschwelle ein holdes kleines Gefährt gelandet. Auf +roten Kinderwagenrädern bauen sich zwei Etagen auf mit +Glasscheiben, darinnen stehen blinkende Nickelmaschinen mit +Tellerchen und Löffelchen. Ein Eisverkauf: eine niedliche +Zwergenwirtschaft, durchschimmernd wie Schneewittchens +Sarg. + +Ein Blick übers Wasser auf die Börse in der Burgstraße. Von +ihren ‚Renaissanceformen‘ gilt, was schon über die +Reichsbank gesagt wurde. Sie ist der erste Bau aus echtem +Sandstein im neueren Berlin. Für uns ist das Innere des +Gebäudes erheblich interessanter als seine Architektur und +Skulptur. Mir ist einmal gestattet worden, von der Galerie +auf die drei großen Säle hinunterzusehn, in denen sich die +Berliner Kaufmannschaft zur Mittagszeit versammelt. Ich sah +die vereidigten Makler hinter ihren Schranken, die wilde +Menge, welche sich um ihre beweglicheren Kollegen schart, +die Gebärden des Kaufs und Verkaufs, erhobene Hände, die +‚Brief‘ winkten, gespitzte Finger, die ‚Geld‘ bedeuteten, +sah die Nischen der Großbanken, die Tische der kleineren, +viel Lebhaftes im Saal der Industriepapiere, Gelinderes im +Saal der Banken und in dem des Getreides die Tüten und +blauen Kästchen mit Roggen- und Weizenproben in den Händen +der Händler. Man könnte stundenlang niedersehen auf dies +Meer von Glatzen, unruhigen Schultern, winkenden Händen, auf +die Schicksalszahlen, welche auf den Tafeln sinkend und +fallend wechseln, auf die gelben und blauen Lichter, die, +besondre Winke bedeutend, in den Ecken aufflammen. Vor dem +Ausgang zur Burgstraße warten allerlei Händler und Bettler; +und aus der Art, wie ihre Gegenwart von den heraustretenden +Handelsherren berücksichtigt wird, könnte man Schlüsse auf +die guten oder schlechten Geschäfte machen, von denen sie +kommen. + +Wir fahren über die Schloßbrücke, deren schöner Schwung und +gußeiserne Brüstung auf Schinkel zurückgeht. Die berühmten +acht Marmorgruppen: Kriegs-und Siegesgöttinnen, junge +Krieger lehrend, erwachsene geleitend, habe ich leider nie +mit ernsten Blicken ansehen können, da in meiner +Schuljungenzeit so unvergeßliche, nicht zu wiederholende +Witze über ihre besondre Art von Nacktheit gemacht wurden. +Nun lese ich in Varnhagens Tagebüchern, der Kultusminister +Raumer habe an den König Friedrich Wilhelm IV. den Antrag +gestellt, die nackten Bildsäulen von der Schloßbrücke wieder +abnehmen zu lassen und sie im Zeughaus zu verwahren. +Erfreulicher ist, daß um dieselbe Zeit Bettina von Arnim zu +Varnhagen sagte, auch sie verdamme die Schloßbrückengruppen, +aber nicht aus Nacktheitsgründen. Er selbst notiert, daß sie +wohl schön gearbeitet seien. ‚Aber das Antike ist nicht +antik genug, ist wider Willen modern, ohne zu den andern +Bildsäulen, denen der Generale, zu passen. Sie stehen auch +zu hoch.‘ Brummig fügte er hinzu: ‚Ein Unstern waltet über +unserm Kunstwesen, nie etwas Rechtes, Ganzes, +Übereinstimmendes.‘ Nun, wir wollen das nicht weiter +erörtern, sondern lieber einen raschen Blick werfen auf eine +Berliner Sehenswürdigkeit, die kein Reisebuch verzeichnet. + +Ich meine da rechts unten im Wasser, dessen Ufer am Zeughaus +entlang geht, den angeketteten Spreekahn. Den habe ich vor +kurzem zum erstenmal besichtigt. Ich kam zufällig vorüber +und sah auf dem Brettersteg, der zu dem Kahn hinüberführt, +ein paar Straßenjungen stehen, die +wollten sich gerne den großen Walfisch ansehn, der seit +vielen Jahren in dem Kahn hausen soll. Ich war, als ich im +Alter dieser Jungen stand, auch immer sehr neugierig +gewesen, ob da ein wirklicher Walfisch liege, und nie hatte +man diese Neugier befriedigt. So ist es wohl zu begreifen, +daß ich mit den kleinen Burschen an die Kasse gegangen bin. +Es war sehr billig, ein Programm bekam ich gratis dazu und +das ist ganz besonders schön und jedem Besucher, ja auch +Liebhabern älterer Druckschriften zu empfehlen. Sein +Titelblatt lautet: ‚Das größte Säugetier der Welt und sein +Fang. 22m 56cm lang, vollständig geruchlos präpariert. +Herausgegeben von der Direktion der Walfischausstellung.‘ +Ist das nicht ein schöner Anfang? Und dann lernen wir, daß +dieser Koloß wie wir rotes warmes Blut hat und lebendige +Junge zur Welt bringt, ‚welche von der Mutter gesäugt und +mit Aufopferung eigner Lebensgefahr verteidigt werden.‘ Da +liegt er, präpariert nach einer damals ganz neuen Methode, +und sieht aus, als wäre er aus Papiermache, riecht gar nicht +nach Tran, nur nach Kahn. Man möchte sich durch Anfassen +überzeugen, ob das da auch wirklich keine Pappe ist. Aber es +steht angeschrieben: Nicht berühren! Giftig! Eine Zeitlang +schauen wir ihm in den Schlund und auf die berühmten Barten, +aus denen, wie wir lernen, das Fischbein gewonnen wird. Dann +wenden wir uns der Sonderausstellung zu, wo des Riesen +Bestandteile ausgeweideterweise im Einzelnen uns breiteren +Volksschichten zum Studium zugänglich gemacht sind. Da ist +zum Beispiel der sogenannte Heringssack, worin das Tier zwei +bis drei Tonnen Heringe aufnehmen kann. ‚Denn — so lehrt +das Programm — die +Nahrung spielt bei solch einem Riesentier die Hauptrolle.‘ +Wir bekommen im Extrakasten die Schwanzflosse zu sehn, von +der — immer laut Programm — die Erfindung der Dampfschraube +angeregt worden sein soll. Und außer den Knorpelschichten, +Rückenfinnen, Ohren und Augen des Wals gibt es noch andre +Tiefseetiere seiner Umgebung zu sehen, und darunter finden +sich einige Namen, die nach Christian Morgensterns Verskunst +verlangen, wie zum Beispiel die Kammeidechse und der +Seestier oder Kofferfisch. + +Daß ich mich so ausführlich über diese bemerkenswerte +Walfischausstellung auslasse, hat seinen Grund: ich getraue +mich nicht recht, über das benachbarte Zeughaus etwas zu +sagen. Es ist zu vollkommen, um gepriesen zu werden. +Preußisch ist es und barock, berlinisch und dabei +phantastisch, übersichtlich gegliederte Maße und schön +verschwendeter Schmuck, breite Phalanx des Sieges und +schlanke Trophäe. Herrlich sind Schlüters Panoplien auf der +Balustrade und Schlußsteine der Fensterbögen. Da hat er auf +den vier Außenseiten Helme angebracht, die lebendige Antike +sind, und innen im Lichthof die Köpfe sterbender Krieger, +deren grausige Todesgrimasse schürzender Steinknoten der +Fensterwölbungen, Agraffe des Gewandes, Zierat ist. + +Für den Waffen- und Kriegskundigen finden sich innen unter +Gewölbejochen in düstern Hallen die ältesten Kanonen, +morgenländische Säbel, Prunkharnische für Mann und Roß, +Standarten, Uniformen der Feldherren und Könige, Zietens +Zobelmütze und Pantherfell und der letzte Soldatenrock des +Großen Königs. + +Das ehemalige Kronprinzenpalais dem Zeughaus gegenüber ist +von außen kein sehr erfreulicher Anblick. Hohe Säulen tragen +einen breiten Balkon, hinter welchem das aufgesetzte +Stockwerk niedrig erscheint. Besonders wenn man von einem so +wohlproportionierten Gebilde, wie es das Zeughaus ist, +herüberschaut. Und es hilft nichts zu wissen, daß dies +Palais früher einmal besser beschaffen war und seine jetzige +Gestalt erst in den fünfziger Jahren bekam, als es für den +damaligen Kronprinzen, spätern Kaiser Friedrich III. +umgebaut wurde. Im Innern aber erfüllt es, seit es keine +Fürsten mehr beherbergt, eine würdige Aufgabe. Die moderne +Abteilung der Nationalgalerie ist hier untergebracht. Um +auch hier als Fremdenführer nur auf das speziell Berlinische +hinzuweisen, man findet manches wertvolle Stück +Stadtlandschaft, berlinische Geschichte und märkische +Landschaft in den unzähligen Blättern der Menzelmappen, in +einigen Bildern Liebermanns, Lesser Urys und jüngerer +Künstler, auch manches Porträt bedeutender Berliner +Persönlichkeiten innerhalb der reichen Sammlung +impressionistischer und zeitgenössischer Malerei. Eine +Flanke des Palais stößt an den Schinkelplatz, an dessen +Südseite im oberen Stockwerk eines schöneren Gebäudes +wiederum ein Teil Nationalgalerie beherbergt ist, die große +Bildnissammlung, die an Malern und Gemalten ein gut Teil +Berliner Kunst- und Kulturgeschichte veranschaulicht. Das +Haus, das diese Schätze birgt, ist die Bauakademie, die +Schinkel in rotem Backstein mit schön eingefügter +Terrakotta erbaut und in den letzten Jahren seines +Lebens bewohnt hat. Der Platz vor der Akademie trägt den +Namen des Meisters und außer seinem Standbild noch zwei +andre erzene, einen ‚Begründer des wissenschaftlichen +Landbaus‘ und einen um die industrielle Entwicklung +verdienten Mann, Männer, deren Namen wir Halbgebildeten +meist nur als Straßennamen kennen, weshalb ich sie erst gar +nicht nennen will. Aber die Reliefs auf ihren Sockeln muß +man ansehn. Da sind kuriose Musterbeispiele der echt +berlinischen Mischung aus Klassizismus und Realismus, +antikisierte Maschinen und Herren im togaähnlichen +Bratenrock. + +Daß diese Mischung bei Uniformen besser glückte als bei +Zivil, beweisen Rauchs erzene Feldherren, zu denen wir nun, +am Prinzessinnenpalais vorbei, den Lindentunnel überquerend, +gelangen. Wie der alte Blücher in Wirklichkeit war, ist aus +dem Allerlei von Berichten, Bildern, Urteilen schwer zu +entnehmen, aber für uns ist sein Wesen dauernd verwirklicht +in dieser Erzgestalt im Soldatenmantel, in der Faust den +gezogenen Säbel, den Fuß auf das Kanonenrohr gestellt. Die +nachdenklicheren und, wie die Kriegswissenschaft lehrt, +bedeutenderen Strategen, Gneisenau und York, zu seiner +Rechten und Linken umgeben neidlos sein munteres Kriegertum. +Bülow und Scharnhorst, die den drei Erzenen gegenüber bei +der Neuen Wache stehen, sind marmorn. Warum, das habe ich +mich schon als Kind gefragt und gemeint, es bedeute einen +andern Grad des Heldentums, eine höhere Milde. Aber es wird +wohl, zumal die zwei früher aufgestellt worden sind als die +drei, sinnfälligere und vernünftigere Gründe haben. +Die Neue Wache, die nun außer ihnen beiden niemand mehr +bewacht, Schinkels schönes ‚römisches Castrum‘ mit den +mächtigen dorischen Säulen, jetzt innen leer — nur die +klassischen Gewehrständer sind geblieben — ist ganz Denkmal +und Altertum geworden. Es ist besser so, aber manche +Berliner denken mit einer gewissen Wehmut zurück an die +Stunden, als noch die Wache aufzog. + +Unterhaltend zu lesen ist, was der Franzose Jules Laforgue +aufgezeichnet hat, der als Vorleser der Kaiserin Augusta in +dem gegenüberliegenden Prinzessinnenpalais seine +Dienstwohnung und somit oft Gelegenheit hatte, diesen +Vorgang zu beobachten. Er freute sich über die wartenden +Straßenjungen am Gitter und die Spatzen oben am Relief des +Giebels. Er beschreibt, wie sich vom Brandenburger Tor her +die Truppe nähert. »Die Pfeifen spielen die herb monotonen +Melodien, welche die Berliner Straßenjungen *en flânant* +pfeifen. Kurz vor dem Palais (nämlich dem des alten Kaisers +jenseits des Opernplatzes) gibt der Tamburmajor ein Zeichen, +die Pfeifen schweigen und die Musik beginnt. Merkwürdig ist +die Standarte, die der Musik vorangeht. Man stelle sich +einen silbernen Stern vor, über dem mit ausgebreiteten +Flügeln ein Adler schwebt, über dem Adler regen sich die +Glöckchen eines *chapeau chinois*, der seinerseits einen +Halbmond trägt, von dessen Spitzen zwei Roßschweife, ein +roter und ein weißer, hängen. In der Höhe des Palais machen +die Soldaten Stechschritt, wobei sie wütend mit den Sohlen +aufprallen, und fixieren alle mit gestrecktem Hals des +Kaisers Eckfenster. *L’heure culminante, l’heure militaire +...*« Ausführlich beschreibt er +auch, wie es zuging, wenn die Wache +herausgerufen wurde. Erst den Ruhezustand. »Vorn sind +zwischen Gitter und Portikus in zwei Reihen die vierzig +Piquets, jede mit einer Gewehrstütze, aufgestellt. Diese +Piquets bezeichnen den Platz eines jeden der Soldaten und +erleichtern die genaue Reih- und Gliedstellung. Bemalt sind +sie in Preußens Farben wie die Schilderhäuser. Am letzten +hängt die Trommel, die kleine flache preußische Trommel, die +so trocken klingt. Eine Schildwache, die nicht auf und ab +geht, sondern stillsteht, gibt nach rechts und links acht. +Sobald ein Hofwagen erscheint, schon von weitem erkennbar an +Achselband und Hutbord des Kutschers, und der Kutscher +deutet durch die Haltung seiner Peitsche an, daß der Wagen +nicht leer ist, wendet sich die Schildwache zum Portikus, +legt die Hand an den Mund und brüllt ‚Raus!‘ (Abkürzung von +Heraus). Gleich steht alles in Reih und Glied. Der Trommler +hat seine Trommel umgehängt, der Offizier hält sich bereit, +mit dem Degen zu grüßen. Der Wagen fährt vorbei. Die Wache +präsentiert, der Tambour schlägt seinen Wirbel. Und wer saß +im Wagen? Zwei Gouvernanten mit Prinzenbabys auf dem Schoß. +Trommel gerührt wird nur für die kaiserliche Familie. Für +einen General kommt die Wache nur halb heraus.« + +Laforgue beschreibt vortrefflich das militärische Aussehen +und Wesen, das dieser Platz und die Straße Unter den Linden +und ganz Berlin in den achtziger Jahren hatten. Einmal +bleibt er in einem *moment de torpeur involontaire* wie im +Traume Ecke Linden und Friedrichstraße stehen. Da hört er +nur das beherrschende Geräusch der Straße: das eines +nachschleppenden Säbels. Diese Zeiten, da sich unter den Linden +die komischen kleinen Kadetten steif grüßten, da der +militärische Gruß in allen Ständen gang und gäbe war, sind — +bis auf einige Reste — ja nun vorüber. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Solange wir an der Neuen Wache halten, wirf auch einen Blick +auf das kleine Kunsttempelchen da hinten, halb von Laub +verdeckt. Das ist die Singakademie, Zelters, des +Goethefreundes Werkstatt, nachdem der Maurermeister ein +Musikmeister geworden war. Die kleine Büste im Grünen vor +dem Gebäude, das ist Zelters Lehrer und der Begründer des +Vereins, aus dem die Singakademie hervorgegangen ist, lange +bevor sie hier dieses mitten in der Stadt schön abseits +liegende Haus bezog. Das Leben dieses Mannes, er hieß David +Christian Fasch, hat Zelter selbst in seinem handfesten und +dabei klassischen Deutsch beschrieben. Und aus seinem +Büchlein erfahren wir, wie der Hofmusikant in der +Privatkapelle Friedrichs des Großen und seines Nachfolgers +eine junge vortreffliche Demoiselle Dieterich unterrichtete +und accompagnierte. In dem Hause dieser edlen +Musikliebhaberin fanden sich öfters noch zwei oder drei +Musiklustige ein; daraus entstand sehr bald ein kleines +Vokalkonzert, für das Fasch fünf- und sechsstimmige Stücke +komponierte. Diese Gesellschaft, die sich erst nur ‚wie von +ongefähr‘ zusammengefunden, bestimmte nun gewisse Tage zu +ordentlichen Singübungen und wuchs durch Zutritt neuer +Mitglieder, bis dann eine andre würdige Freundin des Schönen +ihren größeren Saal hergab. Schließlich +bekam die Gesellschaft von den Kuratorien der Kgl. Akademie +einen der Säle des Akademiegebäudes. ‚Im Jahre 1796 ward es +durch das ordnungsgemäße und eifrige Bestreben der Rendantur +so weit gebracht, daß |ellipsis| die Frauenzimmer der Gesellschaft +bei einem mäßigen Zuschuß zur Kasse in Wagen abgeholet und +wieder zu Hause gefahren werden konnten.‘ Und bald hatte die +Singakademie zu Mitgliedern und Zuhörern ‚die Blüte des +schönen Berlin, die Jugend und das Alter, Adel und +Mittelstand‘. An diesen Verein und seine Kunststätte hier +hinter den Büschen knüpft sich ein gut Teil Berliner +Musikgeschichte zu den Zeiten Zelters und Mendelssohns, und +mehr als das, ein Stück Leben der besten Berliner +Gesellschaft, die es bisher gegeben hat, jener meist +ziemlich eingeschränkt lebenden bürgerlichen Menschen der +ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, in deren Stammbücher +die besten Maler Landschaften tuschten, die besten Dichter +mit der anmutig fließenden Schrift von damals Gedichte +schrieben. In allen Künsten Liebhaber zu sein, in der guten +alten Bedeutung des Wortes zu dilettieren, war eine +gesellige, zwanglose und eifrige Gewohnheit, die bisweilen +ans Rührend-Komische streifen mochte, aber doch an der +erfreulichen Einheit des Empfindens, Gebahrens und somit +auch des Stadtbildes mitschuf. + +In dieser Zeit wurde aus dem nächstfolgenden Gebäude, dem +ehemaligen Palais des Prinzen Heinrich, des Bruders +Friedrichs des Großen, die Universität. Und die beiden +Männer, die davor recht bequem auf ihren marmornen +Lehnsesseln sitzen, die Brüder Humboldt, haben bald aus +unmittelbarer +Nähe, bald aus römischer und überseeischer Ferne die +geistigen und wissenschaftlichen Bedürfnisse der Berliner +Gesellschaft gesteigert. + +Das Gebäude ist der nördliche Abschluß des jetzt Kaiser +Franz Joseph-Platz, ehemals Platz am Opernhaus heißenden +‚Forum Fridericianum‘, dessen Südhälfte durch die Alte +Bibliothek, jetzt Aulagebäude der Universität, und das +Opernhaus flankiert werden. Friedrichs Baumeister, der große +Knobelsdorff, hatte für dies Palais Schöneres geplant, als +dann gebaut worden ist, er wollte seinem Opernhause +gegenüber ein ähnliches Gebilde aus Tempel und Palast +schaffen und der ganzen Nordhälfte des Platzes so +monumentale Gestalt geben, wie er es am Opernhause +unternahm. Wenn nun auch sein großer Plan nicht ausgeführt +wurde, so kam doch auf Grund seiner Pläne unter der +Bauleitung Boumanns des Älteren etwas recht Imposantes +zustande. Aber dieser Palast stand meist öde, der Prinz +liebte Berlin nicht und blieb gern in seiner Rheinsberger +Solitude. 1810 wurde die Friedrich Wilhelms-Universität hier +gegründet und ihr erster vom Senat erwählter Rektor war +Fichte. Aus den 300 Studenten des ersten Jahres sind mit der +Zeit 10.000 geworden. Ob die Wissenschaft sehr durch diesen +Zuwachs gewonnen hat, darüber wollen wir uns lieber jeder +Meinung enthalten und nur schüchtern äußern, daß es vor +zwei, drei Jahrzehnten angenehmer war, sich in den Räumen +der Alma Mater aufzuhalten. Es gab noch nicht so viel +examensüchtige Gesichter. Auch war dazumal der Vorgarten +noch nicht so überfüllt mit berühmten Männern aus Marmor und +Bronze, die weder das würdige +Behagen der beiden freundlichen Humboldts vor dem Garten, +noch den steinernen Schwung der neuen Statuen Savignys und +Fichtes vor dem Aulagebäude drüben haben. Dies Gebäude, +einst Bibliothek, soll Friedrich der Große nach wienerischem +Vorbild, und zwar nach einem Fassadenentwurf des großen +Fischer von Erlach haben bauen lassen. Im Volksmund heißt es +die ‚Alte Kommode‘ und eine anzuzweifelnde Anekdote läßt den +König seinen Baumeistern ein geschweiftes Rokokomöbel als +Vorbild hinstellen. Das paßt zu der Geschichte, die über den +Bau der pantheonähnlichen runden Hedwigskirche im +Hintergrunde des Platzes überliefert wird: es kamen einst +die Katholiken Berlins zum Alten Fritzen und baten, er möge +ihnen in Berlin eine schöne Kirche bauen. Der König saß +gerade beim Frühstück, war gut gelaunt und +‚wohlaffektioniert‘. Als sie ihn dann fragten, wie die +Kirche, deren Erbauung er ihnen versprach, aussehen werde, +nahm Friedrich seine Kaffeetasse, stülpte sie um und sagte: +‚So soll sie aussehen.‘ So kam es, daß der Baumeister die +Kirche ganz rund machte und eine runde Kuppel daraufsetzte. +Laterne und Kreuz, die wir heute über der Kuppel erblicken, +stammen erst aus den achtziger Jahren des vorigen +Jahrhunderts. Aus dieser Zeit ist auch der wunderbar grüne +Kupferbelag der Kuppel, einer der wärmsten Farbflecken auf +dem immer noch etwas zu grauen Bilde Berlin. + +An unserer Oper, dem Meisterwerk Knobelsdorffs, haben Zeiten +und Menschen allerlei verändert und nicht gerade zu ihrem +Vorteil. Immerhin können wir uns freuen, daß beim letzten +Umbau die scheußlichen Eisentreppen weggefallen sind, +die der letzte kaiserliche Besitzer zum Schutz +gegen Feuersgefahr außen anbringen ließ und die, wie +Mackowsky sagt, ‚dem edlen Gebäude das Aussehen einer +Bauattrappe für Feuerlöschübungen gaben‘. + +Eingeweiht wurde das Opernhaus im Jahre 1742 mit ‚Cäsar und +Cleopatra‘ von Graun, einem der Lieblingskünstler +Friedrichs. Der König nahm den lebhaftesten Anteil an den +Aufführungen, er stand oft hinter dem Kapellmeister, der die +Partitur vor sich hatte, und sah fleißig mit hinein. ‚Er ist +wirklich ein ebenso guter Generalmusikdirektor hier als +Generalissimus im Felde‘, sagt ein Zeitgenosse. Er ließ +seinem Geschmack entsprechend viel Französisches aufführen. +Wir hören von Werken wie *Le Mercure galant, Le Cadi dupé*. +Nun, in späteren Zeiten hat man hier bedeutendere Musikwerke +zu hören bekommen, als jene Opern gewesen sein mögen. Aber +die Könige und Kaiser haben dem Kapellmeister nicht mehr ins +Notenblatt geguckt. Dafür haben oben im höchsten Rang +Musikschüler und -schülerinnen mit aufgeschlagener Partitur +gesessen und jeden Ton verfolgt, und wir haben als junge +Studenten neben ihnen gesessen und durften mit +hineinschauen. Das alte Opernhaus und dieser alte Platz sind +uns Berliner Kindern lieb geblieben, trotz aller +Veränderungen. Seitdem nun noch das Kaiserinnendenkmal mit +seinen Anlagen entfernt worden ist, erweckt der Platz in +seiner pflasternen Leere oft deutlich das Bild der alten +Zeiten. Man kann ihn sich vorstellen, wie die Stiche um 1800 +ihn zeigen, kann alte Herren in Dreispitz und Wadenstrumpf +neben jüngeren im damals neumodischen Taillenfrack +und in Stulpstiefeln als Begleiter von Damen mit +hoher Empiretaille und breitem Umschlagetuch übers Pflaster +promenieren lassen. + +Wand an Wand mit der ‚Kommode‘ steht das Palais Kaiser +Wilhelms I., ein bescheidenes Fürstenschloß. Wilhelm I. war +schon in seiner Jugend ein sparsamer Haushalter, und der +Baumeister, der in den dreißiger Jahren dem Prinzen von +Preußen dies Haus aus einem alten Privatpalais umgestaltete, +mußte von allem unnötigen Aufwand Abstand nehmen. Da man +immer sagte, daß innen nichts Besondres zu sehen sei, bin +ich früher nie hineingegangen, bis ich vor kurzem Laforgues +Berliner Aufzeichnungen las. Der erzählt so hübsch von der +Stille dieser Räume, in denen nur das Monarchenpaar mit +einem halben Dutzend Kammerfrauen der Kaiserin hauste, +während der sonstige Hofstaat im großen Schloß, im +Prinzessinnenpalais und in dem benachbarten Niederländischen +Palais untergebracht war. Wenn er, um sich zur Kaiserin zu +begeben und ihr vorzulesen, morgens eintrat, hörte man nur +das Ticktack der Uhren und den Fall der Wassertropfen im +Wintergarten. Und den ganzen Tag dauerte die Stille, nur +minutenweise unterbrochen vom Sporengeklirr einer Ordonnanz, +die mit einer Meldung eintrat. Da las er denn der Fürstin +das Wichtigste aus den Pariser Zeitungen *Le Temps*, *Les +Débats*, *Figaro* und aus der *Revue des deux Mondes*, +ferner Auszüge aus Romanen und Memoiren. Den Kaiser bekam er +selten zu sehen. Das Fürstenpaar lebte ziemlich getrennt +unterm gemeinsamen Dach. Von den Hofdamen hörte er, daß der +alte Herr ‚goldig‘ sei, +und die Gemahlin, die sehr empfindliche Nerven hatte, wie +ein höheres Wesen schone und respektiere. Wenn es doch +Gegensätze gab und Auguste heftig wurde, pflegte Wilhelm +verständnisvoll zu sagen: ‚Es regt sich wieder einmal ihr +russisches Blut‘. Sie war meist abgespannt, mit langer +blasser Hand fuhr sie sich über die Stirn. Sehr soigniert +war die alte Dame und gar nicht populär. Die Berliner sagten +von ihr ‚Sie ist nicht von hier‘. Was Laforgue erzählt, +machte mich neugierig auf das Interieur der beiden alten +Leute, und so bin ich denn kürzlich mit einem Schub +Besichtiger eingetreten. Wir bekamen Filzpantoffeln zum +Schlittern, und die Sichersten sahen alles an, als ob sie +hier mieten wollten; sie überzeugten sich diskret — mit +Rücksicht auf die Führerin, die den Vormieter vertrat (er +war vielleicht noch gar nicht ausgezogen, war vielleicht +nebenan) — von der Lage der Zimmer und erwogen, welche +Gegenstände man eventuell übernehmen könnte. + +Ja, da war es nun wirklich, das Arbeitszimmer mit dem +historischen Eckfenster, an dem der Kaiser sich zeigte, wenn +draußen die Wache vorüberzog. Er soll jedesmal, wenn die +Musik näher kam, mitten im Gespräch den Überrock über der +weißen Weste zugeknöpft und den Orden pour le mérite +zwischen den Aufschlägen der Uniform vorschriftsmäßig +zurechtgerückt haben. Es ist derselbe Orden, den wir auf +vielen Porträts seiner Zeitgenossen sehen, er nimmt sich gut +aus am Halse all dieser würdigen Männer, die sich so gerade +hielten, wie das heute kaum mehr möglich ist. Einer von +ihnen, erzählt man, hat noch kurz vor seinem Tode es +vermieden, sich in seinem Stuhl anzulehnen, und den +Angehörigen erklärt, er wolle das nicht, es könne zu einer +schlechten Angewohnheit werden. Gleich diesem Manne hielt +sich sein alter König aufrecht zwischen all den unbequemen +Möbeln, die hier sein Arbeitszimmer überfüllen. Es ist noch +ganz in dem Zustande erhalten, in dem er es verlassen hat, +um ein paar Türen weiter in einem bescheidenen Hofzimmer, +welches das Nachbargebäude verdunkelt, sich sterben zu legen. +Tische, Etageren, Vertikows, Stuhl und Sofa sind bedeckt mit +Souvenirs, Mappen und Büchern. Der alte Herr behielt das +alles eng um sich und fand sich mit peinlicher Genauigkeit +darin zurecht. + +So viel Gerahmtes und Briefbeschwerendes, eine solche Menge +von wert- und geschmacklosen Photographien, Vasen, Kissen +und Statuetten hat wohl selten ein Sterblicher geschenkt +bekommen wie dieser freundliche Greis, und alles hat er mit +rührender Pietät aufgehoben. Was Tisch und Wand nicht mehr +fassen konnten, hat er einfach auf den Boden gestapelt, und +da steht es noch. Die ausführlich gemalten Ölbilder und +Porzellanmalereien glaube ich alle zu kennen, das römische +Landmädchen, das den Handrücken in die Hüfte stützt, die +frommblickende Älplerin mit dem tressengeschmückten Mieder +und dem süßen von Lockenschnecken gerahmten Ovalgesicht, das +Prinzeßchen in Miniatur mit Höschen unterm Rock und Kranz in +der Hand. Und dort die offenhaarige Dame, die über einer +Blume sinnt, war gewiß in einer ‚guten Stube‘ bei Großeltern +oder Großtanten. Und über den Polstern der guten Stube waren +auch meistens Bezüge, wie wir sie hier finden. Nur daß hier +Krönchen darauf gewebt sind, weil der bewohnende Bürgersmann +König war. Aus dem nächsten +Zimmer schaut leibhaftig das altvertraute Märchen von +Thumann her. Im Samtrahmen lauscht’s herüber, mit dem +blendenden Ellenbogen der Linken, die das Haupt stützt, ins +Walddunkel vorstoßend. Auf dem Absatz des Bücherschranks +stehen Photographien kostümierter Familienmitglieder zur +Erinnerung an kleine Verkleidungsfeste, den intimen +Maskenball guter Bürgerfamilien. Und auf demselben Absatz +wurde dem Kaiser das zweite Frühstück serviert, das er +stehend einnahm. Aus der Bibliothek führt eine schmale +Wendeltreppe hinauf in die oberen Räume. Diese +beschwerlichen Stufen stieg Wilhelm I. noch in hohem Alter +empor, um in die Gemächer seiner Gattin zu gelangen. Wir +nahmen dahin den weiteren, bequemeren Weg, kamen durch das +Vortragszimmer, wo auf einem der steifen Stühle, mit dem +eingepreßten Preußenadler auf der Rückseite, Bismarck etwas +unbequem sitzen mußte, wenn er seinem lieben Herrn als +treuer Diener seine Politik zu insinuieren hatte. Wir traten +ins marmorne Treppenhaus, da heben Viktorien von Rauch ihre +Kränze, friedlich anmutende Göttinnen lang vergangener +Kriege. Oben die Räume der Kaiserin sind festlicher und +prächtiger als die, welche wir verlassen haben. Schon als +Prinzessin hat sich Augusta viel mit Inneneinrichtung +beschäftigt und soll behauptet haben, an ihr sei ein +Dekorateur verlorengegangen. Wir Fremde trieben etwas +stumpfsinnig an Repräsentation und Behagen dieser lichten +Zimmer, an Malachit und Alabaster der üblichen +Russengeschenke vorbei, sahen viel aus dem Fenster und +wurden erst wieder aufmerksam, als man uns im Tanzsaal ein +Echo vorführte, +das zufällig, sozusagen aus Versehen, hier miteingebaut +worden ist. Einige aus unserer Herde machten schüchterne +Versuche, es selbst zu wecken, was unsere Führerin lächelnd +zuließ. Unser Rundfahrtführer hat dies immerhin denkwürdige +Haus mit ein paar Worten abgetan und um so ausführlicher auf +die schrecklich ‚maßvollen Barockformen‘ der +gegenüberliegenden riesigen neuen Staatsbibliothek +hingewiesen. Dort ist überm Tor zwischen seinem +perückentragenden und seinem gezöpften Ahnherrn der letzte +Zollernfürst als Büste mit marmorn gezwirbeltem Schnurrbart +zu sehen. Im Innern gibt es unglaublich viel Bücher und eine +große Handschriftensammlung, Musik- und Kartenabteilungen, +Grammophonplatten von zweihundert Sprachen, allerlei +Institute, die man alle besichtigen kann; am schönsten aber +ist es, sich hinter einen Wall von Büchern in den +kreisrunden Lesesaal zu setzen und die unterschiedlichen +Männlein und Weiblein zu beobachten, die in konzentrischen +Ringen um eine leere Mitte studieren, notieren, frühstücken +und träumen. + +Ach, frühstücken! Wir sind ja wieder bei dem Alten Fritz und +unserm Ausgangspunkt angelangt. Wollen wir nicht hinübergehn +in Habels altväterische Weinstube in dem schönen +hundertjährigen Hause, uns an einen der blankgescheuerten +Tische setzen und die große Weinkarte studieren? Leider +fahren wir weiter, unser Pensum ist noch nicht beendet. Wir +dürfen nur einen raschen Blick auf Vasen, Masken und +Weinlaub des Reliefs überm Eingang werfen. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Die Straße Unter den Linden, noch immer mit ihren vier +Baumreihen, schönen Läden, Gesandtschaften, Ministerien und +Bankhäusern Herz und Mitte der Hauptstadt — um sie ganz zu +würdigen und im Gegenwärtigen das Vergangene zu erleben, +müßte man all ihre Epochen heraufbeschwören, seit der Große +Kurfürst sie als vorstädtische Allee zu seinem Jagdpark, dem +Tiergarten, hin anlegte. Über die fritzische Zeit müßte man +in der vortrefflichen Beschreibung der Haupt- und +Residenzstädte Berlin und Potsdam von Friedrich Nicolai +nachlesen, da steht jedes Haus der Straße verzeichnet, +Gasthäuser wie die Stadt Rom, das spätere Hotel de Rome, +Ecke der Stallgasse, jetzt Charlottenstraße, dessen +stattlicher Neubau erst vor kurzem Bureau- und +Geschäftshäusern Platz machen mußte, Palais, wie das des +Markgrafen von Schwedt, mit Benennung all seiner +Vorbesitzer, aus dem dann das Palais des Alten Kaisers +geworden ist, oder das der Prinzessin Amalie von Preußen, +Äbtissin von Quedlinburg, nahe der Wilhelmstraße, wo jetzt +die russische Botschaft wohnt, und das eines von Rochow und +das eines Grafen Podewils usw. Sodann müßte man den +berühmten Lindenfries im Märkischen Museum betrachten, der +alle Häuser Unter den Linden im Jahre 1820 festhält. Tust du +nun noch das Bild der Gegenwart mit den Auffahrten der +Hotels Bristol und Adlon (der Neubau des letzteren hat das +herrliche Redernsche Palais verdrängt), dem stattlichen +Kultusministerium und den vielen wohlerhaltenen älteren +Gebäuden hinzu, die altberühmte Läden und Geschäftshäuser +enthalten, so ergeht es dir vielleicht wie Varnhagen, der +über einen Spaziergang die Linden bis +zum Tor hinab und zurück notiert: ‚Der Anblick erweckte in +mir eine großartige Bilderreihe der Vergangenheit und +Zukunft, eine herrliche Geschichtsentwicklung, die gleich +einem wogenden Meere das kleine Schiff des eigenen Daseins +trug.‘ + +Auch als altbewährte Promenade der Lebensfreude empfehlen +sich die Linden. Dafür gibt es neben Heinrich Heines +berühmtem + + | Blamier’ mich nicht, mein schönes Kind, + | Und grüß mich nicht unter den Linden + +Zeugnisse weniger bekannter Poeten, zum Beispiel die +Berliniade oder Lindenlied eines F. H. Bothe, die der letzte +der hübschen Berliner Kalender von Adolf Heilborn zitiert: + + | Unter den Akazien + | Wandeln gern die Grazien + | Und der Mädchen schönste finden + | Kannst du immer untern Linden + | In Berlin, in Berlin, + | Wenn die Bäume wieder blühn. + | + | Liebende gehn Arm in Arm + | Einsam durch den bunten Schwarm. + | Und es sagt ein Händedrücken + | Und ein Streifkuß ihr Entzücken + | In Berlin, in Berlin, + | Wenn die Bäume wieder blühn. + | + | Untern Linden auf und ab + | Wallen Herr’n in Schritt und Trab, + | Schöne Herr’n und hübsche Herrchen, + | Große Narren, kleine Närrchen, + | In Berlin, in Berlin, + | Wenn die Bäume wieder blühn. + | + | Freilich ist dann wohl Mama, + | Auch Papa wohl plötzlich da. + | Doch nicht oft wird sich’s begeben; + | Denn warum? Man weiß zu leben + | In Berlin, in Berlin, + | Wenn die Bäume wieder blühn. + +Merkwürdige Varianten dieses Liedes enthält ein Stück der +Scherzhaften Lieder eines gewissen Karl Müchler vom Jahre +1820: + + | Untern Linden, wie ihr wißt, + | Wandeln die da rufen: Pst. + | Mild gesinnte Herzen finden + | Kannst du immer untern Linden + | In Berlin, in Berlin, + | Wenn die Bäume wieder blühn. + | + | Für acht Groschen ist Mama + | Hinten auf dem Hofe da, + | An den Herrn und an Jeannettchen + | Leiht sie Kammer, Licht und Bettchen + | In Berlin, in Berlin, + | Wenn die Bäume wieder blühn. + +Inwieweit seither der Charakter unserer ehrwürdigen +Hauptpromenade sich gleich geblieben ist oder sich geändert +hat, dies zu behandeln wollen wir erfahrenen Forschern der +Sittengeschichte überlassen und beim bloßen Anblick der +Gegenwart bleiben. + +Der neugierige Fremde interessiert sich wohl vor allem für +die berühmte Ecke Friedrichstraße und fragt nach Café Bauer +und Kranzler. Nun, Bauer heißt nicht mehr Bauer, sondern +schlechthin Café Unter den Linden, die wacker dionysischen +und elysäischen Wandgemälde sind verschwunden und eigentlich +ist im gegenüberliegenden Café König ‚mehr los‘ — womit ich +nichts gegen die Annehmlichkeiten eines Aufenthalts im Café +Unter den Linden gesagt haben will, im Gegenteil! Und +Kranzler? Da sind zwar noch die merkwürdigen Eisenpfähle und +Ketten, über die schon die eleganten Offiziere des alten +Regiments Gensd’armes zur Zeit der Königin Luise ihre +enghosigen Beine hängen gelassen haben, aber seit dem +letzten Umbau hat es sein altes Cachet verloren, womit ich +wiederum nichts gegen die Kuchen, die man dort verspeisen +kann, sagen will. + +Von der Friedrichstraße, auf die du Fremder in Eile einen +heftigen Blick wirfst, will ich dir noch nichts sagen, sie +muß mit ihren alten, veraltenden und lebendig gebliebenen +Geheimnissen und Sichtbarkeiten einem Abendspaziergang +vorbehalten bleiben. + +Aber gern würde ich dich auf ein paar Minuten durch den +Torweg dort in die kleine Mauerstraße entführen. Der Anblick +der Torwölbungen von der Innenseite dieser alten Steinwelt, +die mehr ein Durchgang als eine Straße ist, der +anschließende Rundbau, die Balkongitter, der Glaserkergang, +das Hellgrau und *‚cafe au lait‘* aller Nachbarhäuser ist +rein erhaltene Vergangenheit. Der jenseitige Torbogen aber +führt dich in die ‚Zentrale des deutschen Zahlungsverkehrs‘, +die Mauerstraße und ihre Nachbarn. Vor allem findest du dort +die mächtigen Gebäude der Deutschen Bank, die durch +neuzeitliche Seufzerbrücken miteinander verbunden sind. + +Vorbei an kleinen, vornehm aussehenden Häusern, die mit +ihren klassizistischen Fensterrahmungen wohlerhalten +zwischen den jüngeren größeren Nachbarn stehn, und den +Reihen schöner Privatautos vor den Hotels und parkenden in +der Mitte des Dammes sind wir an den Pariser Platz gekommen. +Die Form dieses Platzes mit dem abschließenden Tor, den +zurückweichenden Fassaden der einfachen Palais und dem +erfrischenden Rasengrün zur Rechten und zur Linken bewahrt +eine Stille und Geschlossenheit, die vorübertosender Lärm +und Betrieb nicht stören kann. Wohltuend ist der +einheitliche Stil der Gebäude, den nur das Palais Friedländer etwas +unterbricht, während das Barock der französischen Botschaft +gut eingeht. Und erfreulich ist es, zu wissen, daß hier +neben Akademien, Botschaften, Reichtum und Adel ein Maler +und ein Dichter hausen. + +Das Brandenburger Tor mit den beiden Tempelhäuschen, die +Schinkel dem stolzen Bau des älteren Langhans anfügte, ist +zwar den athenischen Propyläen — etwas ungenau und, wie der +Erbauer selbst berichtet, nur nach Beschreibungen der Ruinen +— nachgebildet, aber in seiner stämmigen sandsteinernen +Geradheit für unser Gefühl eigentlich mehr altpreußisch als +antikisch. Es ist das Tor von Berlin. Und bei der Victoria, +die oben ihre Quadriga lenkt, denken wir Kinder von hier +nicht nur an die Entführung durch Napoleon und ihre +siegreiche Wiederkehr, sondern auch an die Rolle, die sie in +‚Teufelchens Geburtstag‘ in den entzückenden Berliner +Märchen von Walther Gottheil spielt, in denen auch der Große +Kurfürst und der Goldfischteich und die Spree so +unvergleichlich verewigt sind. + +Wir umkreisen nun den Platz vor dem Tor. Sieh bitte nicht +auf die marmornen Balustraden, Bänke, Springbrunnen und +fürstlichen Herrschaften, die wir wilhelminischen +Architekten und Baumeistern verdanken. Nimm dies grelle Weiß +vor dem holden Grün des Tiergartens für Blendung und +Augenweh! Wir wollen zusehn, daß das verunglückte +Kaiserpaar, Friedrich III. und seine Gattin Viktoria, mit +Gottes Hilfe entfernt ist, wenn du das nächste Mal nach +Berlin kommst. Schau auf die schönen Bäume und Büsche an der +Allee. Aber da schimmert schon wieder ärgerlich greller +Marmor durchs Grün, und nun sind wir in der Siegesallee. Ja, +da sind nun rechts und links 32 (in Worten: zweiunddreißig) +brandenburgisch-preußische Herrscher und hinter jedem eine +Marmorbank und auf jeder Bank sitzt — nein, sitzen kann da +niemand, es ist zu kalt — aber auf jeder Lehne hocken zwei +Hermen jeweiliger Zeitgenossen des betreffenden Herrschers. +Es hilft nichts: unser Wagen fährt unerbittlich die ganze +Reihe entlang und man nennt dir die Namen. Ob wir bis zu +deinem nächsten Besuch das alles werden entfernt haben? +Berlin ist ja jetzt sehr tüchtig, was Aufräumungsarbeiten +betrifft, aber verarbeiteter Marmor soll keinen rechten Wert +haben. Man müßte doch das Material verkaufen können. 32 +Herrscher nebst Bänken und Zeitgenossen! Da weiß ich keinen +Rat. Du machst dir aber vielleicht einen Begriff, wie schön +diese Allee hinauf zur braven alten Siegessäule und hinunter +zur Viktoriastraße früher war. So, jetzt haben wir die eine +Seite bis zu Friedrich Eisenzahnen geschafft. Hier sind wir +am Kemperplatz, und das da soll, weil wir keinen alten mehr +haben, der neue Roland von Berlin sein. Hier um die Ecke +könnten wir in das etwas prunkvolle Café Schottenhaml gehn +(bei diesem Namen denkt man eigentlich an etwas behaglich +Münchnerisches) und oben das Porzellankabinett bewundern, +alte Muster der Berliner Manufaktur. Aber unser Wagen wendet +und erledigt die zweiten 16 von den 32. Da wirf einen Blick +auf Otto den Faulen, den einzigen von diesen Herren, der +sich einer gewissen Popularität erfreut, er hat eine so nett +verdrießliche Art, das Repräsentieren +nachlässig mitzumachen. Und nun harre aus, bis +wir zur Siegessäule kommen! Sie ist nicht gerade schön, das +kann man nicht behaupten. Immerhin erinnert der hohe +Säulenschaft mit den Geschützrohren an einen Schachtelhalm. +Und Schachtelhalme sind schön. Und das Ganze gehört nun +einmal zu unserer Spielzeugschachtel Berlin. Du mußt +zugeben, daß die Säule trotz der Kanonen etwas Harmloses +hat. Wenn du übrigens Rundsichten liebst, da oben ist eine +mit Baedekerstern, da kannst du über den ganzen Tiergarten +weg nach Süden und Westen und nördlich Moabit sehn und +östlich über die Reichstagskuppel die ganze Altstadt und +alle Kuppeln und Türme, die wir heute aus der Nähe gesehen +haben, noch einmal überschauen. + +Weniger harmlos, selbst noch in Begas’ eiliger Pathetik, ist +dort der Riese auf dem roten Granitsockel. Der bronzene +Kürassier mit der Faust auf der Urkunde der Reichsgründung +schaut, seines eigenwilligen Werkes sicher, über alles +Erreichte hinweg in die Fernen, welche die nicht mehr +erreichten, die nach ihm kamen. Um das Volk an seinem +Sockel, den Atlas mit der Weltkugel, den Opernsiegfried am +Reichsschwert und die verschiedenen Damen, die +Staatsweisheit und Staatsgewalt bedeuten, kümmert er sich +nicht. Und das mächtige Reichstagsgebäude hinter ihm scheint +sich zu ducken mit Kuppel und Türmen. Die Reichstagskuppel +ist übrigens überhaupt nicht so hoch geworden, wie der +Baumeister Wallot plante. Aber auch so wie es geworden ist, +hat dies grollend lagernde Riesentier seine massive +Schönheit und ist für die Zeit, in der es entstand, eine +gewaltige Leistung. + +Hast du Lust an Glasfenstern mit Reichsadlern, Wandgemälden +von Städten und Landschaften, Kardinaltugenden, marmornen +und bronzenen Kaisern, gepreßten Ledertapeten von der +Vornehmheit internationaler Speisewagen, ‚reichem +Renaissanceschmuck‘, allegorischen Damen, so laß dich durch +die Wandelhallen, Lesesäle, den großen Sitzungssaal, +Erfrischungsraum, Vorsäle und Ausschußsäle führen. Es dauert +immerhin dreiviertel Stunden. Hast du unter Abgeordneten +oder Leuten von der Presse einen Freund, laß dir von ihm +eine Eintrittskarte zur Tribüne verschaffen und wohne einer +Sitzung bei. Da mußt du dann vor allem achtgeben, daß du +Rechts und Links nicht verwechselst. Es ist wie bei gewissen +Bühnenvorschriften vom Schauspieler, nicht vom Zuschauer aus +gemeint. Also orientiere dich gut, damit du die Kommunisten +nicht für Völkische hältst und umgekehrt. Nach +Zeitungsbildern, Kinowochenschau und Karikaturen wirst du +unsere größeren und kleineren Politiker erkennen, und das +macht ja immer Vergnügen. Im übrigen empfehle ich dir die +Lektüre gewisser Seiten von Eugen Szatmaris Berlin-Buch. Das +führt dich auf muntere Art in diese Welt ein, in der ich +mich etwas fremd fühle. + +Wo in Berlin ein Bismarck errichtet ist, pflegt Moltke nicht +weit zu sein und auch auf Roon ist bisweilen zu rechnen. +Unser Wagen bringt dich an beider Denkmälern vorüber und +zwischendurch an der neuen vor einigen Jahren umgebauten +Staatsoper, die einst als Krollsches Opernhaus in +sommerlichem Garten stand. + +Dies Etablissement hatte eine besondre Glanzzeit, als noch +das Gaslicht vorherrschte. Da wurde der Garten ‚märchenhaft‘ +illuminiert, wie wir blasierten Zeitgenossen der Berliner +Lichtwoche, der A.E.G. und der Osramlampen es uns gar nicht +mehr vorstellen können. Schon damals lockte Licht Leute +hierher wie in den Pariser Jardin und Bal Mabille. + +Am Reichsministerium des Innern, das früher +Generalstabsgebäude und Moltkes Heim war — es gibt dort ein +Moltkegedächtniszimmer — kommen wir vorbei und die +Alsenstraße hinauf, ein Stück am Kronprinzenufer entlang und +über die Brücke. Da zur Rechten rund und weiß das +Lessingtheater. Und jetzt hinter der mächtigen Schwebebrücke +der Humboldthafen, an dessen Becken sich nördlich der Anfang +des Spandauer Schiffahrtskanals anschließt, der Wasserweg +zur Oder. Einer der sympathischsten älteren Berliner +Bahnhöfe taucht auf, der nach der kleinen Stadt Lehrte +heißt, aber gar nicht dahin seine Züge sendet, sondern vor +allem nach Hamburg. Das ist eine schöne rasche Fahrt durch +die Elb-Ebene und große mecklenburgische und +niedersächsische Wälder und Felder. Mit alten Glaskuppeln +und allerlei etwas unordentlich herumliegenden Gebäuden, +Panoramen und Gartenrestaurants, erscheint, von der +Stadtbahn überquert, der Ausstellungspark, früher im Sommer +und wenn die Große Bilderausstellung die Säle füllte, ein +‚Treffpunkt‘, jetzt ein bißchen veraltet, wie eingeregnet +von lauter Vergangenheit, überholt von jüngeren +Unternehmungen. Moabit mit Kriminalgericht, Zellengefängnis, +der Meierei Bolle, den Kraftwerken, das ist ein Kapitel für +sich. Wir fahren wieder über eine Spreebrücke und kommen zu den +‚Zelten‘. + +Die großen Gartenrestaurants erheben sich jetzt da, wo +früher einmal wirkliche Zelte waren. Der Alte Fritz hatte +französischen Kolonisten gestattet, hier Leinwandzelte +aufzuschlagen und Erfrischungen an die Spaziergänger zu +verkaufen. Später gab es hier Gerüste, auf denen musiziert +wurde. In den Märztagen von 1848 scharte sich um die Gerüste +das revolutionäre Volk, beriet Adressen an den König, Druck- +und Redefreiheit, Volksvertretung usw. Eine Weile lang ließ +man sie gewähren, umstellte sie aber mit Reiterschwadronen. +Es ging hier noch alles mit Maß und Haltung zu. Varnhagen +berichtet von den schweigsamen Massen, die in dunkler Nacht +ruhig von den Zelten durch das Brandenburger Tor in die +Stadt zurückkehrten. Auch in den Novembertagen 1918 zog an +den Gärten der großen Restaurants die Menge schweigend +entlang und wieder waren die Zelte eine Stätte verhalten +maßvoller Revolution. Im allgemeinen aber ist hier friedlich +kleinbürgerliche Erholung mit viel Musik, Vorstellungen, +Tanz und den mächtigen Platten der ‚Zeltentöpfe‘ und +‚Stammessen‘ oder mitgebrachtem Abendbrot. Es geht beim +Tanzen bieder zu; auch die Vorführungen sind ziemlich +harmlos. So ist hier noch heute mitten in der Stadt eine Art +Ausflugsrast für die unendlich vielen kleinbürgerlichen +Familien, Gruppen, Vereine Berlins. Schönstes stilles Berlin +ist die Straße, die sich im Anschluß an die Restaurants am +Tiergartenrand hinzieht. Aber das kann man so im +Vorbeifahren nicht sehn, das muß man mit Morgen +und Abend erleben. Hier wohnt sich’s altertümlicher und +heimlicher als in den bekannten schönen Straßen am südlichen +Tiergartenrand. + +Grausam schnell saust unser Wagen den Spreeweg entlang am +Garten und Schloß Bellevue vorbei zum Großen Stern. +Bellevue: früher spähte man durch den Zaun, um zu sehen, ob +da die kleinen Prinzenkinder spazierten. Jetzt kann man in +den Alleen des alten Gartens sich ergehn, in den runden Saal +zu ebner Erde im Seitengebäude schauen und sich dazu +königliche Sommerfeste denken, Gartengrabmäler entziffern, +hinübersehn nach der Altberliner Straße, die Brückenallee +heißt, wo in verwitternden Balkons Altfrauenblumen sich +halten. Auf der Schloßterrasse nach der Gartenseite zu saß +viel in seinen letzten Jahren der tafelfrohe und +lebenstraurige Friedrich Wilhelm IV., zeichnete vielleicht +seine romantischen Gartenprospekte, wie man deren im +Hohenzollernmuseum sehen kann, empfing seine Minister, die +über seinen seelischen Zustand ihre Bedenken bekamen, und +träumte sein verlorenes Kaiserreich, in dem ‚kein Blatt +Papier zwischen ihm und seinem Volke sein sollte‘, während +die liberalen Berliner sich mit Parlament und Freiheit +befaßten. + +Zu Zeiten des Großen Friedrich hatte Knobelsdorff, der +Meister von Sanssouci, hier Meierei und Landhaus, nach +seinem Tode ging der Besitz durch verschiedene Hände, bis er +endlich an Prinz Ferdinand, Friedrichs jüngeren Bruder, kam, +dem Boumann der Jüngere das Schloß gebaut hat; der zierliche +Pavillon aber mit den korinthischen Säulen ist Schinkels +Werk. + +Während wir am Großen Stern den Hubertusbrunnen und +die Jagdgruppen passieren, brave Bronze, gegen die sich +nichts einwenden läßt, versuche ich doch diesen Platz in +alten Zeiten vorzustellen, als hier die echten Parkhüter des +Jägerkreuzwegs standen, Gartengötter, die später noch auf +den Korso der schönen Welt schauten. Oh, es hat schon viele +Berliner Tiergarten und Große Sterne gegeben vor dem, den +jetzt der Rundverkehr durchtost und in dem vor kurzem als +Sinnbild des helleren Berlins ein Lichtturm grell +aufleuchtete. + +Bei der Fahrt die Charlottenburger Chaussee hinauf zeig ich +dem Fremden schnell, wo im Grünen der Weg zu dem alten +Gartenrestaurant Charlottenhof führt. Das war einmal ein +schönes Privathaus und ist nun eines der wenigen Cafés im +Tiergarten selbst, die zum Verweilen einladen. Noch hat der +Berliner in seinem Park seine Art Luxus und Behagen nicht +ins beleuchtete Laubwerk verpflanzt. Was würde Paris aus so +schön gelegenen Plätzen, wie dies Charlottenhof oder das +kleine Gasthaus bei der Bootanlegestelle am Neuen See es +ist, gemacht haben! + +An dem Stadt-Bahnhof Tiergarten findest du in einer kleinen +Auslage die Schalen und Teller, die dort die +Porzellanmanufaktur ausstellt; ich lege dir dringend ans +Herz, ein paar freie Stunden dem Besuch der nahegelegenen +Fabrik zu widmen. Das ist ein Stück bestes Altberlin. Längs +eines stillen Wasserarms zweigt hier die nach dem +Privatbegründer der Manufaktur, Wegely, benannte Straße ab +und führt zu den Verwaltungsgebäuden und zu der Fabrik. +Während die Verkaufs- und Ausstellungsräume in der Leipziger +Straße allgemein bekannt sind, ist dieser abgelegne Komplex +mit seinem +Museum und all den Hallen und Zimmern, in denen das +Porzellan gewonnen, gebrannt und bemalt wird, bei weitem +nicht so berühmt und besucht, wie er es verdient. Durch den +gartenhaften Hof gehen wir an den langen schmucklosen +Gebäuden entlang und durch einen Torweg in die Fabrik, deren +Bau auch schon historischen Reiz hat. Dort führt man uns den +ganzen Weg, den das Porzellan von der Schwemmerde bis ins +Atelier des Blumenmalers zurücklegt. In den niederen +Schlämmereikellern setzen sich in der ruhig gleitenden Masse +in einem weiten Kanalsystem von Rinnen die festen Teile ab; +aus denen wandert die Flüssigkeit in Kästen, wo auch die +feineren Bestandteile sich vom Wasser scheiden. Der +‚Hallischen Erde‘ wird Feldspat, der vor unsern Augen in +mächtigen Kollergängen grob und in Trommelmühlen staubfein +zerkleinert worden ist, beigegeben. Die Gesamtmasse wandert +weiter, erlebt Filterpressen und Masseschlagmaschinen, die +moderne Form der alten Knetbänke. Auf runden Tischen wird +sie unter einen Walzengang gebracht. Wir dürfen die +Gipsformer und die Arbeiter an der Töpferscheibe bei ihrem +Werk beobachten. Wir besuchen die leichtgewärmten +Trockenräume, wo die ausgeformten Gegenstände bleiben, bis +sie reif zum ersten Brande sind, die Brennkammern der +Gasringöfen, die Stockwerke des Rundofens, Gutbrandraum und +Verglühraum und die Ateliers, wo die Tonnen zum Glasieren +stehn. Eine seltsame Unterwelt, halb Backofen, halb Gang zum +Eisenhammer. Zuletzt langen wir bei den Malern an, die auch +heut noch treu-inniglich die alten Blümchen mit spitzen +Pinseln in Metallfarbe aufsetzen, welche +sich beim Einbrennen verwandelt. Man zeigt uns die Teller +und Schüsseln in allen Zuständen, vor und nach dem +Einbrennen, vor und nach ihrem Aufenthalt in den Muffelöfen, +in denen in schwachem Feuer das Flußmittel von der Farbe +abschmilzt. + +Ein freundlicher Bibliothekar führt uns in den Büchersaal +und gewährt uns Einblick in die Kabinettsorders des Alten +Fritz, der sich als Fabriksherr um alle Einzelheiten seiner +‚Porcellainfabrique‘ kümmerte. Alle Berichte von Bedeutung +mußten an ihn direkt gehen, er versah sie mit seinen +gestrengen ‚Erinnerungen‘. Er war ein guter Kaufmann und +wußte seine Ware anzubringen. Wollten zum Beispiel Juden +sich niederlassen, ein Gewerbe eröffnen oder heiraten, so +mußten sie königliches Porzellan kaufen. Dem Philosophen +Moses Mendelssohn wurden zu einer Zeit, als er schon einen +großen Namen hatte, zwanzig lebensgroße massive Affen +zugemutet. Durch große Geschenke, die er gern mit Hilfe +seiner Fabrik machte, vermehrte der König ihren Ruhm. +Weltberühmt wurde der Tafelaufsatz, den er der Kaiserin +Katharina II. von Rußland-überreichen ließ. Unter der +Fürsorge des Königs gedieh das Unternehmen, immer neue Öfen +wurden aufgestellt, und die technischen Errungenschaften des +beginnenden neunzehnten Jahrhunderts kamen der königlichen +Fabrik zugute. Wohl hatte sie Preußens schwere +wirtschaftliche Kämpfe mit durchzumachen, bewahrte aber +durch alle Zeiten die künstlerische Qualität und Eigenart +ihrer Erzeugnisse. Ein Gang durch die Ausstellungssäle hier, +ergänzt durch einen Besuch der Geschäftsräume in der +Leipziger Straße, die Bruno Paul ihre neue Inneneinrichtung und ihm +und Künstlern wie E. R. Weiß, Renée Sintenis, Edwin Scharff, +Georg Kolbe, ihren Schmuck verdanken, zeigt uns das Berliner +Porzellan durch alle Stilperioden als getreues Spiegelbild +des Zeitgeschmacks. Da sind die Putten und Parzen des +Rokoko, die allegorischen Gruppen wie etwa das ‚Wasser‘ als +Schäferin mit einem winzigen Krug, Cupido als Kavallerist. +Nach den mehr malerischen Blumen aus der Zeit des Neuen +Palais-Services und des Breslauer Stadtservices mit seinem +leuchtenden Dunkelblau erscheinen die zeichnerisch schönen +Buketts des Empire, die klassizistischen Grazien, +Kaffeetassen, deren Zierformen griechische und etrurische +Vorbilder haben, die zarten Biskuitgebilde nach Schadows +Entwürfen, die Luisenbüsten, die schöngestalteten +Henkelvasen nach Schinkelzeichnungen. Im Berliner +Stadtschloß, in Schloß Monbijou, in Potsdam, aber auch in +altem Familienbesitz begegnen uns immer wieder diese Formen +und Gestalten. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Wo die Charlottenburger Chaussee den Landwehrkanal +überschreitet, erhebt sich ein etwas umständliches +Torgebäude, das vermutlich hervorheben soll, daß hier eine +neue Stadt beginnt. Es ist ziemlich neu, und man glaubt ihm +nicht. Es gibt hier ebensowenig wie anderswo für das Gefühl +eine Grenze zwischen Berlin und Charlottenburg. +Schwesterlich hat Charlottenburg der Nachbarin auch etliche +Wissenschaft und Kunst abgenommen, so zum Beispiel gleich +hier zu unserer Linken die Technische Hochschule. Das +mächtige Gebäude feiert noch einmal mit aller Pracht von Säulen, Gesimsen und +Skulpturen eine Welt, die mit Säulen, Gesimsen und +Skulpturen eigentlich nichts zu tun hat. In der Vorhalle hat +der Dämon des Dampfes ein Bronzedenkmal bekommen wie ein +Renaissanceheld. Ein Stückchen weiter macht die Berliner +Straße einen Knick, den man das Knie nennt. Schon Fontane +sagt von diesem Knie: ‚Seine Rundung ist heute völlig +reizlos.‘ Reizvoller ist sie seither nicht geworden. Und +ihre Form verschwindet ganz in dem Durcheinander von Autos +und Bahnen, die hier die Kreuzung mehrerer Straßen +überqueren. Die stillste dieser Straßen ist immer noch die +Fortsetzung der Berliner Straße. An ihr liegen zwischen den +neuen noch eine ganze Reihe älterer kleiner Häuser aus der +Zeit, als der Weg von Berlin nach Charlottenburg ein Ausflug +war, eine Kremserpartie. Man fuhr mit dem Wagen vom +Brandenburger Tor aus richtig über Land hierher. Man bezog +Sommerwohnung in den idyllischen Behausungen, die an der +Straße lagen, welche die Hauptstadt mit der Sommerresidenz +verbanden, die einst der erste Preußenkönig seiner Gemahlin +im Dörfchen Lietzow geschaffen hatte und die nach ihr den +Namen Charlottenburg trägt. + +Die Ankunft vor dem schönen Schloß dieser Königin wird uns +etwas verleidet durch ein großes Reiterdenkmal Kaiser +Friedrichs mit Umbau und Göttern von 1905 auf den Pylonen. +Fort damit! Die Anlagen des Platzes sind doch dem Schutz des +Publikums empfohlen! Dem Schloß gegenüber die beiden +erfreulichen Kuppelbauten, die — man glaubt es kaum — einmal +Kasernen waren, erinnern an die etwas unbestimmten +Gartenarchitekturen, die der romantische Friedrich Wilhelm IV. +zeichnete, und blicken ehrfürchtig zu Eosanders grüner +Kuppel mit dem schwebenden Tanzgott hinüber. + +Im Schlosse sind schöne, etwas leere Empirezimmer der +Königin Luise mit viel unbesessenen Sesseln und zierlichen +Kachelöfen. Im östlichen Flügel, den Knobelsdorff für +Friedrich den Großen anbaute, ist ein weitläufiger Tanzsaal, +die goldne Galerie genannt. Und noch älteren Prunk findet +man auf der Gartenseite in den Gemächern, in Kapelle und +Porzellankammer des ersten Königs. Durch das Ganze wird man +leider pantoffelschlurfend geführt. Ungestört aber darfst du +Fremder in dem großen Park spazieren. Auf dem Weg dahin ist +ein Durchgangsraum. Pilaster und reiche Kapitelle und +Medaillons in Stuck, der so aussieht, als müßte er im +nächsten Windstoß bröckeln, und hält doch schon zweihundert +Jahre. Dieser wenig beachtete Raum ist ganz besonders voll +Vergangenheit. Im Garten gehst du an schöner Schloßfront und +den Büsten der römischen Kaiser entlang und stille Wege zum +Mausoleum. Das ist auch in seiner in neuerer Zeit +erweiterten Gestalt noch immer ein würdiges Gebäude, aber +unvergeßlich ist für jeden, der es noch gekannt hat, das +erste nach Schinkels Plänen erbaute Todestempelchen, das nur +den Marmorschlaf der Königin Luise und ihres Friedrich +Wilhelm hütete. Man hätte für ihren Sohn und ihre +Schwiegertochter eine andre Ruhestätte bauen und Rauchs +Meisterwerke allein lassen sollen. Es gibt in diesem Park +noch ein merkwürdiges Gebäude weit hinterm Karpfenteich und +nah dem Fluß, das Belvedere, in welchem +in den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts +Friedrich Wilhelm II. zu Füßen seiner ‚Gräfin Lichtenau‘ +saß. Fontane hat das Innere des »seltsamen jalousienreichen +Baus mit den vier angeklebten flachen Balkonhäusern und dem +kupfernen Dachhelm« besucht (heut ist es eine Art +Beamtenwohnung und unzugänglich). In den saalartigen +Rundzimmern war er und in dem dämmerigen Kabinett, wo der +König die Geister der Abgeschiedenen beschwor, die ihn +mahnten, auf den Weg der Tugend zurückzukehren. Heut sind +die Gespenster, die Fontane noch spürte, von ziemlich +banaler Gegenwart vertrieben, und Vergangenheit wohnt eher +in manchen Büschen und Wegen des Parks, der sich weit nach +Norden und Westen hin erstreckt. + +Unser Wagen aber lenkt südwärts ins neueste Charlottenburg +auf den Kaiserdamm bis zum Reichskanzlerplatz. Auf die +Reichsstraße werfen wir nur einen Blick und ahnen dahinten +die werdende Kolonie Heerstraße. Südlich vom Kaiserdamm +bekommen wir die Messehallen, die großen Ausstellungsbauten, +Funkhalle und Funkturm zu sehen. Groß angelegt und mit Recht +ein Stolz des neuen Berlin ist diese ganze Straße, die vom +Brandenburger Tor hieher und weiter führt. Unser Rückweg +passiert in der Hardenbergstraße die Hochschulen für Musik +und bildende Kunst, einen einheitlich entworfenen Komplex +von Gebäuden in hübschem Sandstein. Und dann geht es unterm +Stadtbahnviadukt hindurch und zur Kaiser +Wilhelm-Gedächtniskirche, vor der unser Wagen hält. Der +Führer erklärt, dies Gebäude sei eine der schönsten Kirchen +Deutschlands. + +Nun ist leider noch heller Tag, da sieht man sie zu +deutlich. Ach, wenn hier eine echte alte Kirche stünde — aus +Zeiten stammend, die eine der andern den Torso ihrer Träume +zu langsamem Weiterbauen übergab — und wenn nun heut an die +altersgrauen Mauern und Zacken unter Engelleibern und +Teufelsfratzen der wilde Rundverkehr der Trambahnen, Autos, +Autobusse und Menschenmassen mit einem Echo aus Ruinenstein +prallte — der ‚Broadway‘ von Berlin-Charlottenburg mit +seinen Cafés, Kinos, Leuchtbuchstaben und Wanderschriften +hätte ein Herz, eine Mitte, eine Resonanz. Statt dessen +steht, seit dreißig Jahren immer noch wie neu, hier das +Schulbeispiel einer sogenannten ‚spätromanischen +Zentralanlage‘ mit Hauptturm und Nebentürmen als massives +Verkehrshindernis mitten auf dem Platz, und gegenüber dem +Hauptturm einerseits und dem Chor andrerseits sind von +demselben Architekten — wir wollen seinen Namen vergessen — +noch aus Stilgefühl zwei gleichfalls romanische Häuser +errichtet. Es muß abends schon gewaltig von ‚Capitol‘ und +‚Gloriapalast‘ und der Ufa am Zoo Licht herüberdonnern, um +die steingewordne Schulweisheit etwas aufzulösen. Wir +Älteren denken manchmal an die Zeit, als hier einer der +wunderbaren vom alten Tiergarten übriggebliebenen Bäume +seine Zweige breitete (Zeitgenossen dieses herrlichen Baumes +stehen noch heut, der eine in der Wichmann-, der andre in +der Viktoriastraße), doch das ist belanglos, heut ist heut. +Aber wenn diese Kathedrale mit dem langen Namen wenigstens +ein bißchen altern und zerfallen wollte. Da steht sie mitten +im Gerassel und Gedröhn preußisch +unerschüttert und macht Augen rechts nach dem +lieben Gott. + +Und das Innere? Schon in dem Vorraum, der vermutlich an den +Narthex der echten romanischen Kirchen erinnern soll, gehts +marmorn los. Als Knabe bekommt Wilhelm vom Vater das +marmorne Schwert gereicht, reitet als junger Kriegsprinz +durchs Schlachtfeld von 1814 hinter lagernden Schützen, die +marmorn nach dem Innenportal der Kirche zielen, ratschlagt +mit Bismarck und Moltke zwischen stilisierten Blumen über +einer Feldzugskarte und sitzt marmorn zwischen Sohn und +Enkel, sich huldigen zu lassen. Von den vielen +Kirchenfenstern ist zu sagen, daß fast unter jedem der +Stifter leserlich verzeichnet steht. Viel Prinzen sind +darunter, aber auch Städte und einzelne Mäzene. Deren Enkel +können, bis diese Inschriften eines schönen Tages verlöschen +oder verschwinden, noch ein kleines Jahrhundert lang sich +ärgern, daß Großpapa und Urgroßmama etwa einen glasgemalten +lächerlichen Satan, der in roten Flammen neben dem +ruhevollen Heiland brennt, gestiftet haben. In der großen +Fensterrose bemühen gebildete kleine Propheten sich mit +ihren Spruchbändern um ein naiv mittelalterliches Benehmen +und auf dem Goldgrund der Deckenmosaiken halten strebsame +Leute mit Heiligenschein sich so katholisch, wie es ihre +protestierenden Gliedmaßen irgend zulassen. Und das alles +muß unter elektrischer Beleuchtung ein Heiland segnen. Er +hat den vornehmen Bestand aufzunehmen. Außer den Statuen +rings ein Taufbecken aus kostbarem Material, eine Ringkrone +von 5'5 m Durchmesser, eine Orgel mit einem +Prospekt in getriebenem Kupfer, 80 Registern und 4800 +klingenden Stimmen. — So, hier will ich, ehe der Wagen +weiterfährt, aussteigen, nicht um in die Kirche, sondern ins +Romanische Café zu gehen. Es ist Spätnachmittag, da ist es +noch nicht zu voll. Ich finde die alten Münchner und Pariser +Freunde. Fahrt ohne mich weiter, ihr richtigen Fremden! diff --git a/07-die-palaeste-der-tiere.rst b/07-die-palaeste-der-tiere.rst new file mode 100644 index 0000000..e643c79 --- /dev/null +++ b/07-die-palaeste-der-tiere.rst @@ -0,0 +1,195 @@ +.. include:: global.rst + +DIE PALÄSTE DER TIERE +===================== + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`A`\ uf einem Wege, der durch den Tiergarten nach +Charlottenburg führte und den zu passieren es besonderer +Erlaubnis und des Schlüssels zu einem Schlagbaum bedurfte, +weil man auf diesem Wege das Chausseehaus umging und die +daselbst zu entrichtende kleine Abgabe ersparte«, lag in den +zwanziger Jahren die Königliche Fasanerie, so erzählt Eberty +in seinen Erinnerungen eines alten Berliners. Diese +Fasanerie war von Friedrich dem Großen im Jahre 1742 durch +seinen Oberjägermeister angelegt worden. Hundert Jahre +später wurde ihr Gelände auf Anregung des berühmten Zoologen +Lichtenstein zur Anlage eines Zoologischen Gartens benutzt. +Lichtenstein und Alexander von Humboldt machten König +Friedrich Wilhelm IV. den Vorschlag, diese Fasanerie und +dazu den Tierbestand der Pfaueninsel bei Potsdam dem +Berliner Publikum zugänglich zu machen. Damals lag der +neugegründete Zoo noch weit außerhalb der Stadt, und ihn zu +besuchen bedeutete für die Familien eine Art Tagesausflug. +Von drei Seiten hat ihn dann die wachsende Stadt umschlossen +und nur im Norden behütet ein Stück Tiergarten seine +Häuserferne. Aber auch da, wo ihm die Häuser dicht auf den +Leib gerückt sind und der Lärm der Hupen, das grelle Licht +der Scheinwerfer und Reklamen über seine Mauern dringt, — +man hat kaum das Portal mit den torhütend lagernden +Steinelefanten durchschritten und ist in einer andern Welt. +Um zunächst noch gar nicht von den Tieren zu reden, die doch +schließlich hier die Hauptpersonen sind, hier gibt es einen +ganz von Mummeln und Schilf bewachsenen Teich, den +sogenannten Vierwaldstättersee, an dessen Ufern man wie in +einer Sommerfrische sich bewegt, und an gewissen +Frühlingsmorgen verwandeln sich die Alleen in Kurpromenaden +der Brunnentrinker, die mit ihrem Glas Karlsbader in der +Hand ihren heilsamen Rundgang machen. Auch ein herrliches +Kinderreich ist der Zoo. Babys werden spazieren gefahren, +Jungen toben auf den Spielplätzen. Und auf der sogenannten +Lästerallee bei der Musik kann die reifere Jugend die +Grundlagen des Flirts erlernen; wenigstens war das zu +unserer Jugendzeit so. + +Von Art und Sitte der Tiere ist schon soviel erzählt und +geschrieben worden, daß ich dem nichts hinzuzufügen wage; +dagegen möchte ich gern von den merkwürdigen Behausungen +reden, die sie hier im Garten bezogen haben. Da sie nun +einmal zu unserer Lust und Belehrung Gefangene sind, ist man +darauf bedacht gewesen, ihnen ihr Gefängnis möglichst +wohnlich einzurichten. Sie sollen das Gefühl haben, in ihre +Erdhöhle, ihre Schlucht, ihren Hohlbaum, ihr Nest zu +kriechen, wenn sie in das ummauerte Verlies müssen. Der +Geier hat auch hier seinen Horst, einen echten Felsen mit +Alpenkraut und Latschenkiefern, die in den Spalten wurzeln. +Und doch sind die Felsblöcke wie Kulissen, wie +Versatzstücke. Und wie vor dem Puppentheater stehen die +Kinder vor den Eisenstäben, hinter denen der wilde Raubvogel +hockt. Ach, ihren Augen ist sein Riesenkäfig vielleicht +garnicht größer als der enge Bauer des Piepmatzes zu Hause +am Fenster. Der Zoo ist überhaupt eine Fortsetzung der +Kinderstube. Die roten und gelben Steine des Bärenzwingers, +die weißen und blauen des Vogelhauses, die gelben und blauen +des Löwenheims, sie erinnern uns an die Steinchen der +Baukästen. Zu Stein- und Holz- und Stahlbaukasten kommt noch +etwas Mosaikpuzzle, und wir haben den maurischen Stil, das +Venedig, die Tausendundeinenacht der schönen Gebäude im Zoo. + +Der hat ja neben anderm auch die würdige Aufgabe, die alten +Tierkalte der Vorzeit fortzusetzen, und so hat man denn den +Tieren Tempel gebaut: das Kamel hat seine Moschee. Ihm zu +Ehren, wenn es wohl auch nichts davon hat, ist die weiße +Wand mit einem ganz unbenutzten Gitterbalkon geschmückt, und +es überragt sie ein Turm, der oben einen Halbmond trägt. Von +da könnte der Muezzin das Abendgebet sprechen nach der +Fütterung. Einen echt altägyptischen Tempel haben die +Strauße. Wenn sie aus ihren Toren ins Freie wippen, sind sie +von Hieroglyphen und Pharaonenstatuen umrahmt. Im +Schlußstein ihrer Türen schweben die Sonnen des Heiligen +Reiches. Auf den Säulen des Eingangs bewegen sich unter +Blumenschäften Tänzerinnen, Zither- und Flötenspieler, und +der Gott mit dem Sperberkopf wandert wandentlang. In einem +Repräsentationsraum ihres Hauses, den sie selbst nie +betreten, haben die Strauße zur Erinnerung an die Heimat +zwei Memnonssäulen nebst Nil gemalt bekommen. + +Das Nilpferd aber hat sein eignes Haus. Innen ist ein +schauriges rotes Götzenheim, in dem die Kinder vor den +breiten Zwischenräumen der Gitterstäbe sich fürchten, +dahinter die unheimliche Masse sich wälzt. Von außen gesehn +ist es eine Art Badehaus aus Backstein mit einem Bassin, in +welches das Ungeheuer sich bequem gleiten läßt wie eine +dicke alte Dame. + +Dem Affen wird alles zu Turn- und Spielgerät. Um die Loggien +seines Palmenhauses mit ihrem Blumenschmuck kümmert er sich +nicht. Die überläßt er seinen Zuschauern. + +Ob sich der indische Elefant für die Mosaikdrachen +interessiert, die auf den Türen seines Palastes abgebildet +sind? Liebt das Zebra sein afrikanisches Gehöft, der Büffel +sein Borkenpalais? Dem Renntier müßte es immerhin +sympathisch sein, daß an seinem Haus der Dachzierat sich +ganz so gabelig verzweigt wie sein eignes Geweih. Und Bison +und Wisent sollten Ehrfurcht haben vor den Totemsäulen, wo +über Vogelschnäbeln Fratzengötter Frösche schlucken. + +Die weißen Mäuse wissen wohl kaum, daß auf den Fenstern +ihrer Villa schöne Glasmalereien sind. Ihnen ist der +Brotlaib, den sie durchnagen und durchwandern, mit seinen +Löchern Haus genug. Aber von den koketten Meerschweinchen +glaube ich, daß sie ihren winzigen Barockpalast genau +kennen, sie schnuppern an seinen Malachitsäulen, beäugen +seine Wölbungen. Und die Stelzvögel sind sicher stolz auf +die japanische Pracht ihres Heims, die Tauben auf die +Schiebeläden ihres Boardinghouse. Stolz sind sie auch auf +ihre Namen, die Masken ihrer Pracht: Mönchssittich, +Büffelweber, Flötenwürger, Perlbart. Aber das ist ein +Kapitel für sich |ellipsis| + +Was ist denn dort für eine leere Pagode nah bei den +möblierten Schluchten des Lamas? ‚Nur für Erwachsene‘ steht +daran, also weder für Tiere noch für Kinder. Für Erwachsene +ist auch der Musikpavillon. In dem werden am Tage Soldaten +eingesperrt, die blasen und trommeln müssen. Nachts gehen — +das hat den Kindern ein naseweiser älterer Vetter eingeredet +— die Flamingos aus dem benachbarten Teich in den Pavillon +schlafen. + +Zu den hausbesitzenden eingesessenen Tieren gesellen sich +bisweilen als Nomaden, die nur eine Zeitlang bleiben, wilde +Völker. Somalis in weißen wehenden Mänteln neigen ihre +wolligen Köpfe über die glühenden Kohlen des Lagerfeuers und +braten frischgeschlachtete Hämmel am Spieß. Tripolitaner +tanzen zu Tamburins. Inder wandeln würdig auf hochgestellten +schmalwadigen Beinen einher. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Aquarium — da fällt mir das frühere ein, das in einer +Seitenstraße der Linden lag. Ein sehr alter Onkel hatte in +der Nähe seine Garçonnière und nahm mich kleinen Jungen ein +paarmal mit in das Haus, in dem die Tiere des Meeres wohnen. +Und gerade da, wo die Tiefseefische zwischen Algen und +Korallen, Tierpflanzen und Pflanzentieren des seimig +quellenden Meeresgrundes schwammen, war ein Büfett für die +Besucher eingerichtet. Und da aß ich mit Schauer eine +unterseeische Schinkenstulle, und der Onkel trank Bier, das +hinter seinem Glase wallte wie der Met, den Thorr bei den +Riesen aus dem Weltmeer geschänkt bekommt. + +Während dies alte Wassertierreich etwas Höhlenhaftes, +Irrgartenähnliches hatte mit Überraschungen und Abenteuern +wie das ‚Tierleben‘ seines Begründers Brehm, ist das heutige +hier am Zoo ein aufrechtes, übersichtlich gegliedertes +Gebäude, dessen Stockwerke ungefähr den drei Elementen +Wasser, Erde und Luft entsprechen: Erdgeschoß Aquarium, +erster Stock Terrarium, zweiter Insectarium. Und alle Wesen +wohnen, schwimmen und kriechen um Gestein, Sand und Pflanze +ihrer Heimat, die in Schaubehälter und Glasbecken +eingefangen ist. Ein hoher Mittelraum ist als halbtrockner +Nil oder Rio Grande ausgestattet, und von einer Brücke aus +Bambusstäben kann man zusehen, wie die Krokodile aus +seichtem Wasser auf ihre tropisch warme Sandbank kriechen. +Die Echsen bewohnen ihren Karst, die Klapperschlange ihr +trocknes Stück brasilische Erde. Für das Behagen der +Riesenschlange ist durch künstliche Südsonne gesorgt. Nicht +minder heimatlich haben es die Kleinen und Kleinsten. Der +Helgoländer Hummer haust in echt Helgoländer Gestein, die +Forelle in einem Gebirgsbach, der über Geröll plätschert. +Die Biene arbeitet in ihrem Stock, dem Heimchen ist ein Herd +gemauert und der Schabe ein echter Küchentisch mit +schmutzigem Geschirr hingestellt. Der Scarabäus findet +Kuhmist vor, um daraus die Kugelpillen zu drehen, in denen +seine Eier Larven werden sollen. ‚Seegras, Seerose und +Seegries‘ wie für Christian Morgensterns Hecht vom heiligen +Anton wachsen in bewellten Algengefilden. Sogar Seegurken +gibt es, und unter den Seenelken ist eine mit wachsweißen +Blütenblättern wie eine Chrysantheme, die durch Zauber zu +einem gierig schlängelnden und langenden Tier geworden ist; +manche Frau könnte sie gut statt der harmlos fallenden +Stoffblume am Kleide tragen. + +Aber am schönsten ist es im reinen Fischreich, wo +papierdünne Flossenblätter ihre Kiemenfächer regen, wo die +großen Welse mitBartfäden tasten, wo das Seepferdchen den +knochenzarten Kopf neigt, wo wechselnde Farben und wandernde +Muster alle Kunstgewerblerphantasie überbieten, wo man +Chanchito und Cichlide, Goldorf und Güster, Olm und Ukelei +heißt. Da findet der Liebhaber auch die erstaunlichen +Schleierschwänze, eine Zierfisch-Zuchtrasse, die mit ihrem +bunten Schleppgewand in der Freiheit gar nicht leben könnte, +so vornehm ist sie. diff --git a/08-berlins-boulevard.rst b/08-berlins-boulevard.rst new file mode 100644 index 0000000..abe0419 --- /dev/null +++ b/08-berlins-boulevard.rst @@ -0,0 +1,328 @@ +.. include:: global.rst + +BERLINS BOULEVARD +================= + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`D`\ ie Tauentzienstraße und der Kurfürstendamm +haben die hohe Kulturmission, den Berliner das Flanieren zu +lehren, es sei denn, daß diese urbane Betätigung überhaupt +abkommt. Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät. +Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei +Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Caféterrassen, +Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben +werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer +neuen Buches ergeben. Um richtig zu flanieren, darf man +nichts allzu Bestimmtes vorhaben. Und da es nun auf der +Wegstrecke vom Wittenbergplatz bis nach Halensee soviel +Möglichkeiten, Besorgungen zu machen, zu essen, zu trinken, +Theater, Film oder Kabarett aufzusuchen gibt, kann man die +Promenade ohne festes Ziel riskieren und auf die ungeahnten +Abenteuer des Auges ausgehn. Zwei große Helfer sind Glas und +künstliches Licht und dies letztere besonders im Wettstreit +mit einem Rest Tageslicht und Dämmerung. Da wird alles +vielfacher, es entstehen neue Nähen und Fernen, und die +glückhafte Mischung, + + | :smallerfont:`‚où l'indécis au précis se joint‘.` + +Die aufleuchtenden und verschwindenden, wandernden und +wiederkehrenden Lichtreklamen ändern noch einmal Tiefe, Höhe +und Umriß der Gebäude. Das ist von großem Nutzen, besonders +an Teilen des Kurfürstendamms, wo von der schlimmsten Zeit +des Privatbaus noch viel greulich Getürmtes, schaurig +Ausladendes und Überkrochenes stehngeblieben ist, das erst +allmählich verdrängt werden kann. Diese schrecklichen +Zacken, Vor- und Überbauten der ‚Geschwürhäuser‘, wie wir +sie früher zu nennen pflegten, verschwinden hinter den +Reklamearchitekturen. Den Fassaden der Paläste mit den zu +hohen Gesellschaftsräumen nach der Straße und den dunklen +Hinterräumen fürs Privatleben rückt man zunächst durch +Ladeneinbauten zu Leibe, die das Erdgeschoß großzügig +vereinfachen. Immer neue Läden entstehn, da die großen +Geschäftshäuser der City hier ihre bunteren moderneren +Filialen gründen und die schönsten Detailgeschäfte sich +ihnen anschließen. Da ergeben sich für Glas, Metall und Holz +neue Aufgaben und in das frühere Berliner Grau und Fahlgelb +kommt Farbe. Und sobald eins der Häuser baufällig oder +wenigstens reparaturbedürftig wird, schneidet ihm die junge +Architektur den Bubenkopf einer einfachen linienklaren +Fassade und entfernt alles Gezöpfte. Vor vielen Cafés gehen +die Terrassen weit auf das Trottoir hinaus und machen Haus +und Straße zu einer Einheit. Eins hat sogar schon in Pariser +Art Kohlenbecken für die kalte Jahreszeit hinausgestellt, um +diese Einheit auch im Winter nicht zu unterbrechen. + +In diesem südlicher gewordenen Leben unseres Boulevards +zeigt sich auch, was Wilhelm Speyer in seinem +neuberlinischen Roman ‚Charlott etwas verrückt‘ die Ansätze +zu einem demokratischen Großstadtfrohsinn nennt. »In den +Gliedern dieser einst so ungelenken Stadt,« sagt er, »dieser +Stadt voll protestantischer Staats- und Militärphilosophie, +zuckte ein anglimmendes Feuer. Ein Wille zum Leichtsein, +zumal in den Frühlings- und Sommermonaten, begann dem Leib +der Metropole die ersten, nicht mehr ganz unbeholfenen +Bewegungen mitzuteilen. Sogar die Polizeibeamten hatten +gelernt, zuweilen zu lachen, wenn es Verwirrung gab. Sie +brüllten nicht mehr mit gesträubten Schnurrbarthaaren auf +umgestülpter Lippe. Es waren großgewachsene, mit den +Gebärden ihrer deutenden Arme hochaufgereckte, +disziplinierte und dennoch im alten Sinne unmilitärische +Gestalten. Die froh und frei bewegte täglich zunehmende +Schönheit der Frauen und Kinder aller Stände stand außer +Zweifel. So also zerstörte die große Stadt die Schönheit +nicht, sondern sie erweckte sie, sie förderte sie und ließ +sie strahlend gedeihen. In den Straßen wurde nicht mehr der +sauere Bürger mit der allzu abgebürsteten Kleidung und der +allzu gründlich gesteiften Wäsche sichtbar. Der +Kleidungssinn war weniger dramatisch, war demokratischer und +daher eleganter geworden.« + +Im neuen Westen ist es für den Flaneur interessant zu +beobachten oder zu spüren, in welchen Richtungen der +Verkehr, derber, berlinischer gesagt, der Betrieb, +intensiver oder schwächer wird und wie eine Straße der +andern, ja oft in derselben Straßenflucht ein Teil dem +andern das Leben wegsaugt. Die Tauentzienstraße, die doch +die genaue Fortsetzung der Kleiststraße ist, hat diese ganz +leer und still gemacht Das letzte Stück Kleiststraße +zwischen der Lutherstraße und dem Wittenbergplatz ist der +deutliche Übergang. In diesem Teil hat man das Gefühl, +bereits in der Tauentzienstraße zu sein. Das kann nicht nur +daran liegen, daß hier die Häuser sich modernisieren, es muß +ein sozusagen unterirdisches Gesetz der Stadt sein. Die +Lutherstraße hat einen stillen Teil, der genau bis zur Ecke +der Augsburgerstraße reicht, von wo ab rings um die Scala +starker Verkehr ist. Man kann Gründe dafür finden. Auf der +einen Seite dieses Teils sind eine Reihe Privatvillen mit +Gärten aus älterer Zeit. Aber warum ist denn auch die +gegenüberliegende Seite still geblieben? Der Kurfürstendamm +hat der Kantstraße, die an der Gedächtniskirche von ihm +abzweigt und dann weiterhin mit langsam wachsender +Entfernung auf annähernd gleicher Höhe mit ihm verläuft, den +Verkehr weggenommen. Anfangs versucht die Kantstraße noch, +es ihm gleichzutun, hat ein bißchen Kino und Theater, aber +schon ehe sie den Savignyplatz erreicht, gibt sie den +Wettkampf auf und wird weiterhin kleinbürgerlich. Es gibt +also nicht nur den bekannten Zug nach dem Westen, der die +Reihenfolge von Geschäftsviertel und Wohnviertel in einer +Richtung weiterschiebt, sondern viele Sonderwege des +Verkehrs. Es gibt Ansätze, die nach einer Strecke Weges +wieder aussetzen, und andre, die glücken. Grundstück- und +Häuserspekulation muß eine der merkwürdigsten Mischungen aus +Hasardspiel und Spürsinn sein. + +Die Ringbahnbrücke am Ende des Kurfürstendamms führt in die +Kolonie Grunewald. Ehe da die Villen und Gärten beginnen, +erleben wir noch eine Strecke volkstümlicher Vergnügungen +mit Kinos, Tanzsälen und vor allem — den Lunapark. Dieses +bemerkenswerte Etablissement faßt zusammen, was auch in +anderen Großstädten von sogenannten Lunaparks, *Magic +cities* und dergleichen verlangt wird, mit dem besonderen +Bedürfnis des Berliners nach dem Rummelplatz. Dies Bedürfnis +ist alt. In seinem ‚Alt-Berlin im Jahre 1740‘ beschreibt +Consentius die Sommerwirtschaften an der Spree in der Gegend +des jetzigen Schiffbauerdamms, ihre Irrgärten, ihre +Karussells mit Ringestechen, ihre Schaukeln, ‚Weiffen‘ +genannt. Solch eine Weiffe war, wie Consentius nach alten +Texten zitiert, »ein gemachter hölzerner Löwe mit einem +ledernen Sattel, darauf setzet sich eine Mannsperson, welche +sich von 1 oder noch besser von 2 andern hin und her stoßen +lässet, solange, bis er so hoch getrieben wird, daß er 5 +oder 6 Kugeln einwerfen kann in einen darzu aptierten +Beutel, welcher ohngefähr 6 Ellen oder 2 Mann hoch stehet, +eine Frauensperson kann sich auch hineinsetzen und sich pro +lubitu weiffen und ziehen lassen«. Auch von dem Fortunaspiel +berichtet er, es ist »an der Erde von Holz gemacht, hat 9 +Löcher, das Loch in der Mitte gewinnet, denn eine Fortuna +steht hierüber gemalet«. Viel lustige Bilder +veranschaulichen uns die Zeit des Tivoli am Kreuzberg um +1830. Da taucht zum erstenmal die Kreisfahrbahn, genannt +Rutschbahn, auf. Topfbäumchen stehn am Geländer der Bahn, +die Karren haben Plüschtroddeln, und drin sitzt breitbeinig +die dicke Berliner Madam und ruft dem bemühten mageren +Gatten zu: ‚Brennecke, halte mir, mir wird schwimmlich!‘ Und +so gehts weiter bis auf unsre Tage. Überall in den +Vorstädten, wo Häuserlücken klaffen, füllt eine Zeitlang ein +Rummelplatz mit seinen Schießbuden, Glücksrädern, +Tanzplätzen auf Holzscheiben, großen Wurstwettessen und so +weiter die Leere aus. + +Hier im Lunapark ist das nun alles moderner und in größerem +Maßstab geboten. Über den Luftschaukeln, dem Eisernen Meer, +der Berg- und Talbahn, der Kletterbrücke leuchtet abends ein +Riesenfeuerwerk, ein Halensee in Flammen, das es mit dem +flammenden Treptow und andern brennenden Dörfern des +Vergnügens aufnehmen kann. + +‚Heiße Wiener‘ und ‚Lublinchen‘ haben ihre Buden. +‚Schokolade, Keks und Nußstangen‘ werden ausgerufen, aber +man kann auch vornehm auf Terrassen speisen. Ganz Berlin +kommt hieher, kleine Geschäftsmädels und große Damen, Bürger +und Bohemiens. Lunapark ist ‚für alle‘. Neuerdings gibt es +da noch eine besondre Attraktion, das große Wellenbad, wo +man bis tief in die Nacht plätschern kann. + +Wo dann Halensee in Sankt Hubertus und Hundekehle übergeht, +beginnt die schöne Kolonie Grunewald, an die der Forst viele +von seinen schmalen Kiefern und Föhren abgegeben hat, die +nun inmitten gepflegter Büsche und Blumenbeete noch ein +wenig Wald als Erinnerung bewahren. + +Früher war es ein weiter Weg bis in den Grunewald, eine +Landpartie wie nach Tegel oder Grünau, jetzt wohnen dort +eine Reihe Wohlhabender und Prominenter. Und wir andern sind +manchmal zu Besuch im Grunewald, steigen aus Trambahnwagen, +die umständlich und eingeschüchtert zwischen sanft +gleitenden Privatautos ihren Schienenweg entlang rütteln, +gehn ein paar Gartenstraßen hinauf, hinab und dürfen in die +musikalische Teegesellschaft im Hause des jungen Künstlers +und Kunstfreundes, in dessen Sippe seit mehr als hundert +Jahren Kunst und Bankwesen angenehm verschwistert und +verschwägert sind, oder in eine Abendgesellschaft bei dem +großen Verleger, der die Vorkämpfer von 1890 mit denen von +1930 in seinem Hause und Herzen vereinigt. + +Um heute Wald im Grunewald zu finden, müssen wir schon ein +gut Stück weiter, etwa an die Krumme Lanke oder nach +Paulsborn. Da gibt es hübsche Nachmittagswege, die einem das +nötige Heimweh nach dem Abend an unserm Boulevard machen. +Und so finden wir wieder den Weg zurück, den wir gekommen +sind. Neben der Aufforderung, durch Elida schön zu sein, +Frigidaire und Elektroluxe zu kaufen, mahnen uns Plakate +‚Und abends in die Scala‘. Wir gehorchen und begeben uns in +das berühmte Varieté an der Grenze des alten und jungen +Westens. + +Wenn du dort von deinem Parkettsitz hinaufsiehst in den +blauen weißbewölkten Himmel der Deckenmalerei, bemerkst du +eine Reihe heller Scheiben, aus denen im Staubtrichter +Lichtkegel auf die Artisten fallen. Über den Balkonlogen +sind beleuchtete Metallapparate zu sehn und in dem +Bühnenrahmen Öffnungen wie Schiffsluken. Ich bin einmal zu +dem gegangen, der all diese Lichtquellen, das Rampenlicht +und die Kronleuchter des Saals verwaltet. Statt Regisseure +und Stars zu interviewen, habe ich den Beleuchtungsmeister +und seine Getreuen aufgesucht. Er hat mich in seinem +Hauptquartier empfangen bei den Apparaten seines +Schaltraums. Da werden Rampen und Saalkronleuchter im +Wechsel hell und dunkel gemacht. Von dort gehen Drähte zu +den Regulierwiderständen und Telephone zu der Mannschaft +dieses Lichtkommandanten. Dann sind wir heimliche Treppen +hinaufgestiegen, erst in die Kammer der Widerstände, dann +weiter durch das hölzerne Chaos des Dachbodens zu den +‚Brücken‘. So heißen die Arbeitsräume der Mannen an den +Scheinwerfern, die um die Bewegungen der Artisten den +mitwandernden Lichtkreis schaffen. Und während wir +herumspazierten, beschrieb er mir, wie der Vorhang hinter +den Künstlern rot, schwarz und elfenbeinern auf ihre Kostüme +und Nummern abgestimmt wird, wie Schatten unter den Augen +und Entstellungen vermieden werden, wie vor jedem Programm +lange beraten wird und dann eine Generalprobe fürs Licht +stattfindet, bei der er unten neben dem Kapellmeister sitzt +und mit seiner Schar da oben telephoniert. + +Auch hinter die Szene bin ich über den Hof, aus dem man +hinter einem verwilderten Garten unser Pantheon, den +Wilmersdorfer Gasometer, sieht, gekommen zu den verständigen +Leuten, die das törichte Künstlervolk beaufsichtigen, den +Strippenziehern, die es dem Clown ermöglichen, scheinbar die +Kugeln vom Gestell zu schießen. Hier walten, dem Publikum +unsichtbar, Hände, die Reifen und Flaschen zuwerfen und +abfangen, und gelassene Männer in Arztschürzen und +Arbeiterblusen, die das zu laute Geschwätz der Girls +dämpfen; sie sollen erst toben, wenn sie draußen auf der +Bühne wie Kinder im Freien sind. Und sind die Kinder +draußen, werden sie noch weiter verwaltet von den +Erwachsenen, die mir vorkommen wie die wahren Akteure des +Schauspiels. Sie schieben den Spielenden neues Gerät zu, +wenn das vorhandene keinen Spaß mehr macht, sie halten den +Hintergrundvorhang an Seilen zurück, damit die Bälle der +Unvorsichtigen nicht anprallen. Und wenn sie dann pustend, +erschöpft und schwitzend ankommen, die eitlen talentvollen +Kinder, die immer des Guten zuviel tun, werden sie +abgetrocknet und eingemummelt von den Hütern. + +Beachte auch einmal die sichtbaren Helfer und Hüter, die +ebenfalls nicht auf dem Programm stehn, wie sie sich +aufopfern. Den bunten Wunderjongleur, den grotesk angezognen +musikalischen Clown begleitet ein ernster Herr im +Straßenanzug. Er macht selbst ein paar Tricks, die eine +gewisse klassische Vollkommenheit haben, aber nur, um die +neuen seines Gefährten zur Geltung zu bringen, er hat seine +liebe Not mit dem Gesellen, der soviel glitscht und purzelt, +er muß achtgeben, daß der andre nicht heimlich an die +Sektflasche geht, er hat Sorgfalt mit Gegenständen, die der +Verwöhnte wegschmeißt. Er läßt sich lächerlich machen, +besudeln, quälen und wendet sich immer wieder ohne Groll mit +leidendem und stolzem Lächeln zu dem Publikum, und seine +Handbewegung entfesselt Beifall für den andern. Als +Gebrauchsmännchen, als Drohne, begleitet er die starke Frau +und ist ihr leichter Kavalier. Ehe sie sich an die Arbeit +macht, soupiert sie mit ihm. Kurioses Souper: kaum hat sie +einen Bissen gegessen, einen Schluck getrunken, so lüstet es +sie schon, Tischbeine und Stühle zu stemmen und aus allem +Gerät Hanteln zu machen. Da muß der Kavalier, der +Frauenlaunen kennt, rasch Gläser retten, Teller räumen +und dabei möglichst lange die Dehors des glücklichen +verliebten Zechers wahren. Eh er sichs versieht, wird er am +Schlawittchen gepackt und in die Lüfte gewirbelt, und auch +dabei darf er die Fassung nicht verlieren und muß weiter +lächeln. Zuletzt gerät er ganz oben auf den Flügel, den die +Gewaltige sich auf den Busen setzt, um darunter mit +Nachtigallenstimme ‚Still ruht der See‘ zu singen. Und er da +droben legt die Hand an die Ohrmuschel und lauscht wie eine +Nymphe. + +Ganz Nymphe, Engel, Peri ist die Helferin. In gelbem Peplon +und türkischen Hosen steht sie, Standbein und Spielbein, +gelassen an der Kulisse und wartet, bis der Illusionist +ihrer bedarf, an der schwertdurchstoßenen, unheimlich +zusammengeschobenen Kiste, in der er einen jungen Burschen +untergebracht hat. Ihr Mienenspiel lenkt ab von seiner +Zauberei, die wir doch nicht durchschauen dürfen. Und die +Selbstlose lächelt nicht, um uns zu gefallen, sondern nur, +damit er uns gefalle. Sieh, jetzt ist sie selbst das Opfer +und kommt in den Kessel des Magiers, dem sie wieder +entsteigt mit dem langsamen Lächeln, das des Künstlers +Pausen füllt. + +Und jetzt die in Reiterstiefeln! Sie hat hinter der Szene +den kleinen Pudel betreut, der vor Lampenfieber zitterte. +Sie weiß, wann das ungeduldig stampfende Pony Zucker +bekommen muß und wann lieber nicht. Sie rückt die Taburetts, +hält im rechten Moment die Reifen in die Höhe und tut bei +alldem, als wärs ein Vergnügen und nicht saure Arbeit, deren +Ruhm doch nur der erntet, der da in der Mitte mit der +Peitsche knallt. Bisweilen tänzelt sie eins oder schlägt gar +einen Purzelbaum, das alles aber nur dekorativ, nur Pedal, +nur Farbfleck. + +Die Tiere kann man ja nicht ganz zu den Nebenpersonen und +Ungenannten rechnen. Arbeiten sie auch nur gezähmterweise, +so ernten sie doch einen Teil vom Ruhm ihres Herrn und sind +vielleicht sehr ehrgeizig, besonders die Seelöwen. Über die +Gefühle der Pferdchen, Bären und Elefanten erlaube ich mir +kein Urteil. Und von den Äffchen glaube ich, daß sie sich +ein wenig ärgern über den zoologischen Verwandten, der die +bessere Karriere gemacht hat. + +Ein langes und breites gäbe es von den Gegenständen im +Varieté zu sagen, den blinkenden Metallständern und +-tischen, einem Salonmobiliar, das seine Vornehmheit +preisgibt, um balanciert, geworfen und lächerlich gemacht zu +werden, dem vornehmen Diwan, der mit einmal nur noch Kiste +ist, aus der die Pirouettentänzerin steigt, den winzigen +Plüschsesselchen, die sichs gefallen lassen, daß Elefanten +auf ihnen hocken, der vergoldeten Metallbettstatt, die es +zuläßt, daß ein Clown auf ihren Goldknöpfen musiziert, den +Häkeleien der Decke, auf welcher Gläser und Messer hüpfen, +der ländlichen Bank, von der sich die Exzentriks erhoben +haben und die leer stehn bleibt wie am Hintergrund klebend, +während sie vorn agieren. Und dieser Hintergrund selbst, die +gemalten Kandelaber auf der Salonwand und die heroische +Landschaft, alle haben sie den Reiz der unbeachteten Dinge, +die selbstlos die andern, die zielbewußten, zur Geltung +bringen — im Varieté mehr als irgendwo sonst. diff --git a/09-alter-westen.rst b/09-alter-westen.rst new file mode 100644 index 0000000..4ec1c26 --- /dev/null +++ b/09-alter-westen.rst @@ -0,0 +1,189 @@ +.. include:: global.rst + +ALTER WESTEN +============ + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`D`\ er alte Westen — vom Tiergartenviertel +abgesehen, das zwar auch viel gelitten, aber doch +durchgehalten hat — der alte Westen hat verloren, wie man +von Schönheiten sagt, die aus der Mode gekommen sind. ‚Man‘ +wohnt nicht mehr im alten Westen. Schon um die +Jahrhundertwende zogen die wohlhabenden Familien fort in die +Gegend des Kurfürstendamms und später noch weiter bis nach +Westend oder Dahlem, wenn sie es nicht gar bis zu einer +Grunewaldvilla brachten. Aber manche von uns, die im alten +Westen Kinder waren, haben eine Anhänglichkeit an seine +Straßen und Häuser, denen eigentlich nicht viel Besondres +anzusehn ist, behalten. Uns ist es ein Erlebnis, eine der +Treppen hinaufzusteigen, die ehedem zu Freunden und +Verwandten führten. Es haftet soviel Erinnerung sowohl an +den nüchtern gediegenen Aufgängen mit braunem Holzgeländer, +farbloser Wand und den graugeritzten Gestalten im +Fensterglas als auch an gewissen Palasttreppen mit steil zu +ersteigendem Hochparterre, falscher Marmorwand und pompöser +Glasmalerei. Führt uns ein Anlaß oder Vorwand — zum +Beispiel, ein möbliertes Zimmer zu besichtigen — in eine der +altvertrauten Wohnungen, so finden wir unter neuer Schicht +die frühere Welt wieder: hinter verbarrikadierenden +Schränken die Glasschiebetür, die einst Salon und Berliner +Zimmer trennte, im sichtbaren schrägen Diwan den Schemen des +Flügels, der damals hier stand mit seiner Samtdecke und den +Familienphotographien. Nahe dem Fenster ist in dem ärmlichen +Topfblumengestell noch etwas von der Tropenwelt der +Zimmerpalmen geblieben. Von dem Haut-pas am Hoffenster des +Berliner Zimmers sehen wir auf den Hof mit dem blassen Gras, +das zwischen Steinen sprießt wie einst. Nur der Pferdestall +und die Wagenremise des alten Generals aus der Beletage sind +verdrängt durch eine Autoreparaturwerkstatt. + +Ein paar Häuser der alten Zeit sind noch unverändert in +Nebenstraßen der Maaßen-, Derfflinger- und Kurfürstenstraße, +die führen in Gärten ein wunderbares Inseldasein. Andre sind +trotz ihrer Gärten verkommen, im Karlsbad zum Beispiel nahe +der Potsdamer Brücke. Die eine Brunnenfigur dort im Grünen +zerfällt so sehr, daß bald ihre Trümmer fortgeschafft werden +müssen. Die ähnliche im Vorgarten des alten Familienhauses +mitten im lebhaftesten Geschäftsviertel, Potsdamerstraße +nahe der Linkstraße, ist noch ganz wohlerhalten, obgleich +schon eine Zeitung mit ihrem Riesenplakat oben den +antikisierenden Fries des Hauses verdeckt und im ersten +Stockwerk sich der Vorderräume bemächtigt hat. + +Alter Westen — selbst in den rauchgeschwärzten Straßen nahe +den Bahnhöfen bewahrt er noch hie und da einen Traubenfries, +eine weibliche Maske zwischen nackten Jünglingen, die, den +Thyrsusstab an der Schulter, auf Ranken hocken, eine +Türfassung wie Tempeltür, all das erbaut, modelliert in +schlechtem oder mäßigem Material von den allerletzten +Schinkelschülern, letzte Reste des preußischen +Griechenwesens. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Ehe wir in Museen und in fremden Ländern die echte Antike zu +sehen bekommen, gesellt sich beiläufig dem Großstadtkind ein +wenig Mythos aus zweiter Hand, im Elternhause etwa ein +bronzener Apoll, der von des Vaters Schreibtisch zur Tür +hinzeigt, oder im Salon eine Venusbüste, die den Marmor +ihrer Armstümpfe in düsterm Glase spiegelt: seltsame nackte +Wesen, man weiß nicht, ob sie zuschauen oder wegschauen. +Kommt das Kind ins Freie, so begegnet ihm auf Schulweg oder +Spaziergang bald ein und das andre Wesen dieser wartenden +Welt. Hinter einem Gartenzaun hebt eine Flora Kranz oder +Schale. In einer Türnische schänkt eine Hebe aus einem Kruge +Unsichtbares. Auf der Freitreppe vor der Kohlenhandlung +steht, das rechte Knie vorgeschoben, in schmiegendem +Faltenkleid eine der vielen Grazien, die etwas zu halten +oder anzubieten scheinen, das meist nicht vorhanden ist. Von +uns älteren Kindern des Berliner Westens erinnert sich +mancher vielleicht noch an die vier oder sechs Musen, die in +einem Vorgarten der Magdeburgerstraße standen. Sie sind +inzwischen verschwunden. Bruchsteinern standen sie da und +hielten artig, soweit sie noch Hände hatten, ihre Kugel oder +ihren Stift. Sie verfolgten mit ihren weißen Steinaugen +unsern Weg, und es ist ein Teil von uns geworden, daß diese +Heidenmädchen uns angesehen haben. + +Ob es wohl noch irgendwo im Tiergarten den bärtigen Apoll +gibt, der damals auf einem Spielplatz, den ich jetzt nicht +mehr finde, stand? Wir haben gegen seine Hinterseite, da, wo +sie den stützenden Stumpf überragte, Prallball gespielt. Das +war nicht ehrerbietig, hat aber eine Beziehung hergestellt. + +An unserm Wege geblieben sind mancherlei Sphinxe, die vier +zum Beispiel, die auf der Brücke sich wegwenden von den +beiden Taten des Herkules, welche auf mittlerer Brückenhöhe +geschehen. Sie tragen sanft jede ein Kind mit Füllhorn auf +dem Rücken und lassen die Autobusse vorübergehen. Die +Herkulesse der beiden Taten sind etwas beunruhigend. Sie +stehen so, daß man immer in Sorge ist, sie selbst oder ihre +Gegner, der Löwe und der Zentaur, könnten ins Wasser fallen, +wenn sie es weiter so treiben. Die Sphinxe hingegen sind +beruhigend. Rätsel geben sie nicht auf. Eine noch harmlosere +weiß ich über dem Portal eines Hauses, das der Mauer des +zoologischen Gartens gegenüber liegt. Die wartet wie eine +freundliche Hausmeistersfrau und hat doch Flügel und Tatzen. +Allein diese Katze gehört schon halb in die Gegend des +Kurfürstendamms und nicht mehr in die alte Welt, in der wir +bleiben wollen. Wir finden zurück in stillere Straßen, und +angesichts kleiner Kapitelle an den verschiedenen Etagen +einiger Häuser fällt uns der erste Unterricht über +Säulenarten ein, den uns bei einem Spaziergang der Vater +oder der ältere Bruder gab: er lehrte uns den dorischen +Fladen, die ionische Schnecke und den korinthischen Kelch +mit seinen vielerlei Blättern unterscheiden. Und fortgesetzt +wurde diese Vorschule vor ganzen Säulenhallen, wenn man bis +unter die Linden kam und vom Brandenburger Tor bis zum +Opernhaus und zur neuen Wache vordrang. Kam man aber nur bis +zu den Tortempelchen am Leipziger Platz, gab es in nächster +Nähe wieder etwas wenig Beachtetes zu entdecken. Ich meine, +im Rasen verteilt, die acht Sandsteingruppen, die — einst +Laternenträger auf einer längst abgerissenen Brücke — hier +im Grünen gelandet sind. Daß es Laternen sind, was sie +tragen, erkannten wir nicht, wir fanden sie nur +geheimnisvoll um undeutliche Gegenstände und um einander +bemüht. Sie haben mich immer viel mehr interessiert als die +beiden Generäle Graf Brandenburg und Graf Wrangel, welche +näher an der Straße das Interesse auf sich zu lenken suchen. +Wenn ich eine Stimme im Rat der Stadt hätte, würde eine +ganze Reihe solcher Kriegshelden und sonstig berühmten +Männer, die auf Plätzen, an Brücken und Alleen sich +vordrängen mit ihren porträtähnlichen Steingesichtern oder +Bronzeröcken, durch unbestimmte Gartengötter ersetzt, die +nicht viel anhaben. + +Nun, bis es dazu kommt, wollen wir zufrieden sein mit dem, +was wir haben, und sei es auch nur das Kleinwerk an alten +Häusern, Medaillons mit Mädchenköpfchen in reichem Haar oder +Jünglingsgesichtern unter phrygischer Mütze, kleinen Opfer- +oder Triumphzügen in Flachrelief über einer Beletage und +Putten, die zwischen Blattwerk und Arabesken über Türen oder +unter Fenstern hocken. Diese Putten waren immer besonders +vertrauenerweckend, da sie an den eigenen Knabenkörper +erinnerten. Ungewöhnlich verlockend aber wurden sie vor dem +Zeughaus, wo sie überlebensgroß zu Füßen der Riesinnen +stehen und, während die da oben nah bei ihren gewaltigen +Brüsten Belehrendes vornehmen, sich selig an die Fülle der +Gewandfalten schmiegen dürfen. + +Bekommt man solche Putten und Göttinnen nur selten zu sehen, +so gibt es doch eine andere Art mythologischer Personen, +eine ganze *Plebs deorum*, die uns häufig Gesellschaft +leistet: die Karyatiden und Atlanten. Von so gelehrten Namen +weiß das Kind nichts, es sieht Mädchen, die, unter leichter +Last in die Hauswand eingelassen, ihr kleines Kapitell als +Kopfputz tragen. Schon vom Schoß ab werden sie Mauerwerk. +Andre müssen sich mühen und ducken, um vorragendes Gebälk zu +stützen. Da wechseln die Arme, bald wird der rechte, bald +der linke gebraucht und die freie Hand ruht auf dem Knie. +Bärtige Männer schleppen das Haus auf erhobenen Armen und +mit dem Nacken. Jünglinge stemmen die eine Schulter unter +den Torbogen und strecken den Arm dem Nachbarn hin über ein +Löwenhaupt. Manche haben wirklich schwer zu schleppen und +schlagen gewaltige Bauchfalten, andre scheinen die Mühe +etwas zu übertreiben und machen mehr Muskelspiel als +erforderlich. + +Während diese Männer und Weiber im Freien ihr Wesen treiben, +erwarten uns bei seltenen festlichen Gelegenheiten einige +von ihnen in geschlossenen Räumen. Man wird mitgenommen, um +den Freischütz oder die Zauberflöte zu hören und sieh, da +tragen die weißen Freundinnen von der alltäglichen Straße +feierlich die Brüstungen des Zuschauerraums. Und in einem +andern Kunsthause stehen zwei, die ich immer besonders +geliebt habe, mühelos aufrecht unter ihrer Last wie ihre +Vorbilder im Tempel zu Athen. Das sind die beiden an der +großen Orgel der Philharmonie, die sich rechts und links von +dem filigranenen Gitterwerk des mächtigen Musikheizkörpers +erheben. Sie halten Leiern in den Händen, ohne +hineinzugreifen, und schauen leeren Gesichts geradeaus. Und +all unser Gefühl konnte in die Hülsen ihrer Gesichter +eingehen, wenn die Wasser der Musik uns zu ihnen +emportrugen. Wohl gibt es da näher als diese gestrengen +Göttinnen zwei christliche Engel, die mit belasteten Flügeln +unter der Saalwölbung sich ducken und viel entgegenkommender +auf uns heruntersehen, wir aber bleiben den fernen +Heidenfrauen treu. diff --git a/10-tiergarten.rst b/10-tiergarten.rst new file mode 100644 index 0000000..011e83a --- /dev/null +++ b/10-tiergarten.rst @@ -0,0 +1,157 @@ +.. include:: global.rst + +TIERGARTEN +========== + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`H`\ erbstsonntag. Dämmerung. Die Erde dampft ein +wenig, nicht so feucht wie Feld, mehr wie Kartoffelacker. +Auf den vielen, vielen ins Halb- und Ganzdunkel verstreuten +Bänken an den schlängelnden Pfaden sitzen Liebespaare. +Manche scheinen mir noch ein bißchen ungeschickt in der +Liebkosung, sie könnten von einem Pariser Arbeiter, der sein +Liebchen streichelt, lernen. Manche haben für ihre +Zweieinsamkeit eine ganze Bank erwischt, aber auch die, +welche mit andern Pärchen teilen müssen, lassen sich nicht +stören. + +Ich suche nach dem bärtigen Apoll unsres Kinderspielplatzes. +Von dem habe ich übrigens inzwischen gelernt, daß er aus dem +achtzehnten Jahrhundert ist, ursprünglich vor dem Potsdamer +Stadtschloß, dann vor dem Brandenburger Tor stand. Er kommt +sogar im Baedeker vor, wenn auch nur kleingedruckt. Ich +finde ihn nicht, ich gerate an den Goldfischteich. Das +Dreimusikerdenkmal da am Ende mit seinen Halbfiguren in den +Nischen lasse ich weitab liegen und gehe zu den Putten in +den natürlichen, von Buschwerk gebildeten Nischen. Da ist +ein Merkurbübchen mit Flügelkappe und Schlangenstab, der +seine winzige nackte Landwirtin, die eine Garbe zu halten +scheint, streichelt. Das bedeutet gewiß den Bund von Handel +und Landbestellung. Am Ufer gegenüber finde ich einen Putto +mit preußischer Pickelhaube und einer Art Seitengewehr bei +einem Mitmännlein, das von ihm weg Tuba bläst. Die beiden +erinnern an reizende Allegorien der Porzellanmanufaktur. +Einer dritten Gruppe fehlt zuviel von den Armen, als daß ich +erriete, was sie hielten und bedeuteten. Sie sind besonders +schön, so wie sie sind. Das soll kein ästhetisches Urteil +sein! Mit Ästhetik komm ich nicht weiter, muß es auf andre +Art versuchen. + +Durch einen Seitenweg schimmert von der Siegesallee herüber +ein Stückchen Markgraf. Ich laß es von fern locken, werde +mich wohl hüten hinüberzugehn zu den unglücklichen +Zweiunddreißig mit der wechselnden Beinstellung. Wieder ein +Busch und ein Sandsteinpärchen, sie mit Flachs versehn, er +auf ein Rad gestützt. Steuermann? Preußische Seehandlung? + +Und hier führt ein Weg vom Teich fort zu dem Rasenrund, auf +dem Tuaillons Amazone, eine größere Nachbildung des +Originals vor der Nationalgalerie, ruhevoll und gespannt zu +Pferde sitzt, die erste Berlinerin, die den Rücken in +korsettlos sanfter Biegung gehalten hat im Gegensatz zu +ihrer fürstlichen Zeitgenossin, die nicht weit von hier +eingeschnürt, in immer schlimmer werdendem Hut, bei den +Blumen des Rosengartens auf Abholung wartet. + +Ich gehe weiter ohne bestimmte Richtung, weiß nicht, ob ich +zur Rousseau- oder zur Luiseninsel kommen werde. Und +glücklich verirrt, steh ich mit einmal vor dem Apoll, den +ich nie wiedergefunden habe seit Jahren. Ich sehe ihn im +Profil. Mondlicht bewegt die Hand, mit der er in seine +steinerne Leier faßt. Er hat eine kräftige Art, zuzugreifen, +nicht distinguiert klassizistisch, sondern wie von alters +her, er braucht sich keine Mühe zu geben, Antikisches zu +tun, er kann noch Barock, der gute Gartenmusikant unseres +Spielplatzes. Aber Spielplatz ist hier nicht mehr. + +Immerhin ist es jetzt im veraltenden Halbdunkel noch so +buschig und labyrinthisch hier wie vor dreißig, vierzig +Jahren, ehe der letzte Kaiser den Naturpark in etwas +Übersichtlicheres, Repräsentativeres umschaffen ließ. Daß +auf seinen Befehl das Unterholz gelichtet, viele Wege +verbreitert und die Rasenflächen verbessert wurden, ist +verdienstlich, aber darüber sind dem Tiergarten gewisse +intime Reize verlorengegangen, eine holde +Kinderstubenunordnung, Zweigeknacken und das Rascheln vieler +nicht gleich weggeräumter Blätter auf engen Pfaden. Aus +dichterem Laub tauchten damals die Teiche auf. Und an +Denkmälern gab es nur die wenigen freundlichen Marmorleute +wie etwa den Herrn von Goethe, dem es anzumerken ist, daß er +sich hier nur vorübergehend aufhält, um einen neuen Umwurf, +eine Art preisgekrönten Domino, anzuprobieren und dem +Unterricht beizuwohnen, den griechisch gekleidete Fräulein +aus seinen Dichtungen kleinen Knaben erteilen — oder den +guten Friedrich Wilhelm, der auf die Luiseninsel schaut. Er +soll schon hingesehn haben, eh dort seiner Luise das Denkmal +errichtet wurde, das alle Kinder lieben. Kenner haben uns +belehrt, daß des Königs Gestalt und Gewandung besonders +genau und gründlich ausgeführt sei. Es fehlt nicht einmal +der Riester am Stiefel des sparsamen Monarchen, der +bisweilen geflicktes Schuhwerk getragen haben soll. + +Bei dieser Gelegenheit will ich einiges anbringen, was ich +aus der Geschichte des Tiergartens gelernt habe. Geschenkt +hat laut einer Urkunde von 1527 den Platz die Gemeinde Cölln +an der Spree dem Kurprinzen Joachim dem Jüngeren ‚zur +Anrichtung eines Thier- und Lustgartens‘. Noch unter dem +Großen Kurfürsten reichte der Tiergarten mit seinem starken +Wildbestand bis zum heutigen Gendarmenmarkt, und der +sogenannte kleine Tiergarten umfaßte ganz Moabit und die +Gegend des Wedding. Allmählich griffen dann Dorotheen- und +Friedrichstadt in das Waldgelände ein. Eine große Allee +wurde angelegt nach dem Schloß der Königin Sophie Charlotte. +Und es begann die Umwandlung des Jagdreviers in einen +Lustwald. Der Plankenzaun fiel, der einst das ganze Gebiet +umgab. Der Große Stern entstand und die Alleen, die von ihm +abzweigen. Friedrich der Zweite ließ diesen Platz mit +geschnittenen Hecken und pyramidal gestutzten Buchen +umgeben. Über ein Dutzend Statuen kamen darauf, aber keine +Markgrafen, sondern Pomonen, Floren, Ceres, Bacchus und +ihresgleichen. Das Volk nannte sie die Puppen, und den +weiten Weg zu ihnen nannte es ‚bis in die Puppen‘. Vom +Goldfischteich habe ich gelesen, daß er noch Karpfenteich +hieß, als E. Th. A. Hoffmann daselbst seinen geliebten Kater +Murr verscharrte. Vielleicht lächelte damals noch die Göttin +des großen oder Venusbassins auf ihren Cupido nieder wie zur +Zeit, als hier der junge Philipp Hackert seine ‚Aussichten‘ +malte. Nicht weit vom Großen Stern legte Knobelsdorff sein +Labyrinth an, einen Irrgarten, aus dem sich der Poetensteig +schlängelte, von welchem noch ein Ausläufer erhalten ist in +dem Pfad, der zum Denkmal Friedrich Wilhelms führt. + +Um 1790 entstand nach dem Vorbilde der Stätte, wo Jean +Jacques bestattet worden, in einer sumpfigen Partie des +Parkes die Rousseauinsel, unsere Rousseauinsel, um die wir +ruderten und Schlittschuh liefen und sie bei ihrem Namen +nannten, lange ehe wir wußten, von wem sie ihn hatte. Villen +und Landhäuser näherten sich dem Park, das gastfreie Haus +des Jacob Herz Beer, der Meyerbeers Vater war, und Ifflands +schönes Gartenheim. In der werdenden Tiergartenstraße wohnte +Schleiermachers Freundin Henriette Herz. Eine bekannte +Karikatur der Zeit läßt sie mit Schleiermachers Kopf im +Ridikül am Tiergartenrand spazieren gehn. Unterschrift: ‚Die +Hofrätin Herz hat sich einen Ridikül angeschafft.‘ Der Park +selbst war damals noch recht verwildert, nur die sogenannten +englischen Partien wurden gepflegt. Systematisch +umgeschaffen hat den Tiergarten erst Lenné in den dreißiger +Jahren. Doch ließ er noch kleine Wildnis genug, die bis in +unsere Kindertage blieb. An diese Zeit erinnern mich am +meisten die winzigen hochgeschwungenen Brückenstege über +den Bächen, die manchmal bewacht sind von munteren +Bronzelöwen, denen von Maul zu Maul Geländerketten hängen. + +Und ganz wie damals ist oder scheint mir der Neue See. Es +wird zu spät, heut hinzugehn, so zeichne ich in Gedanken die +Buchten um seine Bauminseln, wo wir im Winter kunstvoll +holländernd große Achten ins Eis schrieben und im Herbst von +der Holzbrücke am Bootshaus in den Kahn stiegen mit der +Herzensdame, die unser Rudern steuerte. Und lasen wir später +im berühmten Gedicht, das wohl einem südlicheren Park +gewidmet ist, + + | ‚Wir fahren mit dem kahn in weitem bogen + | Um bronzebraunen laubes inselgruppen’ + +so dachten wir Berliner Kinder an unsern Neuen See. diff --git a/11-der-landwehrkanal.rst b/11-der-landwehrkanal.rst new file mode 100644 index 0000000..6f577a0 --- /dev/null +++ b/11-der-landwehrkanal.rst @@ -0,0 +1,259 @@ +.. include:: global.rst + +DER LANDWEHRKANAL +================= + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`E`\ r beginnt und endet zwar bei Fabriksschlöten +und hat die geschäftigsten Teile der Ober- und Unterspree zu +verbinden, aber unterwegs wandert er durch soviel +Stadtidyll, daß sein Name in unserm Ohr einen sanften Klang +hat, als wäre er noch der alte Schafgraben, der einst an den +südlichen Stadttoren entlang floß, oder der ‚grüne Strand‘, +wie man ihn bis in die achtziger Jahre nannte, ehe seine +Ufer mit Quadern bekleidet wurden, wodurch er zu seinen vier +Schiffsbreiten kam. + +Langsam gleiten durch sein Wasser die schwerbeladenen Kähne. +An Bordrand stakt einer mit langer Stange das Fahrzeug vom +Fleck, ein Hündchen hockt, ein Feuerchen raucht. Das dampft +aus der kleinen Küche wie im Zigeunerwagen. Andre Kähne +lagern an einigen Uferstellen und bieten Äpfel feil, rot wie +die Backen der Schifferkinder. + +Bald nachdem der Kanal die chemischen Werke und technischen +Institute von Charlottenburg verlassen hat, beginnen +Baumalleen ihn zu säumen, und sein Strand heißt eine Strecke +lang Gartenufer. Und Brücken überschreiten ihn, die wie +Gartenstege über Gartenbächen sind. Da ist die +Lichtensteinbrücke, die vom Hintereingang des Zoologischen +Gartens zum Tiergarten führt, gar nicht weit von der +Schleuse, in deren glatt angleitende Flut und schäumend +abstürzende Wellen die Kinder so gerne schauen. Daß die +Stille dieser Brücke einmal entweiht worden ist von +Schurken, die ein paar Schritt weiter den sterbenden Leib +einer edlen Kämpferin, welche ihre Güte und Tapferkeit mit +dem Tod büßen mußte, ins Wasser geworfen haben —, man kann +es sich kaum vorstellen, wenn man hier die spiegelnden +Wipfel im Wasser ansieht. Begreiflicher schon ist es, daß +mancher Verzweifelte, manche Verlassene in den lockenden +Wassern des Kanals den Tod gesucht haben. + +An der Corneliusbrücke geht die Parklandschaft des +Gartenufers mit grüner Brandung in die Stadtlandschaft über. +Und die Atmosphäre, die in dieser Gegend den Atem von Park, +Stadt und Wasser vereint, ist von zartem Farbenreichtum, wie +man ihn in dem hellgrau umrissenen Berlin sonst selten +findet. Kein Sonnenaufgang über den Bergen, kein +Sonnenuntergang an der See läßt den, der in Berlin Kind war, +die süßen Morgen- und Abendröten überm Frühling- und +Herbstlaub des Kanals vergessen. + +Dann führt von der Herkulesbrücke bis zu dem wie auf einem +chinesischen Bilde geschwungenen Fußgängersteg, der +merkwürdigerweise Lützowbrücke heißt (aber nur nach dem +Dorf, nicht nach dem Kriegshelden), ein Stück Sandweg bis zu +der winzigen Parkanlage neben dem Klubhaus der Von der +Heydtstraße. Auf diesen Uferpfad gehen zum größten Teil +Hinterhäuser. Und die paar Zugänge der Häuser, die dieser +verwunschenen Gegend den Namen einer numerierten Straße +verschafft haben, scheinen Türen zum Glück zu sein. +Kastanien beschatten den immer dämmerigen Pfad und weiterhin +das Ufer, Kastanienbäume, die das Kind des Berliner Westens +in allen Jahreszeiten kennen lernt; an den feuchtstrotzenden +Knospen, den Blütenkerzen und den braunen Früchten, die sich +aus stachliger Hülle lösen, hat es im Spazierengehn seinen +ersten und angenehmsten Unterricht in der Botanik. Vor der +kleinen Parkanlage, bei der sich der Kanal zu einer Art +Ententeich verbreitert, neigen sich Bäumchen übers Wasser, +nach deren Namen das Kind fragt, um dann zum ersten Male das +Wort Trauerweiden zu hören. Von dem Nordufer des Kanals, der +Königin Augustastraße, führen nun alle Seitenstraßen in den +Tiergarten. Was hier an Häusern in Gärten steht, hat mit +Säulchen und Friesen, glatter und spalierbespannter Wand die +gute alte Zeit bewahrt. Zwischendurch gibts ein paar +Wagnisse und sanfte Entgleisungen ins Gotische oder +Nordisch-Üppige, aber das wirkt nur putzig wie Pagode und +künstliche Ruine in einem guten Garten. Je schmaler diese +Straßen sind oder werden, um so liebenswürdiger wirken sie, +wie etwa die Hildebrandt- oder die Regentenstraße. + +Eine von ihnen verbreitert sich zu einem kleinen Platz rings +um die Matthäikirche; dies schmale Gotteshaus mit dem +spitzen Turm und spitzigen Nebentürmchen in dem gelben und +rötlichen Backstein erbaut, der so vielen Kirchen von Berlin +eine gewisse Ähnlichkeit mit Berliner Bahnhöfen gibt, erhebt +sich aus Efeuranken und über Fliederbuschwerk. Es bewahrt +noch eine kärgliche Vornehmheit von der Zeit her, da es das +Rendezvous der frommen Lebewelt war, der Leutnants und +Geheimratstöchter, die zusammen beteten und tanzten, und im +Volksmunde die Polkakirche hieß. + +Der angenehm private Charakter der Königin Augustastraße +wird an ein paar Stellen gestört durch prätentiöse +öffentliche Gebäude, Reichswehrministerien und +Reichsversicherungsämter und dergleichen, aber sie ist immer +noch eine freundliche Uferpromenade. Ebenso das +gegenüberliegende Schöneberger Ufer, an welchem sich die +Neubauten und Umbauten dem stillen Wesen der alten Häuser im +allgemeinen gut anpassen. Knapp vor der Ecke der +Potsdamerstraße gab es bis vor kurzem eine ganz kleine +Synagoge, eine winzige Orientmauer, die wir liebten. Sie ist +nun weggebrochen mit ihren Nachbarn, um einem großen Eckhaus +Platz zu machen, ähnlich denen, die sich an den andern Ecken +der Doppelbrücke erheben. Bei dieser Potsdamer Doppelbrücke +streift unser stilles Wasser einen Augenblick dichteste +Großstadt. Da wird es abends bestrahlt von Lichtreklamen und +tags erschüttert von drängendem und stockendem Verkehr. +Dieser Großstadtlärm bekümmert wenig vier Herren, die dort +auf Postamenten an den äußeren Ecken der beiden Brücken in +Bronze bei ihren Apparaten sitzen. Jeder hat ein nacktes +Bübchen zu seinen Füßen, das mit den subtil ausgeführten +Instrumenten spielen darf. Gauß und Siemens arbeiten eifrig +und ohne aufzublicken an ihren Erfindungen und Experimenten, +während Röntgen in veritablen Schnürschuhen seinem Kleinen +zeigt, was er fertig hat, und Helmholtz, der Theoretiker, +müßig vor sich hinträumt. Leute von Geschmack und mit ihnen +der Baedeker behaupten, die Denkmäler seien nicht besonders +glücklich aufgestellt. Ich rechne sie zu den harmlosen. Ihre +Anwesenheit hat etwas Tröstliches, so oft man über den Damm +zu ihnen in sichern Port gelangt ist. Auch ist es +erfreulich, daß die Unbilden der Witterung den mit sehr +ähnlichen Röcken leichtbekleideten Herren und den nackten +Bübchen gar nichts ausmachen. + +Wir verlassen eine kleine Weile das Schöneberger Ufer und +treten in das Eckhaus der Potsdamerstraße ein. Das ist außen +gelbgetüncht und zu modernster Bandstreifenarchitektur +vereinfacht. Innen aber erinnern im Treppenhaus und in den +Fluren der einzelnen Stockwerke Stuckornamente an die Zeit, +da es ein großbürgerliches Wohnhaus war. Jetzt ist es ganz +Bürohaus geworden. G. m. b. H.s hausen hier mit abgekürzten +Namen, Hibado und Raweci oder so ähnlich, Anwaltbüros und +Ärztesprechzimmer gibt es und einen großen Verlag, und da +wir mit diesem befreundet sind, dürfen wir in seine Räume +eintreten und aus dem Fenster sehen auf das +Pfefferkuchenpflaster des Karlsbades, dieser alten +Seitengasse, die mit verwilderten Vorgärten und brüchigen +Balkonen vergangener Vornehmheit nachhängt. Dort drüben, +schon fast an der Flottwellstraße, weiß ich den Torweg, +durch den Schienen zu einem Fabrikgebäude im Hofe führen, +und in demselben Hofe der modernen Fabrik gegenüber ein +Gartenpavillon, vielleicht Rest eines Landhauses an der +alten Potsdamer Chaussee, ein winziges bürgerliches Trianon +mit ein paar Stufen zum Glück, zu umranktem Vorplatz mit +Steinvasen über der Balustrade und zu der Glasveranda, aus +der man jetzt statt auf Gärten auf den Hühnerhof des +Hauspförtners und die grünüberwucherte Wand des Nachbarn +schaut. So ähnlich mag auch das Haus gewesen sein, in +welches im Jahre 48 in den Märztagen der Prinz von Preußen +flüchtete, als er in der Dämmerung durchs Potsdamer Tor +entkommen war. Hier konnte er sich verborgen halten im alten +Karlsbade. Wir hören Leierkastenmusik und eine Stimme und +gehen über den Flur an ein Hoffenster des Hauses. Einer der +schachttiefen Höfe liegt unter uns, wie ihn Tausende von +Berliner Bürohäusern haben. Lauter kahle Fenster, hinter +denen Umrisse von Schreibmaschinen, Regalen und Kartotheken +zu sehn sind. Aber ein paar der Fenster gehn auf, und die +Mädchen mit den schwarzen Schutzärmeln sehen ein bißchen +hinunter auf die Musik. + +Ist der Kanal unter der Potsdamerbrücke hindurch, darf er +noch eine Weile an stillen Ufern hinfließen. Dann +überschatten ihn Viadukte, er streift Zugänge und Zufahrten +von Bahnhöfen, und wo er sich dann zum viereckigen Hafen +erweitert, ist er von Eisenbahnämtern gerandet. Am +Hafenplatze aber stehn von alters her eine Reihe schöner +Platanen. Wer aus dem Westen Berlins nach dem Süden Europas +reisen will, kommt auf dem Weg zum Anhalter Bahnhof an +diesen Bäumen vorbei und empfängt von ihren hellgefleckten +Stämmen und dem Flimmern ihres Laubes ein Vorgefühl von +Eukalyptusstämmen und Olivenlaub. + +Von hier führt ein kurzes Stück Straße zu dem Hochbahnhof +Gleisdreieck, der über dem gewaltigen eisernen Spinnennetz +von Schienensträngen liegt, auf denen von Güter-, Fern- und +Untergrundbahnen Dampfgestoßenes und elektrisch Gleitendes +zusammenströmt. Das, was da oben zu erleben ist, gehört zu +der Rundfahrt mit Stadt-, Ring- und Hochbahn, die Baedeker +uns empfiehlt, zu der Fahrt, die eine Art neue Stadtmauer um +das ältere Berlin baut und zum Teil Spuren früherer Mauern +verfolgt. + +Jetzt aber folgen wir dem Wasserweg des Kanals, der eine +Strecke lang neben dem Viadukt der Hochbahn eine sanft +gebogene Linie beschreibt, um sich am Halleschen Tor von ihm +zu entfernen. Nun steigen zinnenbewehrte Rundtürme auf: +Gasanstalten, die ältesten von Berlin, die in den zwanziger +Jahren von der englischen Imperial-Continental-Association +gegründet wurden. Und gegenüber erstreckt sich das Planufer, +in alter Zeit eine vorstädtische Wohngegend und immer noch +bequem und weit zu gehen. Es führt an Straßen und Plätzen +hin, deren Namen Vergangenheiten enthalten, Am +Johannestisch, Johanniter- und Tempelherrenstraße. Eine +jüngere putzige Vergangenheit wird überliefert: ein Saal der +Stadtmission, die hier, ein Werk des berühmten Hofpredigers +Stöcker, ihre Stätte hat und ihre ‚Schrippenkirche‘ abhält, +in der Bettler und Obdachlose zwei Schrippen, einen Becher +Kaffee und ein Wort für die Seele bekommen; ein Saal dieser +Mission war früher einmal Theaterraum einer Possenbühne, in +der der sogenannte Meerschweinchendirektor Carli Callenbach +regierte. + +Urbanhafen: ein Seitenkanal umfließt eine trapezförmige +Insel, auf der aus- und eingeladen wird, Hebebrücken und +Kräne sind am Werk. Gen Norden aber hinterm Wasser erstreckt +sich ein Schlachtfeld von Erdarbeiten, Abbruch und Aufbau, +Ruinenstadt und werdende Stadt. Das ganze Gebiet des +früheren Luisenufers vom ehemaligen Engelbecken bis zum +weiland Torbecken ist trockengelegt worden, um einer +großen Avenue Platz zu machen, die von Norden nach Süden +gebaut wird. Angelockt von dem Chaos aus Sand und Schutt, +gehen wir ein Stück in der Richtung nach dem Kottbuser Tor +zu. Da wird gerade an der Hochbahn umgebaut und wir geraten +unter ein grelles Netzwerk mennigroter Eisenträger. Die +Kottbuserstraße führt uns zurück an den Kanal, und wir +kommen in die Budenstadt eines Marktes, der das ganze +Maybacher Ufer bedeckt. Hier scheint von Süden her ganz +Neukölln herbeigekommen zu sein, um einzukaufen. Es gibt +alles: Pantoffeln und Rotkohl, Ziegenschmalz und +Schnürsenkel, Krawatten und Fettbücklinge. Neben der alten +Jüdin, die Pelzfetzen breitet und Seide auspackt, ißt eine +Nachbarin von ihrem Gemüsekarren eine rohe Karotte. Dem +wüstesten Fischgestank gegenüber verheißen die Flaschen mit +Maiglöckchenessenz billig süßen Duft. Und streifenweise +unterbricht die andern Auslagen immer wieder ein ‚Posten‘ +Strümpfe aus Seidenflor oder aus unzerstörbarer +‚Panzerseide‘. Stellenweise münden die Läden der Straße in +den Marktverkauf. Das Emailgeschäft baut seine Ware den Damm +herüber. ‚Tulpenzwiebeln ausnahmsweise billig vor +Feierabend‘, ‚Gelegenheitskauf, junge Frau‘, ‚Echte +Beerblanche‘, ruft es. ‚Winterrote, alle mehlig‘, preist +einer seine Kartoffeln. Neben ihm gibt es wahrhaftig noch +etwas zu sehn, was uns schon Museumsgegenstand scheint, +richtige Haarnadeln wie in unserer Jugendzeit und runde +Kämme, wie damals Frauen sie ins Haar steckten. + +Die Einmündung des Teltowkanals und der rechte Winkel, den +unser Kanal bildet, ist durch allerlei Schuppen und +Bretterwände verbaut und man muß wie so oft das Leben der +Stadt von den Inschriften ablesen: ‚Gerüstbau- und +Verleihanstalt‘, ‚Hunde werden geschoren und kupiert‘, +‚Rohre, Träger, Formeisen, Zaunstäbe, Nutzeisen aller Art‘, +‚Altes Studentenbad‘. Über dieser Inschrift flattern +schwarzweiße Fähnchen. Aber was sie verheißt, ist nicht mehr +zu finden. + +Noch einmal teilt sich unser Kanal und geht mit zwei Armen +in die Spree. Wir gehen den Freiarchengraben an dem etwas +kümmerlichen Grün des Schlesischen Busches entlang und einen +Pfad bis an den Fluß, der hier den breiten Osthafen bildet. +Mit rotem Verdeck schwimmt ein stolzes Steinschiff, der +Neubau der ABOAG, von Süden her. + +Das ist der Landwehrkanal. Man behauptet, er solle auch bald +einmal trockengelegt werden, er rentiere sich nicht mehr. +Dann würde uns wieder ein Stück Leben zu blasser Erinnerung +werden. diff --git a/12-der-kreuzberg.rst b/12-der-kreuzberg.rst new file mode 100644 index 0000000..67fa605 --- /dev/null +++ b/12-der-kreuzberg.rst @@ -0,0 +1,238 @@ +.. include:: global.rst + +DER KREUZBERG +============= + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`D`\ er ist obligatorisch. Eine Sehenswürdigkeit. +Die höchste Erhebung über der Spree-Ebene. Da ich ihn seit +langer Zeit nicht mehr besucht habe, beschloß ich ihn jetzt +gewissenhaft zu besichtigen und begab mich gen Süden. +Unterwegs in einer Nebenstraße der Großbeerenstraße gab es +ein paar Schaufenster, vor denen mußte ich stehenbleiben. So +lange konnte der Kreuzberg auf mich warten. Das eine verhieß +Wäscheanfertigung jeder Art aus vorhandenem sowie aus +geliefertem Material. Da lehnte über die Leine mit den +Spitzentaschentüchern eine nachdenkliche Stoffpuppe ihre +marmorgrauen Arme. Unter roter Kappe hatte sie blaugraue +Locken, altfarben, wie Ahnenbilder sie haben. Es war schwer, +an ihren einladenden Augen und Armen vorbeizukommen. Und +wenige Schritte weiter war eine Vogel- und +Vogelfutterhandlung. Auch für Fische und gegen Insekten gab +es da mancherlei einzukaufen, und ich las Worte wie +Piscidin, Wawil, Dermingin, Radicalin, Milbin. Vor allem +aber einen Vers allgemeineren Inhalts, den ich mir gemerkt +habe: + + | Ein Vöglein im Heim + | Erfreut groß und klein. + | Große Auswahl in Sing- + | Und Ziervögel. + +Ich weiß nicht, ob die beiden letzten Zeilen auch als Vers +gemeint sind, aber ich lese sie so. + +Das alles hielt mich begreiflicherweise auf, aber +schließlich stand ich doch am Fuß des Berges vor dem großen +Becken des Wasserfalls im Viktoriapark. Im Wasser lachte ein +faunischer Fischer aus Bronze, der eine zappelnde Nixe in +sein Netz zwang. Außer mir sah ihm bei dieser Tätigkeit von +der nächsten Brandmauer der Kreuzbergstraße ein riesiges +Reklamefräulein staunend zu, ohne darüber ihre Arbeit zu +vernachlässigen. Sie mußte die Wäsche in ihrer +Riesenschüssel mit empfehlenswerten Seifenflocken behandeln. +Ich aber ging einem kleinen Jungen nach, der auf seinem +Dreirad bergauf fuhr bis zu dem Sandspielplatz. Am Lido, in +Ostende und an der Riviera soll das gesellige Strandleben +sehr entwickelt sein, in Berlin gibt es in verschiedenen +Volksparks aber auch sehr schöne Sandplätze. Sie haben meist +eine Holzfassung, auf deren Brüstung die ganz Kleinen ihre +Kuchenformen stülpen, während innen in der weiten Sandwüste +die Größeren Berge mit Tunneln und mit Rauchlöchern für +Vulkane bauen. Neidisch und erwachsen sehe ich den Eifrigen +zu und komme auf eine Bank neben ein paar alte Frauen zu +sitzen, von deren Gespräch ich wie einen Refrain oder wie +Pedal einer Klaviermusik immer nur höre: »Da hat se ja nu . +. . da wird se ja auch . . . da hat se alles jehabt . . .« +Aber ich habe weiter Park und Berg zu besichtigen und suche +zunächst pflichtgetreu die Denkmäler der Freiheitsdichter +auf, die hier im Grünen verteilt sind. Es sind +angenehmerweise nur Hermen, harmlos unter Büschen, über +Beeten wie die, welche im Pariser Luxembourggarten dichten. +Da haben wir Rückert in langem Haar mit +Schmetterlingskrawatte. In ein Notenheft, das breit genug +ist für Ghaselen, schreibt er an einer Strophe, deren +Komplikationen ihm Stirnfalten über den sinnenden Augen +machen. Unten an seinem Sockel spielt auf seiner Leier ein +Bambino. Unweit steigt Körnern der Kragen hoch an die +Koteletten des nach links oben strebenden Hauptes. Sein +Militärmantel ist zur Toga drapiert, und mit seiner +Dichterrolle faßte er gleichzeitig das Schwert. Auch drüben +Heinrich von Kleist braucht die Linke nicht nur zum Halten +des Dichterhandwerks, sie faßt zugleich des Schoßes +Draperie, während die Rechte mit dem Gänsekiel unter dem +versonnenen Kinn langfährt. Auf Uhlands Rolle steht +geschrieben ‚Das Alte Recht‘. Er sieht überzeugt geradeaus. +Hübsche Blaublümchen blühn im Beet vor seinem Sockel. Und +davon blühn noch mehr und dichter beieinander an dem +Seitenbach des Wasserfalls, an dem entlang ich nun weiter +hinauf muß, dankbar für alles, was mich unterwegs aufhält. +Es gibt noch einige zoologische und botanische Ablenkungen. +Hinter Drahtgitter Goldfasanen und Rehe. Man darf sie weder +füttern noch necken. Denn, steht geschrieben, Gesundheit und +Leben der Tiere ist hierdurch gefährdet. Vor den +Blumenbeeten mit den gelehrten Porzellanschildchen höre ich +Nachbarstimmen auseinandersetzen: »Das ist auch ’ne +Alpenrose, sag’ ich dir, nur ’ne andre Sorte, steht ja +Orient drauf.« Bei den Pfingstrosen fragt mich ein blasses +Rothaariges: »Können Sie mir mal sagen, wie spät’s is?« und +mahnt mich so zur Eile. Ich halte mich also nicht auf bei +den Probeporträts, welche auf halber Berghöhe, wo der Weg +über die Brücke des Wasserfalls führt, ein Photograph +ausstellt. Auch nicht bei dem tiefgebetteten Milchkurgarten, +aus dem ich doch meine Sommerfrische machen könnte. Nein, +statt mich zu erholen, steige ich neben künstlichem Fels die +Granitstufen hinauf, sechzig Stufen der oberen Terrasse bis +zum großen Denkmal. + +Neben mir erklärt ein Familienvater Frau und Kindern, was es +da unten ringsum an Türmen und Dächern zu sehen gibt, er +zeigt ihnen die Hallen des Anhalter Bahnhofs, +Reichstagskuppel und Siegessäule, nahe Gnadenkirche und +ferne Lutherkirche. Als er dann zu den grünspanigen Kuppeln +am Gendarmenmarkt, zu Hedwigskirche, Dom und Schloß kommt, +wird die kleine Tochter ungeduldig und fragt: »Wollen wir +nicht bei den kleinen Fluß gehn?« Damit meint sie den +Wasserfall. Der Vater aber gelangt erklärend weiter zu den +Kirchen der Altstadt. Ich denke bei den Namen nach, wer wohl +in vergangenen Zeitläuften von dieser Höhe auf die alten +Türme hinuntergesehen haben mag. Da fällt mir die Anekdote +von dem Kurfürsten Joachim ein, der hier oben ein paar +Stunden seltsamer Angst und Spannung verbracht hat. Dem +hatte nämlich sein gelehrter Sterndeuter Carion, dem er eine +Sternwarte in seinem festen Schloß zu Cölln an der Spree +eingerichtet hatte, prophezeit, es werde am 15. Juli 1525 +ein grausames Wetter die Städte Berlin und Cölln ersäufen. +Der Tag brach, wie die Chronisten erzählen, wolkenlos an, +mittags herrschte glühende Hitze, der Himmel bekam ein +fahles Gelbgrau und am Horizont erschien eine schwarze +Wolke. Da gab es Unruhe im Schloß, die Hofwagen wurden eilig +angeschirrt, und der Kurfürst lief mit verstörter Miene +durch die Gemächer. Und als die Wolkenwand höher stieg und die +ersten Blitze zuckten, sprangen die Tore des Schlosses auf, +der Kurfürst, seine Gemahlin und die Kinder fuhren im +vierspännigen Wagen über den Schloßplatz, die vornehmsten +Räte, Offiziere und Hofdiener folgten zu Pferde und zu Fuß, +mit eilig zusammengeraffter Habe beladen. + +Nach Süden ging der Zug, wo sich die Cöllnischen Weinberge +erhoben. Hier hat es nämlich vormals Weinberge gegeben, auf +denen wirklich Wein gedieh. Er war wohl ziemlich sauer, +wurde aber nicht nur in der Mark getrunken, sondern auch +nach Polen, Rußland und Schweden ausgeführt. Erst als der +Branntwein aus einem Medikament gegen Heiserkeit, Gicht, +Kopfweh, Wurm und stinkenden Atem allmählich ein beliebtes +Getränk wurde, das man nicht nur in Apotheken kaufte, hat er +den Weinbau von diesen Tempelhofer Bergen verdrängt. Auf den +höchsten der Hügel, den, der heute Kreuzberg heißt, ging der +Zug des Kurfürsten und suchte dort Schutz gegen die drohende +Sintflut. Hier oben wartete man auf das Wetter, das nicht +kam. »Als er aber lange darauf gehalten und nichts daraus +geworden, hat ihn sein Gemahl (wie sie denn eine sehr +christliche und gottesfürchtige Fürstin gewesen) gebeten, +daß er möchte wieder hineinziehen und bei seinen armen +Unterthanen ausharren . . . Davon ließ er sich bewegen und +ist um 4 Uhr gegen Abend wieder gen Cölln gezogen. Ehe er +aber aufs Schloß kommen, hat sich ein Wetter bewiesen und +wie er unter das Schloßtor kommen, hats dem Kurfürsten vier +Pferde vor dem Wagen samt dem Knechte erschlagen und sonsten +keinen Schaden mehr getan.« So zu lesen in Peter Hafftitz’ +Mikrologikon. + +Was sah der geängstete Monarch, wenn er von der drohenden +Wolke weg auf seine Residenz blickte? Hinter Sumpf und Sand +einen Wall mit Türmchen und Zinnen, dahinter seine Burg +‚Zwing-Cölln‘, wie sie das Volk nannte und von der heut nur +noch der Grüne Hut übrig ist, jener runde Turm an der +Spreeseite mit dem grünspanbedeckten Kupferdach, in Cölln +ferner Kuppeln und Spitzen der Glockentürme von Sankt Peter +und nah dabei das Dominikanerkloster, wo vor einigen Jahren +Tetzel gehaust hatte, um den Cöllnern und Berlinern die +Höllenqualen recht genau darzustellen und Ablaßzettel zu +verkaufen . . . Und weiter wanderten seine Blicke über das +Haus des Heiligen Geistes zu Sankt Marien und Sankt Nicolas, +zu den Grauen Brüdern und über die Mühlen am Wasser bis zum +Köpenicker Tor, durch das er damals zur Jagd geritten war an +dem schlimmen Tage, als ihm die verschworenen Junker auf der +Heide auflauerten. Dort am Tor hatte das Haupt des kecksten +der Rebellen aufgesteckt geprangt und ein ganzes Jahr lang +von seiner Eisenstange herabgegrinst. Zwischen den Kirchen +und stolzen Eckhäusern der Breiten- und der Klostergasse +waren nur niedere Schilfdächer und ein paar moosige +Ziegeldächer zu sehn und viel freies Feld, Acker und Weide +und Tümpel mitten in der Stadt. + +Von diesem Hügel haben Schweden und Kaiserliche abwechselnd +auf die bedrängte Stadt geblickt, die dann der Große +Kurfürst zur zackig umwallten Kanonenfestung umschuf. +Im Siebenjährigen Krieg sind Österreicher und Russen hier +gewesen. Feuerkugeln mit langen Schwefel- und Pechkränzen +schossen hinunter. Danach hat der arme Sandhügel eine Weile +Ruhe von der Weltgeschichte gehabt. Erst anno 1813 haben die +Berliner auf dem Tempelhofer Berg und den Rollbergen +Schanzen zur Stadtverteidigung angelegt. Aber der Feind kam +nicht bis an die Stadt, nur der Kanonendonner von +Großbeeren. Und bald danach läuteten die Glocken Dank für +den Sieg bei Leipzig. Im Jahre 1818 wurde der Grundstein +gelegt zu dem Siegesdenkmal, das hier hinter mir aufragt. +Die Majestäten von Rußland und Preußen warfen Kalk aus der +Maurerkelle auf das Lager des Steins. Und dann wuchs, ganz +aus Eisen gegossen, Schinkels Denkmal im sogenannten +‚altteutschen Style‘ empor, und zwar, wie ein Zeitgenosse +berichtet, »auf einem achteckigen Unterbau, welcher eine +erhöhte mit steinernen Platten bedeckte Terrasse um das +Monument bildet, die sich auf elf rings um das Achteck +laufenden Stufen erhebt . . . Bei den Teilen und bei dem +Ganzen hat die Architektur des Kölner Domes zum Muster +gedient . . . Das Ganze bildet einen thurmartigen Baldachin, +der sich über zwölf Kapellen oder Nischen erhebt, aus denen +die im Grundriß bestimmte Kreuzform des Ganzen +zusammengesetzt ist. Diese nischenartigen Kapellen sind den +zwölf Hauptschlachten des großen Krieges gewidmet und jede +Nische ist mit einem charakteristischen Siegesgenius +ausgefüllt, dessen Gestalt dem durch ihn personificierten +Ereignis entspricht. Die schöne Aufgabe dieser Gestalten für +den Bildhauer ist bereits in vollendeten Figuren durch die +Professoren Rauch, Tieck und Wichmann jun. sehr glücklich +gelöset . . .« Die Genien haben klassizistisch abgeschwächte +Ähnlichkeit mit den Fürsten und Helden der Zeit, Culm mit +Löwenhaut und Keule sieht dem König Friedrich Wilhelm +gleich. Dennewitz trägt Bülows Züge. Blücher ist zweimal +vertreten, stürmend an der Katzbach, im nordischen Harnisch +bei La Rothiere. Der Siegesgöttin von Paris verlieh Rauch +die Gesichtszüge der Königin Luise und ließ sie in der +Rechten eine kleine Quadriga tragen, die an die +wiedergewonnene große auf dem Brandenburger Tor gemahnt. +Belle-Alliance aber, der Endsieg, blieb den unumgänglichen +Föderierten vorbehalten: das Haupt hat die Züge der +russischen Kaiserin Alexandra Feodorowna, und obendrein sind +noch auf der Mittelfalte ihres Gewandes als Stickereien die +übrigen elf Genien in Relief wiederholt. Später wurde für +das Denkmal eine höhere Untermauerung geschaffen und es +wurde mittels hydraulischer Pressen bis zu seiner +gegenwärtigen Höhe gehoben. + +Benommen von alter Zeit und dem Abendwind, der von den +Brauereien her Geruch von Malz wehte, wie man ihn in München +riecht, hätte ich gern jemanden gefragt: Wo ist denn hier +der Dustere Keller ? Der muß einmal hier am Abstieg gelegen +haben. In Urzeiten war es eine Schlucht mit Aschenurnen, +dann hauste dort in fritzischen Zeiten ein wunderlicher +Einsiedler. Dann war es ein beliebtes Ausflugsziel. Und in +den heimlichen Tagen vor den Freiheitskriegen gründeten die +vaterländischen Turner Jahn und Friesen in der Wirtschaft +mit ihren Freunden den Deutschen Bund, in welchem der +aufgelöste Tugendbund weiterlebte. Aber da seh ich Flieger +im Osten über Tempelhof und besinne mich auf die Gegenwart. diff --git a/13-tempelhof.rst b/13-tempelhof.rst new file mode 100644 index 0000000..d7c07ea --- /dev/null +++ b/13-tempelhof.rst @@ -0,0 +1,166 @@ +.. include:: global.rst + +TEMPELHOF +========= + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`J`\ a, da drüben ist unser großer Flughafen. Da +kann man die surrenden Stahlvögel niedergleiten sehn auf +grüne Fläche und anrollen auf die geteerte Bahn. Und wieder +aufsteigen im Kreisflug nach allen Himmelsrichtungen. Und in +der Halle der Lufthansa stehn sie nebeneinander wie +Lokomotiven im Schuppen. Kennerisch sieht die Menge der +Ankunft und Abfahrt zu, und die kleinsten Burschen reden im +Ton des sicheren Mannes über Tragflächen und Spannweiten, +sie waren ja draußen auf der ‚ILA‘, sie wissen ja Bescheid +mit allen Aerogleitern, Eindeckern und Doppeldeckern, genau +wie sie alle Autoarten kennen, da brauchte man nur die +Gespräche vor den Ausstellungshallen der Messestadt +anzuhören. Oft sollen sie übrigens auch den größten Unsinn +reden, haben mir Sachkenner versichert, aber sie bringen ihn +so herrlich trocken und bestimmt heraus, die kleinen +Berliner. Merkwürdig ist auch, wie neidlos selbst die +Ärmsten alles Sportgerät ansehen. In dem Schwirren der +Propeller und im Rollen über beständig explodierendem Benzin +muß ein gemeinschaftliches oder mitteilsames Glück liegen. +Wer sich kein Auto leisten kann, wird dann eben Chauffeur +werden. Oder vielleicht Flugzeugführer, denkt mancher von +den Kleinen, wenn er hier die Piloten in ihrer flatternden +Ledertracht, in dieser seltsamen Fledermausuniform, +vorübergehn sieht. + +Wo das Gebiet des Flughafens aufhört, schließen sich +Sportplätze an und die Jungen laufen dort hinüber zu ihren +Fußballkameraden. Den Kindern und den Fliegern gehört diese +weite Fläche. Und es ist doch noch gar nicht so lange her, +da war sie Schauplatz von veralteten Paraden und Revuen, da +herrschte hier das Gegenteil der Sportelastizität, der +steifstarre Stechschritt der Garden. Hier wurde zweimal im +Jahr die Berliner Garnison ihrem höchsten Kriegsherrn +vorgeführt, hier waren von den Zeiten des Großen Friedrich +bis zum Weltkriege die letzten Musterungen vor dem Feldzug. +Nun ist es hoffentlich für eine gute Weile vorbei mit diesen +traurigsten aller Felder, diesen zu leeren oder zu vollen +Exerzierplätzen, die ernüchternd sind wie die Kasernen, aus +denen sie sich füllten. Statt Kasernen werden Siedlungen +angelegt, wie hier ganz in der Nähe Neu-Tempelhof mit seinen +stillen Ringen, hübschen Torwegen zu Gärten, ansteigenden +und absinkenden Straßen und Häusern, die an altes Potsdam +erinnern. + +Von dem Dorf, das nach den weiland Tempelrittern heißt, +steht nicht mehr viel in Tempelhof. Selbst die kleine +Granitkirche im Gemeindepark hat ihre Gestalt verändert. Und +sonst ist vom Dorf nichts übrig geblieben als ein paar +eingesunkene einstöckige Häuschen mit Vorgärtchen, wie man +sie hier und da in den Berliner Vorstädten findet. Das +heutige Tempelhof ist einer der schrecklichen Eilbauten aus +der Zeit nach 1870 im Bauunternehmer- und +Maurermeistergeschmack, wie deren noch allzuviel rings um +Berlin lagern und erst allmählich von den neuen Wohnblöcken +ohne Seitenflügel und Quergebäude, ohne Berliner Zimmer und +Fassadenstuck verdrängt werden. + +Dafür gibt es aber zwei Monumente der neuen Zeit, das +Ullsteindruckhaus mit seinem stolzen sechzehn Stockwerk +hohen Turm und den gewaltigen Komplex der Sarottiwerke, +beide am Teltowkanal gelegen. In dem einen wird der in den +Redaktionen und Setzereien der Kochstraße gesammelte Geist +auf dem Wege über allerlei Rotation, Schnellpressen, Falz-, +Heft- und Zusammentragemaschinen zu Zeitungen, +Zeitschriften, Broschüren und Büchern, in dem andern wird +die in den Tropen gesammelte, weither gewanderte Kakaobohne +auf dem Wege über Bürstenwalzen, Brech-, Schäl-, Reinigungs- +und Eintafelungsmaschinen zu hübsch verpackter Schokolade. +Es ist erstaunlich, wie der trübe Niederschlag und Satz +unserer Einfälle aufschwillt zu unendlichen, wohlbedruckten +Papiermassen und wie die verstaubten, in runzligen Säcken +zusammengeduckten Bohnen zu unzähligen säuberlichen Tafeln +und Pralinen werden. Das alles machen die klugen Räder und +Walzen, vor deren vielerlei Drehen, Stampfen, Greifen und +Schleudern uns unwissenden Besuchern der Verstand +stillsteht, während ihre tausend Wächter, Aufpasser und +Hüterinnen in Kitteln und Häubchen unsre verwunderten Mienen +belächeln. (Welch ein Heer von munteren und stillen Berliner +Arbeiterinnen hab ich in diesen Tagen kennen gelernt, leider +nur so im Vorübergehn. Ich möchte unsichtbar zugegen sein, +wenn sie in ihren Kantinen zusammensitzen, hören, was sie +auf ihren Heimwegen miteinander reden, was sie vom Leben +denken . .) Ja, da stehn wir betäubt im Riesensaal der +Berliner Illustrierten und sehn an der Decke die +Papierrollen hinlaufen, sich niederlassen in +das eiserne Greifen und Drehen und als bebilderte +aufgeschnittene fertige Zeitschrift herausspazieren. Da +schleichen wir durch den Saal der ‚Längsreiber‘, wo die +Walze über die Reibetröge, Granit über Granit, wandert und +Massen bewegt, die dann weiterwallen zu Tafelformen, +Füllmaschinen und Schüttelbahnen, um ohne Eingriff von +Menschenhand in Stanniol, Wachs und Pergament, in Karton und +Kiste zu schlupfen. + +An Tempelhof schließt sich Mariendorf an, wohin ich wohl +kaum gekommen wäre, hätte mich nicht einer der Tüchtigen und +Glücklichen, die mit der flimmernden Leinwand zu tun haben, +in das Glashaus mitgenommen, wo die Filme gedreht werden. +Rundherum ist ödes Weichbild und Weltende. Innen aber ist +wunderlich belebte Welt. Sind es Baracken oder Kulissen, ist +es Biwak oder Kinderstube, was da in wechselndem Hell und +Dunkel auftaucht? Ein paar Stolperstufen führen hinunter in +eine Alpenlandschaft, vor der wie zum Spielen Kurort, +Station und reizende kleine Eisenbahn aufgebaut sind. Eine +Ecke weiter bekommt man von dem Zug ein Stück in natürlicher +Größe vorgesetzt. Da dürfen wir hineinklettern bis in das +Schlafcoupé, in dessen Kissen die verlassene Braut +aufschrecken mußte. Wir stehen im Gang und sehn an Tür und +Fenster, Bettstatt und Decke alle Einzelheiten eines +wirklichen Schlafwagenabteils. Und neben uns steht die +zartgliedrige Schöne, die dort vorhin im Lichtkegel der +lauernden Lampe lag. Sie führt uns dann hinüber in die Koje, +in der gerade eine Aufnahme stattfindet. Wir kommen hinter +den Kanonier des Lichtgeschosses zu stehn. Neben dem +Operateur steht der Befehlshaber und gibt ein Zeichen. Der +Mann am Klavier spielt eine Tanzmelodie. Und nun fangen dort +an der Bar die Grellbestrahlten an, sich zu bewegen. Es ist +eine Art Karnevalsfeier. Konfettistreifen werden über Fräcke +und nackte Schultern geworfen. Lärmende Masken bedrängen +tanzende Paare auf der Estrade. Einsam inmitten der Tobenden +sitzt einer bei seinem Glase, den Ellbogen auf den Bartisch +gestützt, starrblickend, fern. Man flüstert uns einen +berühmten Namen zu. Jetzt hebt er den Kopf und sieht zu uns +herüber. ‚Er sieht uns an, als wären wir seine Gespenster‘, +sage ich Ahnungsloser. ‚Nein,‘ belehrt man mich, ‚er sieht +nichts als blendendes Licht!‘ Die Musik setzt aus. Der +Regisseur geht zu den Bargästen und macht seine +Manöverkritik. Und dann müssen die Geduldigen gleich noch +einmal übermütig sein und der in ihrer Mitte muß wieder +erstarren. ‚Ein anstrengendes Handwerk‘, meint die +Erfahrene, die uns führt. ‚Und das Schlimmste ist das lange +Warten und Immer-Paratseinmüssen. Es ist wie beim Militär.‘ +Wir Laien bekommen natürlich doch große Lust mitzuspielen +und wäre es auch nur als Figuranten. Wir möchten auch einmal +vorkommen auf der Leinwand, einmal uns selbst spielen sehn. + +Wir Berliner sind leidenschaftliche Kinobesucher. Die +Wochenschau ersetzt uns alle nicht erlebte Weltgeschichte. +Die schönsten Frauen beider Kontinente gehören uns +alltäglich mit ihrem Lachen und Weinen im wandernden Bilde. +Wir haben unsre großen Filmpaläste rund um die +Gedächtniskirche, am Kurfürstendamm, in der Nähe des +Potsdamerplatzes, in den Vorstädten, und daneben die tausend +kleinen Kinos, helle, lockende Lichter in halbdunklen +Straßen aller Stadtteile. Oh, es gibt sogar eine Reihe +Vormittagskinos, rechte Wärmehallen für Leib und Seele. Im +Kino ist der Berliner auch nicht so kritisch, +beziehungsweise nicht so abhängig von der Kritik seines +Journals wie im Theater. Er läßt sich überfluten von der +Illusion. Es ist Lebensersatz für die Millionen, die ihren +monotonen Alltag vergessen wollen. Da gibt es keine Pause +des Erwachens und sich Besinnens. Nirgends läßt sich +Volkslust, Kollektivgenuß so miterleben wie in den kleinen +‚Kientöppen‘, in denen nur ein jammerndes Klavier die +Musikbegleitung liefert. Noch lieber wäre mir manchmal zu +den herzergreifenden Szenen, bei denen unsere Tränen ‚ohne +denkerstörung‘ rollen, Leierkastenmusik, wie sie auf unseren +Hinterhöfen dröhnt und säuselt. diff --git a/14-hasenheide.rst b/14-hasenheide.rst new file mode 100644 index 0000000..64252e8 --- /dev/null +++ b/14-hasenheide.rst @@ -0,0 +1,124 @@ +.. include:: global.rst + +HASENHEIDE +========== + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`H`\ asen gibts hier nicht und auch keine Heide +mehr, aber wer sich bei Namen von Stadtteilen etwas der +ursprünglichen Bedeutung Entsprechendes vorstellen möchte, +den wird es interessieren, zu erfahren, daß im Jahre 1586 +laut Chronik der Cöllner Stadtschreiber eine kurfürstliche +Verordnung verfügte: ‚Den 18. May ist uff Churfürstl. Gnaden +ernsten Befehlich den Burgern in beyden Stedten ufferleget, +Löcher in den Zeunen an den Gerten zu machen, damit die +Hasen hineinlauffen konnen.‘ Noch Friedrich Wilhelm I. +erwiderte auf ein Gesuch um Hütungsgerechtigkeit in der +Heide: ‚Soll Haasen-Garten bleiben.‘ Unter Friedrich dem +Großen entstanden dann die ersten ländlichen Wirtschaften +und nach den Freiheitskriegen Kaffeegärten, und zwischen +ihnen ein riesiger Rummelplatz, der mit seinen Würfelbuden, +Kraftmessern, starken Jungfrauen, Seiltänzern und +Wundertieren sich von der Gegend der Bärwaldstraße bis zu +dem Turnplatz erstreckte. Vor den Vergnügungslokalen ging +mit seinem hölzernen Kasten am Tragriemen der +Zigarrenverkäufer auf und ab — denn hier durfte der sonst +vielfach verbotene Tabak geraucht werden, bot Fidibus und +Lunte und rief: ‚Cigaro mit avec du feu.‘ + +Aus alten Heftchen und Bildern der fünfziger Jahre kennt man +die Omnibusfahrten nach der Hasenheide, Madam Brösecke mit +Mann und vielen Kindern auf der Fahrt vom Dönhoffplatz +hieher. »Bei Streitz ist Konzert und bei Happolt Ball. Bei +Höfchen werden die Putzmacherinnen poussiert und dann geht’s +zum Turnplatz!« Happolt ist offenbar das Feinste gewesen: +Marmorsäle, Glassalon, Trumeaux vom Mosaikfußboden bis zur +gemalten Decke, ‚Kronenleuchter wie in dem Palast eines +Fürsten‘ usw. Und dann war da noch Lücke, wo die +Aristokraten sich trafen, Hofräte, Geheime Ober Titularräte +und Calculatoren. Madam Brösecke bleibt lieber mit ihren +Gevatterinnen bei Höfchen, wo »eine Legion Kaffeekannen mit +duftigem Cichorien-Mokka und Hunderte von kleinen, +Finkennäpfen ähnlichen Tassen, dazwischen Weißbier und +Schnappsgläser auf allen Tischen« stehen, während es ihre +Tochter Pinchen hier zu ‚gemischt‘ findet. + +Die Bier- und Kaffeegärten sind geblieben bis auf den +heutigen Tag und immer größer geworden. Sie sind fast zu +groß, sie haben das Monströse der Zeit der Riesenportionen +und Doppelkonzerte behalten und überbieten einander in ihren +Ankündigungen. ‚Täglich großes Terrassenstimmungskonzert bei +freiem Eintritt‘, donnert es uns von einem Eingang an, und +nicht weit davon behauptet ein Lokal, ‚trotz aller +Neueröffnungen das führende Café‘ zu sein und zu bleiben. Es +verheißt ‚täglichen Tanz auf erleuchteter Glastanzfläche‘ +und dazu Musik einer ‚Rheingoldkapelle‘. Aber der alte +Rummelplatz ist nicht mehr da. Die ‚Neue Welt‘ ist heute +eins der großen Gartenlokale mit Sälen für Versammlungen und +Festlichkeiten. Ältere Leute werden sich noch der Zeit +erinnern, da man bei dem Wort ‚Neue Welt‘ an Panoramen, +sogenannte naturwissenschaftliche Museen, ‚Wilde‘, +Dompteusen in Stulpstiefeln und Kraftmenschen +dachte. Ich habe hier als kleines Kind den lächelnden Mund +und die rosa Wangen des Mädchens gesehn, dem der Kopf +abgeschlagen und wieder aufgesetzt wird, vielleicht auch +jene erste Dame ohne Unterleib, zu deren schönen +Armbewegungen ihr Unternehmer die Verse von der Lotosblume, +die sich ängstigt, aufsagte; sicher aber kam mir hier zum +ersten Male der Name Dante zu Ohren in einer Bude, wo einige +seiner Höllenstrafen panoramisch-plastisch dargestellt +waren. Es war sehr schaurig. So etwas wird uns heute nicht +mehr geboten. + +Ein andres Stück Hasenheide ist geblieben: Turnvater Jahn +schaut noch immer, wenn auch nur als Büste, vom Postament +seines Denkmals auf sporttreibende Jugend nieder, nah bei +der Stätte, auf der er die erste Turnerschaft versammelte. +Er sieht wohlgefällig auf die bräunlichen Buben und Mädchen +in Schwimmkostümen nieder, die hier wie an so vielen Plätzen +rings um Berlin ihre Bälle stoßen und schleudern. Und wenn +wir über die Sandhügel des etwas verwilderten, von zwergigen +Föhren bestandenen Gartens hinter dem Denkmal gehn, eine der +vielen Stätten, wo die Berliner Sonne und Luft finden, mögen +wir auch mit friedlichem Wohlwollen an die kriegerischen +Jünglinge und Tyrannenmörder von damals denken, denen +Freiheit, Vaterland und stärkende Pflege des eigenen Körpers +eine Gesamtheit befreundeter Gedanken war. Bis dann diese +Befreier und heldischen Jünglinge und vor allem ihr Führer +und Vorbild die Tyrannei von seiten des geliebten +Vaterlandes selbst erfahren mußten. Hier also hat Jahn im +Jahre 1818 den ersten Turnplatz eröffnet, nachdem er schon +vor den Freiheitskriegen mit einigen Schülern auf den Wiesen +zwischen dem Halleschen und dem Kottbuser Tor die neue Kunst +des Turnens geübt hatte. Wenn damals noch der wagerechte Ast +einer Eiche das Reck bildete, Sandgruben zum Tiefsprung und +die steilen Wände der Rollberge zum Sturmlauf benutzt +wurden, so hatten sie hier in der Heide richtige Geräte, +Barren, Ein-, Zwei- und Vierbäume. Aber schon im nächsten +Jahr verhängten die Demagogenverfolger eine Turnsperre, +verhafteten Jahn und ließen alle Geräte vom Turnplatz +fortschaffen. Auch nach seiner Freilassung blieb Jahn noch +lange unter Polizeiaufsicht. Und erst nach 48 wurde sein +Werk richtig anerkannt und wurden die vielen Turngemeinden +gegründet, die in ihm ihren Turnvater sehen. Die haben dann +aus allen Teilen der Welt die Steine gesandt, aus denen das +Postament seines Denkmals gebaut ist. + +In dem alten Garten nahe dem Restaurant, wo Familien Kaffee +kochen können, sind trümmerhaft, kulissenhaft ein paar nicht +mehr gebrauchte Schießstandteile stehengeblieben. Auf ihren +Zielscheiben bemerkt man verblassende Figuren der +Feindesgestalten rund ums Zentrum. Wobei einem zumut wird, +als lebte man schon in Zeiten, die nur noch aus +Überlieferungen und Museumsstücken begreifen, daß Menschen +einmal so töricht waren, aus Röhren mit Pulver aufeinander +zu feuern. Recht altertümlich wirkt auch der Reklamekasten +eines Photographen, der nahe dem Straßeneingang aufgestellt +ist. Darin sind die preisgekrönten Modelle vom +Meisterschaftsfrisieren eines Friseurgehilfenvereines in +Neukölln zu sehen. Wir erblicken komplizierte Ondulationen +reichbehaarter Mädchen und Frauen, wie sie in Natur wohl +nicht einmal in den entlegensten Teilen von Neukölln mehr +vorkommen. diff --git a/15-ueber-neukoelln-nach-britz.rst b/15-ueber-neukoelln-nach-britz.rst new file mode 100644 index 0000000..98a7793 --- /dev/null +++ b/15-ueber-neukoelln-nach-britz.rst @@ -0,0 +1,70 @@ +.. include:: global.rst + +ÜBER NEUKÖLLN NACH BRITZ +======================== + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`U`\ m seiner selbst willen Neukölln aufzusuchen, +dazu kann man eigentlich niemandem raten. Vielleicht +entsteht hinter den Riesengerüsten, die zur Zeit den +Hermannsplatz, mit dem dieser Stadtteil ungefähr beginnt, +überragen, schöne neue Architektur. Aber das eigentliche +Neukölln ist eine der Vorstädte, die in den siebziger Jahren +kaum zehntausend Einwohner hatten und jetzt zwischen zwei- +und dreihunderttausend haben. Auf dem Hohenzollernplatz +reitet natürlich ein bronzener Kaiser Wilhelm I. In breiten +Straßen sind viel Warenhäuser, Kinos, Ausschank, Dampfwurst, +Rundfunkbastelgeschäfte und stattliche Fronten, welche die +Trübsal der Hofwohnungen verbergen. Es findet sich zwischen +Hermannstraße und Bergstraße auch eine Gegend, wo das Elend +sichtbarer wird, das sogenannte Bullenviertel, wo abends +arbeitsmüdes Volk aus überstopften Trambahnen steigt und +viel kümmerliche Kinder auf der Straße herumtreiben. Eine +traurige Gegend. Als sie noch Rixdorf hieß und Ausflugsort +war, mag sie interessanter gewesen sein. ‚Musike‘ ist nicht +mehr in Neukölln, wie sie, nach dem bekannten Liede zu +schließen, in Rixdorf gewesen ist. Übrigens habe ich nur +geringe Kenntnisse von dieser Vorstadt. Seine neueren +Denkmäler, einen Reuterbrunnen und einen Friedrich Wilhelm +I. (dem König als Ansiedler der frommen Böhmen gestiftet) +habe ich mich bisher noch nicht entschließen können zu +besichtigen. Ich bin immer nur rasch mit der Tram durch +Neukölln gefahren, um wo anders hinzukommen. Vor allem nach +Britz. Wenn man in diesem kleinen Vorort an ein paar rührend +tiefliegenden Sommerhäusern aus alter Zeit und der +Tankstation mit ihren Olex- und Shell-Plakaten vorbei in die +Dorfecke einbiegt, gerät man eine schlängelnde Straße hinab +zu einem waldigen Abhang. Hat man dann noch ein Stück Weg an +‚dorrendem Geländer‘ hin zurückgelegt, so erscheint hinter +Baum und Teich — wohltuender Anblick — die Siedlung. Ihre +Farben leuchten, gelb, weiß und rot und dazwischen das Blau +der Umrahmungen und der Balkonwände. Wir gehen eine der +ausstrahlenden Straßen in den runden Komplex hinein, die +offene Seite eines Vierecks entlang, an dessen drei andern +Seiten schmale Häuser eine große Gartenanlage umgeben. +Hinterhäuser sind nirgends zu finden, den Treppen sind runde +Ausbuchtungen eingefügt. Jedermann hat sein Stück Gartenland +wie in den Laubenkolonien, nur viel gepflegter und innerhalb +eines viel gemeinsameren Ganzen. Wir kommen in den inneren +Ring und sehen endlich den Teich, die Mitte, um die sich in +Hufeisenform die ansteigenden Ufer mit einem Häuserring +fügen. In schönem Gleichmaß haben die Häuser eine Reihe +Dachluken, kleine und große Fenster und farbig vertiefte +Balkone. An der Seite, wo das Hufeisen schmal wird, hat die +glückhafte kleine Stadt ihren Marktplatz; Schaufenster von +Konsumgenossenschaften, welche die Siedler in, wie man uns +versichert, sozial rationeller Weise mit Lebensmitteln +versorgt. Wir betreten ein Haus. Auch innen ist es bunt, +aber kein überflüssiger Zierat, alles schmucklos und doch +schmuck. Das ist eine der vielen Siedlungen, die den +stärksten Vorstoß in das Chaos der Zwischenwelt, die Stadt +und Land trennt, bedeuten. Wohnungsnot, Schönheitssehnsucht, +die Richtung der Zeit auf das Gemeinsame und der Eifer der +jungen Architektengeneration waren hier wie in Lichtenberg, +Zehlendorf und andern Enden der Stadt am Werke, +menschenwürdige Wohnstätten zu schaffen. Ein Werk, das +dauernd fortgesetzt wird und wohl das Wichtigste ist, was +zur Zeit mit Berlin geschieht. Dieses neue, werdende Berlin +vermag ich noch nicht zu schildern, ich kann es nur preisen. diff --git a/16-dampfermusik.rst b/16-dampfermusik.rst new file mode 100644 index 0000000..cea0e5d --- /dev/null +++ b/16-dampfermusik.rst @@ -0,0 +1,146 @@ +.. include:: global.rst + +DAMPFERMUSIK +============ + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`‚H`\ ier können unentgeltlich Ziegelsteine +abgefahren werden. Nachfragen beim Bauführer.‘ Das sind die +Steine der alten Jannowitzbrücke, die abgebrochen wird, weil +mitten in der alten Hafenstadt Cölln am Wasser vieles neu +werden soll. Eine Untergrundbahn wird hinübergetunnelt. Es +zischt und stampft um Stahlgerüste und Walzen. Durch Schutt +und an Sperren entlang schlängle ich mich an die +Abfahrtsstelle der Dampfer, die spreeaufwärts fahren. +Vergnügungsdampfer mit Musik. Das möchte ich erleben; steht +doch auch im Baedeker, den ich jetzt immer so neugierig +studiere, unter 4. Tag, nachmittags: Dampferfahrt nach +Grünau. Aber der Mann am Schalter der +Schiffahrtsgesellschaft will, daß ich statt nach Grünau nach +der Woltersdorfer Schleuse fahre, ich weiß nicht weshalb, er +ist streng mit mir, wie viele seinesgleichen in Berlin. Er +erlaubt mir, erst noch im Restaurant am Wasser zu essen. +Inzwischen füllt sich der Dampfer, die besten Plätze werden +besetzt. Ich gedenke mit dem zweiten zu fahren, der eine +Viertelstunde später abgehen soll, werde aber im +entscheidenden Augenblick in den ersten beordert und +verfrachtet. Da bin ich wieder einmal ins Altertümliche +geraten. Hier sitzen nämlich die Leute, die noch dick sind. +In raschen Motorbooten treibt die schlanke sportliche Jugend +von heute an uns vorbei; wir aber sitzen, feiste Herren in +den besten Jahren und Madam’s in umfangreichen Stoffbergen +wie auf Altberliner Scherzbildern. Qualvoll langsam +schleichen wir vorwärts, überflüssig und müßig zwischen all +dem Fleiß der Eisenhallen, Schornsteine und Krane an den +Ufern. + +Da sind Weizenmühlen mit mächtigen Elevatoren, die das +Getreide aus dem Lastkahn heben, andre, die es mit +Exhaustoren aus den Kähnen saugen. So kommt es in die Mühle +hinein, wird gewogen, gesiebt, gewaschen, getrocknet, +gequetscht, gemahlen und wieder gesiebt, in Säcke gefüllt, +alles am laufenden Band und in gleicher Weise als fertiges +Mehl für den Weitertransport zum Kahn zurückgeleitet. Wir +kommen unter der Oberbaumbrücke hindurch. Von den +backsteinernen neu-altmärkischen Warttürmen seh ich hinüber +zu dem großen Kühlhaus, das hinter seinen Gerüsten schon +fast vollendet über den Osthafen ragt. In weiten Lagerräumen +sollen dort Tausende und Tausende von Eiern, Riesenfrachten +von Gemüse, Obst und Fleisch in Kühlzellen bis zum Verbrauch +aufgehoben werden. Drüben am Treptower Strand kommt grüner +Park ans Wasser. Ich möchte am liebsten aussteigen und zu +den Kindern gehn, die da hinten in fliegenden Kästen, auf +schwingenden Seilen sich vergnügen. Da muß doch wohl noch +die Liliputeisenbahn sein, die auf ihrer Schiene rundum fuhr +gleich der, die man im Kinderzimmer aufbaute und aufdrehte. +Es waren drei offne Aussichtswagen, die gingen hinter +kleinem Rauch zweimal im Kreise mit Läuten und Pfeifen über +Feld und durch die beiden Tunnel. ‚Klettermaxe‘ hieß die +Lokomotive, darin der Zugführer saß. Eierhäuschen heißt das +Etablissement und die Straße dahinter führt zur großen +Sternwarte. Da breitet sich auch der Rasen, auf dem das Volk +frei lagern darf wie in Versailles auf unverbotnem Gras. Ich +möchte aussteigen, aber unser Dampfer hält nicht. Zu unserer +Linken taucht nun das ‚Gelsenkirchen an der Spree‘ auf, +Oberschöneweide und dahinter Rummelsburg. Am Ufer Zillen, +die Schlacke laden, dahinter Metallwerke, die rote +Textilfabrik, das Transformatorenwerk und fern noch einmal +die Riesenschornsteine des Großkraftwerks Klingenberg. All +dieser rauchende ragende Fleiß beschämt unsre fette Ruhe, +unser elendes Schneckentempo. Jetzt machen wir gar Musik! + +Es geht an Köpenick vorbei. Das verlockt weniger zum +Aussteigen. Ich weiß zwar, hinter dem alten Burggraben, der +jetzt Ententümpel ist, erheben sich Schloß und Kapelle. Es +ist das Schloß, in dem der Kurfürst Joachim mit der schönen +Spandowerin Anna Sydow gehaust hat, das Schloß, an dessen +Tür sein Todfeind, der Ritter von Otterstedt, die berühmten +Worte anschlug: + + | ‚Jochimke, Jochimke, hüte dy. + | Fange wy dy, so hange wy dy‘. + +Aber um dahin zu gelangen, muß man durch die übliche +Langweile trister Miethausblöcke und Kaiser Wilhelmsplätze. +Hinterm Schloß gäbe es allerdings dann den Wendenkietz mit +Fischerhütten, Reusen und Netzen, und verwitterndes +Mauerwerk um den Alten Markt. . . Es sitzt aber alles Volk +so unbeweglich um mich herum, ganz der Dampfermusik und dem +künstlichen Feiertag hingegeben. Ich kann nicht durch. +Mitleidig winkt uns aus den vielen Bootshäusern, +Badeanstalten und Freibädern junges Volk zu. Und rings um +mich wird dauernd wieder gewinkt. Winken ist die +Haupttätigkeit des Dampferpublikums. + +Nun werden wir über den See transportiert und halten vor +einem Gasthaus, wo wir Rieseneisbeine essen sollen, das +steht diktatorisch angeschrieben. Und da hier viele +aussteigen, brauche ich nun auch nicht mehr bis zur +Woltersdorfer Schleuse durchzuhalten; ich klettere mit den +andern die angelegte Treppe hinunter, begebe mich unter +Preisgabe meines Retourbilletts an den Eisbeingeboten vorbei +rasch in den Wald und gehe sandige Wege unter Föhren, die im +Nachmittagslicht chinesische Silhouetten bekommen. + +Als ich dann auf die Chaussee kam, hatte ich doch noch +Glück. Ein Auto taucht auf, das ich erkenne: es ist der +Graham-Paige des Freundes. Ich winke wie ein +Schiffbrüchiger. Und nun darf ich nach all der feisten +Nachbarschaft auf dem Dampfer neben der schlanksten der +jungen Berlinerinnen sitzen, die einen Kinderballon bunt +flattern läßt, den sie von Treptow mitgenommen hat. In +erfrischendem Tempo fahren wir an hockenden Dorfhäusern +vorbei zwischen Kornfeldern und zart ansteigenden Höhen. Da +ist Königswusterhausen. Der Turm der Telefunkenstation aus +eisernem Spinnweb. Das schöne gelbe Vorgebäude des +Jagdschlosses, in dem das Tabakkollegium tagte. Wir kennen +den Tisch der Rauchkumpane aus dem Zimmer im +Hohenzollernmuseum. Ich beschreibe meiner Nachbarin des +Königs Hofnarren, den Professor Gundling in seiner +parodierten Zeremonienmeistertracht, rotem, samten +ausgeschlagenem Leibrock mit Goldknopflöchern, gestickter +Weste und mächtiger Staatsperücke aus weißem Ziegenhaar. +Obendrauf ein Straußenfedernhut, unten dran strohfarbene +Beinkleider, rotseidne Strümpfe mit Goldzwickeln und Schuhe +mit roten Absätzen. Während wir von diesem armen Narren und +seiner Welt plaudern, geht es weiter die lange Straße nach +Storkow und in halber Nacht Waldwege nach dem +Scharmützelsee. + +Spät sitzen wir auf der Terrasse des Hotels von Saarow. Oben +wird getanzt. Am Wasser ist Rampenbeleuchtung, die ein Stück +See aus der Nacht hebt. + +Zur Nacht werden wir hier bleiben und morgen wird der weite +See in unsern Fenstern sein. Und dann fahren wir über +Pieskow hinaus und steigen aus bei den hübschen, im Grünen +versteckten Häusern der Schauspielerkolonie ‚Meckerndorf‘. +Und machen in Saarow selbst Besuch in einem der +kühngiebeligen Häuser der Malerkolonie. Werden wir den See +hinauf in ferne Uferwinkel Motorboot fahren? Oder zu Fuß +durch die Wälder gehn bis zu den Markgrafensteinen? Oder +Pfade so nah als möglich am Wasser? + +Schade, daß es zum Baden schon zu spät im Jahre ist. diff --git a/17-nach-osten.rst b/17-nach-osten.rst new file mode 100644 index 0000000..c2ed9dd --- /dev/null +++ b/17-nach-osten.rst @@ -0,0 +1,542 @@ +.. include:: global.rst + +NACH OSTEN +========== + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`L`\ ohnt's noch, vom heutigen und gestrigen +Alexanderplatz zu sprechen? Er ist wohl schon verschwunden, +ehe diese Zeilen gedruckt werden. Schon wandern die +Trambahnen, Autobusse und Menschenmassen um die Zäune +breiter Baustellen und tiefaufgerissener Erdlöcher. Die gute +dicke Stadtgöttin Berolina, die hier früher von hohem +Postament den Verkehr regelte, ist abgewandert. Das +benachbarte Scheunenviertel mit seinen schiefen und geraden, +verrufenen und armselig ehrlichen Straßen und Gassen ist zum +größten Teil bereits eingerissen. Düster ragen von Süden die +Mauern des Polizeipräsidiums über die Trümmerstätte des +Platzes. Von Nordosten überwächst Häuser und Zäune der hohe +Turm der Georgenkirche. Polizei und Kirche werden so +bleiben. Aber was sonst hier noch steht, wird fast alles +eingerissen oder umgebaut werden. Die meisten Grundstücke +und Parzellen sind bereits im Besitz der Hoch- und +Untergrundbahn, die ihren Schacht gen Osten gräbt. Was sie +davon abtreten wird, darf dann der neue Besitzer nicht nach +Gutdünken bebauen, alle künftigen Bauten hier sind gebunden +an die Entwürfe des Stadtbauamts. So besteht keine Gefahr, +daß die Spekulation häßliche Mietskasernenblöcke mit +düstern, luftarmen Quer- und Hintergebäuden türmt und +kleistert. Um eine Mittelinsel, auf der Kreisverkehr +eingerichtet werden wird, sollen in Hufeisenform Hochhäuser +aufwachsen. + +Wo Altes verschwindet und Neues entsteht, siedelt sich in +den Ruinen die Übergangswelt aus Zufall, Unrast und Not +an. Wer hier die Schlupfwinkel kennt, kann in seltsame +Wohnstätten finden und führen, schaurige Zwischendinge von +Nest und Höhle. Da versteckt sich zum Beispiel in den +Kellerräumen einer abgerissenen Mietskaserne, die einen der +großen Obstläden enthielt, welche zur nahen Markthalle ihre +Wagen und Körbe sandten, hinter Schutt und Mörtel der +‚Bananenkeller‘, eine traurige Schlafstelle für Obdachlose, +die in den Nachtasylen nicht mehr unterkommen können oder +wollen. Sie kriechen hier in ihren Winkel, wenn die Lokale +rings am Platz und in den nahen Straßen geschlossen werden. +Sie ziehen die Beine nur ein bißchen näher an den Bauch und +zerren die Jacke über die Knie, wenn wir unbefugten +Eindringlinge an ihnen vorüberstolpern. Andre Kellerräume +enthalten kleine Basare, deren Inhalt an den Pariser +Flohmarkt erinnert. Da sind zu verkaufen: Konservengläser +und Karbidlampen, Vogelkäfige und Papierkörbe, alte +Zylinderhüte und Lampenzylinder, Russenkittel, ‚kaum +getragene‘ Schuhe, Schnürsenkel und Ölgemälde mit +‚Gold‘rahmen, Plumeaux und sogar Straußenfedern. Auch die +Oberwelt ist voll fliegenden Handels. Am Zugang des +Georgenkirchplatzes, wo im Regen frierende Dirnen um die +Ecke schleichen und starr stehen, sah ich aus der Zaunlücke +des Abbruchs eine graue Alte den armen Geschöpfen +weißleinene feste Unterbeinkleider hinhalten. Das sollten +sie gegen die Kälte über die durchbrochene ‚Reizwäsche‘ +ziehen. + +An Ruinen entlang, die an die Trümmer zerschossener Städte +erinnern, kommen wir in die Münzstraße und in dichtes +Gedränge. Vor dem Ausschank liegt ein Weib auf dem Boden, +über ihr, noch in Boxerstellung, einer der Gesellen in Mütze +und Sweater, die hier vorherrschen. Interessiert sehen die +Umstehenden zu. Einzugreifen wagt keiner. Es zeigt sich auch +kein ‚Grüner‘. Die Justiz, die hier vollzogen wird, erfreut +sich allgemeiner Anerkennung. Wir werden weitergedrängt. +‚Ihr seid wohl übrig jeblieben von jestern‘, ruft einer +unsrer kleinen Gruppe nach. In der nächsten Straße, ich weiß +nicht, ob wir näher oder weiter vom Platz sind, drängen sich +die Leute um einige Straßenhändler. Da ist der mit den +Krawatten überm Arm: ‚Alles für eine Mark. Die janze +Filmwelt trägt meine Binder.‘ Der drüben mit den +Schnürsenkeln scheint große Beredsamkeit zu entwickeln, aber +durch seine zahlreiche Zuhörerschaft können wir nicht +hindurch. ‚Zauberhölzchen‘, schreit’s von rechts her neben +dem Stand mit den Visitenkarten, die gleich mitzunehmen +sind, frisch von der Prägemaschine. Dampf steigt warm auf um +den Schild ‚Bouletten von Roßfleisch, Stück 5 ch.‘. Jetzt +sind wir, glaube ich, in der neuen Königstraße. Hier +interessieren mich am meisten die Anschläge und Aufschriften +über und an den Läden: ‚Hundeklinik und -Bad, Hunde- und +Pferdescheranstalt‘ und kleiner darunter ‚Kupieren, +kastrieren, schmerzl. Töten‘. ‚Der neue Hut, aber ein +Cityhut muß es sein‘, ‚Künstlergardinen‘ (was für Vorhänge +mögen das sein?). Und vor einer tiefen Tür ‚Achtung! Hier im +Keller ist Rattengift gelegt.‘ Ein Laden umfaßt zweierlei +Gewerbe: Übersetzungsbüro und Kunststopferei. + +Zurück in die Gegend des Platzes und nach Osten. War hier +die Ecke oder auf einer andern Wanderschaft oder — nur +geträumt, wo ich oben am Erkerfenster die Inschrift Hotel +verkehrt, auf den Kopf gestellt, bemerkte? Ein seltsam +grausiger Anblick, der das ganze Haus gespenstisch machte, +dies ⅂Ǝ⊥OH¡ + +Noch eine ganze Strecke weiter kann ich nicht auf die Straße +und die Menschen sehen, sondern bleibe mit den Augen an der +Riesenliteratur anpreisender Worte auf Bretterzäunen und +Schaufenstern der kleinen Läden und großen Ausverkäufe +haften. In der Auslage des Tabaksladens kniet eine Nymphe im +Lendenschurz unter einem Baum mit stilisierten Blättern, +neben ihr wartet, wie sonst ein Krug, ein Aschbecher mit +einer Steingutzigarette. Das ist ‚Flora Privat, leicht, süß, +duftig, die Siegerin der 2 Pfennig-Zigaretten‘. Im Papier- +und Galanteriewarengeschäft finden sich zwischen Rhein- und +Weinliedern und der kuriosen Witzkiste die ‚neuen +Tanzschellenbänder, eine reizende Spende‘. Überraschend sind +manche Wortbildungen. Die ‚Naturange‘ erschreckt ja auch in +andern Stadtteilen, aber ‚Stilla Sana‘, den stärkenden +Wermutwein, habe ich nur hier bemerkt. Er stand neben +anerkannt vorzüglichen und preiswerten Fruchtweinen ‚zur +Einsegnung und Jugendweihe mit 5% Rabatt‘. Erstaunlich ist +auch das ‚Darmgleitmittel Rodolax‘. Leibharnische finden in +dieser Gegend die umfangreichsten Damen, Passendes für die +stärksten Figuren, zum Beispiel den neuen Hüftformer mit +Magenbinde. Der ‚Kavalier‘ kann den eleganten Tanzschuh +kaufen, der vorn recht spitz ist. Über die käferbraune Mitte +des Promenadenschuhs schließt sich die schwarze Kappe +wie mit einem Bändchen. Es gibt auch treuherzig +Kleinbürgerliches: ‚Borgen Pech / Ware los / Gäste weg‘, +schreibt ein Wirt an seine Destillentür, und in der ‚Grünen +Quelle‘ hängt überm elektrischen Piano das Bild eines Löwen +und darunter steht geschrieben: ‚Brülle, wie ein Löwe +brüllt, wenn das Glas nicht vollgefüllt.‘ Neben greller +Werbewoche im ‚Küchenhimmel‘ und ‚Möbelcohn‘ wirkt rührend +volksliedhaft die etwas blasse Inschrift an einer +Handelsgärtnerei ‚Blumen für Freud und Leid‘. + +Bei solcher Lektüre sind wir in die Große Frankfurterstraße +geraten. Betäubendes Sägen und Rasseln dringt über den +Bretterzaun, der die Mitte des Dammes absperrt. Auf die +Männer, die den Hammer niederprasseln lassen und Stricke +ziehen, welche über Winden laufen, lächelt aus der +Maskengarderobe für Ernte- und Kinderfeste, Volks- und +Ländertrachten ein Wachsmädchen in Brünnemieder und weißer +Haube herab. Das Eisengerüst der Dampframme ragt vier +Stockwerk hoch. Und dort, wo das Pflaster aufgerissen ist, +schimmern frühlingsgrün in der herbstlichen Straße +Zementsäcke, die übereinandergeschichtet liegen. Einer der +Arbeiter, die sie einen nach dem andern leeren, trägt eine +ebenso grüne Joppe, die angeleuchtet wird von der Gasflamme +neben der Maschine wie Parklaub von den Kandelabern +vornehmer Avenuen. Er schüttet den Zement auf eine Stelle, +auf die von andern eine braune Masse geschippt wird. Und die +Mischung dringt in den Behälter, der sich wie eine +Baggermaschine im Kreise bewegt und seinen Inhalt in einen +Schlund gießt, aus dem die Masse feucht in die wartende +Lore fällt. Die karrt die Beute fort bis dahin, wo die +vorangewanderte Schicht austrocknet, und das Feuchte wird an +das Trocknende gepappt. Kleine Jungen bestaunen mauloffen +das Schauspiel der Arbeit. Und auch die Großen bleiben +stehn. Zuschauen können die Berliner noch immer wie in alter +Zeit, als sie es noch nicht so eilig hatten wie heute. Nur +scheinen inzwischen ihre Sachkenntnisse gewachsen zu sein. +Es sind nicht mehr die Naiven, die Hosemann gezeichnet hat, +wie sie auf die großen Röhren der englischen Gasgesellschaft +starren und sagen: ‚Wenn ick nur wüßte, wie sie das Öl durch +die Kanone da ruff kriegen.‘ + +Am Straßenrande erwarten uns neue Versprechungen. Der +Hackebär hat eigne Wurstfabrik. Seine neue Bauernkapelle ist +da. Es wird wieder den alten Betrieb geben, Stimmung, Humor. +Viel Volk wartet schon unter wehenden Wimpeln. In einen +Salon im Hinterhaus locken von der Wand des Durchgangs +Friseur und Friseuse aus weißer Pappe. Gewaltige Filmreklame +verkündet Amerikas berühmtesten Cowboy und den Grafen von +Cagliostro. Der hohnlächelt über ihren Fächer weg auf eine +schmerzlich stirnrunzelnde Brünette. Dunkle Nebenstraßen mit +altertümlich sanften Namen unterbrechen unsern grellen Pfad. +Ach, der alte Weinkeller mit den einladenden Strophen an +schräger Wand über den tiefen Stufen! + +Und jetzt stehn wir am Torweg zum Rosetheater. Gegeben wird +‚Der Verschwender, Romantisches Volksstück von Ferdinand +Raimund‘. Es fängt erst in zehn Minuten an. Wir können noch +den Durchgang zu Ende gehn bis zu den herbstlichen Skeletten +der Laubengänge, die hier ein Sommerzelt bilden. Da steht +gegen himmelhohe Brandmauer — wie eine Kulisse vor +Theaternacht — mit grünen Pilastern und Fensterrahmen licht +ein altertümliches Häuschen. Hier wohnten vielleicht früher +die, denen das Theater gehörte, und damals war gewiß der +Eingang von der Gartenseite; denn hier führen breite Stufen +einer alten Terrasse in das Schauspielhaus. + +Wir haben unsre Plätze im Saal eingenommen und schauen ein +wenig umher. Die vielen Mädchen in rosa und hellblauen +Blusen! Mit nackten Armen, aber nicht ganz nackten, wie sie +unsere ausgeschnittnen westlichen Damen haben, sondern mit +breiter Atlaspasse über der Schulter. Seht dort im +Proszenium die Reihe Gesichter, die noch ihres Berliner +Daumier harren, den alten Angestellten, der über dieser +selben Krawatte und dem hohen Kragen um 1900 einen Verdruß +gehabt hat, wovon noch ein Schreck in seinen Gesichtsfalten +geblieben ist, und neben ihm eine der gestrengen Gattinnen, +deren energische Züge an ihren weiland Landesherrn, den +Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, erinnern. Und der dicke +Hauseigentümer. Und der magere lockige Friseur. Schaut +hinunter ins Orchester, wie tief es wohnt in einem Kasten +rot wie Ochsenblut. Schaut hinauf zu den silbrigen Schwänen, +die ihre Hälse unter die Brüstung des Ranges schmiegen. + +Der Vorhang geht auf vor dem prächtigen Saal des +Verschwenders, der soviel Freunde und Lakaien hat. Wand und +Gewänder sind koloriert wie in unsern liebsten +Kinderbüchern, und zwischen den vornehm Bewegten und +Redenden stehn kleine Sophas wie in den Puppensalons unserer +Schwestern. Ganz Märchenwelt ist Fels und Himmel hinter der +Fee Genistane, die starr und hold steht wie aus Zuckerkand. +Wie auf unsern Glückwunschkarten damals die dickere Blume +sich öffnete über der zarteren, so gehn große Pappblumen auf +vor ihrem dienstbaren Geist Azur. Nah ihren betenden Händen +ist ein kleiner Steinaltar streng klassizistisch und +makellos wie ein Altberliner Grabmonument. Eine Kinderstimme +hat diese Fee, die Stimme eines eifrigen Kindes, das +aufsagt. Aufsagend steht sie zum Publikum, nicht zu dem +geliebten Schützling gewandt, als sie von ihm Abschied +nimmt. Und sowohl seine trauernden Gebärden als ihre Verse +kommen jedes für sich zu uns. Das ist ergreifender als +manches berühmte Zusammenspiel. Gestalten, von denen sie +sagt, daß sie ihr erscheinen, streifen hinten über die +Himmelswand. Und nun sinkt sie in den Spalt, wo es +vielleicht noch tiefer hinuntergeht als hier vor uns in das +Orchester. Als sie verschwunden ist, nahen dem Verlassenen +tröstliche Schleierbreiterinnen. Es sind dieselben Mädchen, +die im Schloß vor den lächelnden Gästen Ballett tanzen. +Langsames Ballett mit deutlichen Pausen zwischen den +einzelnen Figuren. Die Tänzerinnen nicken zu den Zäsuren der +Musik. Mit Würde tragen sie ihre weißen Gewänder. Und auch +im andern bunteren Kostüm, einer Art spanischer +Dirndltracht, bleiben sie unter dem rasselnden Jubel ihrer +Tamburine feiertäglich. Im Schlosse des reichen Julius von +Flottwell (muß man mit solchem Namen nicht verschwenderisch +leben?) könnt ihr noch lernen, was Reverenzen waren, wenn +Julius den Präsidenten, der ihm nicht wohl will, Amalie, die +Geliebte, und seinen Nebenbuhler, den Baron Flitterstein, +begrüßt. Mißtrauen, Leidenschaft und Haß muß er zurückhalten +hinter der weltmännischen Verbeugung und uns doch sehen +lassen. Schönes altes Theater, wo die Bettler wunderbare +Mönchskutten haben und wankende Stäbe. Wo überm schwankenden +Schiff Blitze durch den Seesturm zucken und die jagenden +Wolken anstrahlen, viel zauberischer als die Berliner +Lichtwoche ihre Monumente. So verlockend ist keins eurer +Schaufenster beleuchtet wie in der kleinen Felsschlucht der +Schatz, den Genistanes Bote zuletzt, zu guter Letzt ihrem +verarmten Julius schenkt. + +Geht schnell gen Osten, solang es noch hinter den Kinos und +Varietés solch altes rotgoldnes Theater gibt! + +Darüber haben wir nun aber die vielen Kinos und Varietés der +Gegend versäumt. Man könnte noch in den Tanzpalast zur Möwe +eintreten, wo altdeutscher Ball für die ältere Jugend +stattfindet. Aber der Schub der heimkehrenden +Sonnabendtheatergäste drängt uns in entgegengesetzter +Richtung ein Stück in die Frankfurter Allee hinein. Eine +Erinnerung taucht auf. Die Januartage 1919: da flogen hier +Granaten entlang. Der Kampf um Lichtenberg! Und wenn man +zurückgedrängt wurde, in engen Gassen die Schleichhändler +mit Brillanten, Seife und englischem Tabak, Feldgraue mit +Rauchwaren und mit Schokolade aus dem besetzten Gebiet, +Leierkasten mit der Marseillaise, Gitarrengezupf. . . + +Eine Wackeldroschke poltert uns zurück zum Alexanderplatz +und ein paar Straßen nach Norden und hält vor einem lärmend +vollen Lokal. Über Bechern und Mollen, wendischen +Backenknochen der Mädchen und zartfrechen Knabengesichtern +ragt die Trompete des backenaufblasenden Krauskopfs, den +eine Dame mit Broderien am Kragen auf dem Klavier begleitet. +Der fettnackige Wirt erzwingt uns unter seinen alltäglichen +Gästen etwas schonungslos Platz. ‚Ich küsse Ihre Hand, +Madame‘, das wird hier ebenso gern gehört wie im schicksten +Westen, aber dann abgelöst von einer Art Militärmarsch, den +alles Volk mit preußischem Eifer mitsingt. Wir brauchen aber +nicht zu glauben, etwa in ein nationalistisches Lokal +geraten zu sein. Gerade kommt ein Bursche an unsern Tisch, +der eine Unterstützungskollekte für die Streikenden im +Westen zum Unterschreiben vorlegt. Ein sentimentales +Rheinlied steigt hinauf zu dem Transparent ‚Riesendampfwurst +50 ch‘. Ein paar Jungen setzen sich an eine Seite unseres +Tisches und rücken langsam, noch mißtrauisch und schon +zutulich, näher. Aus dem, was sie übertreibend und +abschwächend vorbringen, ist zu entnehmen, daß sie keine +‚Bleibe‘ haben. Mit den Zufallskameraden von gestern wollen +sie nicht übernachten. Sie werden vielleicht auf +‚Bodenfahrt‘ gehn, wenn nichts andres sich bietet. In +manchen Häusern findet sich ein gutmütiger Bewohner, der +denen, die auf dem Boden kampieren, morgens warmen Kaffee +bringt, er hat vielleicht selbst in seiner Jugend unterm +Stadtbahnbogen geschlafen. Er weiß, wie’s tut, kein Quartier +zu haben. Einer von den Jungen führt uns weiter durch ein +Gewirr von grellen und düstern Ecken. Er weiß hier ein +‚schnaftes‘ Tanzlokal. ‚Polarstern‘ heißt es oder so +ähnlich. Ein tiefes Berliner Zimmer. Über dem Zugang zum +Nebenraum ein Lambrequin starr und staubig. Aus dem +Hintergrund kommen Mädchen- und Jungenpaare zum Tanz, zu dem +zwei zusammengeschrumpfte Musiker Klavier und Geige spielen. +Es wird hingebungsvoll getanzt, wie wir das aus ähnlichen +Stuben und ‚Dielen‘ kennen, nur verzweifelter, so scheint es +uns wenigstens, und noch genußsüchtiger — als lauere Elend +oder Gefahr. Es ist nach ein Uhr. + +Unser Führer (darin sind die eleganten und die kragenlosen +Bummler von Berlin einander ähnlich) muß noch weiter, in die +Gegend der Kommandantenstraße und hinter das Hallesche Tor. +Unterwegs will er uns nahe bei der Markthalle etwas zeigen. +Wir stehn wieder dem Polizeipräsidium gegenüber. Er schiebt +uns durch ein niedriges Tor in die Wärmehalle. Er belehrt +uns über die geduckten und aufrechten Gestalten. Er +unterscheidet Einheimische und solche, die ‚auf der Walz‘ +sind. Hier darf nicht geraucht, gesungen, Karten gespielt +oder gehandelt werden. Aber ein bißchen gehandelt wird doch, +meist eine Art Tauschhandel, wie es scheint. Geschenkte oder +‚gefundene‘ Kleidungsstücke, die einem andern besser passen. +Einer nah am Ofen tauscht Schmöker gegen Brot ein. Sind es +Fußlappen oder Zeitungen, was der da auf der Holzbank aus +dem abgezogenen Stiefel holt? Beim Hinausgehn seh ich, daß +wir unterm Stadtbahnbogen sind. Wir kommen in eine Straße, +wo es nach Obst riecht, aber die Speicher der Früchte sehen +aus wie Kontore. Hier wird auch am Tage nicht an den +einzelnen verkauft. Der Markt von Berlin breitet sich nicht +auf die Straße aus wie der an den Hallen in Paris. +Wunderliche Auslagen in den nächsten Fenstern, in einem +lauter Pappe und Einschlagepapier, ‚Schlächter- und +Butterbrotpapiere‘, ‚Würstchenteller in allen Größen und +Preislagen‘, Wiegeschalen, Kisten und Einsätze, eine ganze +Negerhütte aus Bast, von einer nächtlichen Katze bewacht. Um +die Ecke: ein koscheres Restaurant und ein Hotel mit +geheimnisvollen Gardinen. An einer fensterlosen Mauer ein +Zettel wie ein Wahlanschlag: ‚Deutsche Frühkarpfen für die +Herbstsaison‘. Wir kommen unter die Eisensäulen des +Viadukts. Diese Stadtbahnarchitektur sieht heute so +altertümlich aus. Nur ein Blick in den Wartesaal. Bündel und +Säcke als Kopfkissen der sitzend Schlafenden. Leeres Glas +und mattes Blech des verlassenen Büfetts. Draußen vor +wartenden Wagen halbschlafende Pferde spreizbeinig starr. +Eine Kneipe, wo Markthelfer auf ihre Arbeit und Arbeitslose +auf eine Gelegenheit warten. Ein paar Chauffeure rühren in +der Löffelbrühe. Marktfahrer zeigen einander Stücke aus +ihren Körben und besprechen kaufmännisch die ‚Lage‘. Der in +Hemdsärmeln, der zwischen den Tischen entlang geht und +Bekannte und Unbekannte beobachtet, ist nach der Meinung +unseres Führers der ‚Rausschmeißer‘. Heute bekommt er nichts +zu tun. Zwischen dem Alten, der in seinen Bart brabbelt, und +der dicken Marktfrau, die über ihrem Korb eingenickt ist, +erscheint an der Banklehne ein wunderbar gemeißelter +Jünglingskopf in offnem Hemd. Er schläft tief und selig auf +dem harten Holz wie in paradiesischen Gefilden. Über ihm ein +handgeschriebener Anschlag: ‚Laden für Gänseausnehmen zur +Saison abzugeben (Laufgegend)‘. In eine gegenüberliegende +auch schon oder noch offne Bierstube werden wir nicht +eingelassen. Die soll nur für reisende Händler sein. Das +sind die Makler zwischen den Kleinbauern und den Berliner +Gemüsehandlungen. + +Nun wird es Zeit, die Halle selbst zu betreten. Dort werden +wir als Müßiggänger geduldet, aber nicht so wohlwollend +ironisch empfangen wie der Noceur von Paris in den Ständen +vor und in den Hallen. Kartoffelschälerinnen schauen etwas +verdrossen zu unserer Gruppe auf. Neben seinem Wagen der +Bursche in samtener Mütze und mit schönen Stulpstiefeln und +auf dem andern Wagen der in leuchtend grüner Jacke, die +durch grauen Dämmer strahlt, drehen finster die Köpfe nach +uns. Nur der kleine Graukopf, der, aus dunklem Seitengang +kommend, uns unter ‚Resi noch besser als Rahma‘ begegnet, +nickt freundlich und flüstert uns auf sächsisch unflätig +anspielende Verse auf die verschiedenen Margarinesorten zu. +Wir stolpern hinaus zwischen Porree, Lauch und Rübe. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Heim. Ein paar Stunden Schlaf. Um sechs habe ich Rendezvous +zum Besuch der andern Zentralhalle, der des Blumenmarktes. + +Frühmond über blau-leerem Asphalt. Wechsellichter von Tag +und Nacht auf den Panzern des Hochbahnhofs. Nachtglanz in +der Station. Ich nehme Platz zwischen Barhäuptigen und +Mützen, Schürzen und Kitteln, Kiepen und Körben. Über die +Eisennetze des Gleisdreiecks und den Kanalabgrund unter der +Möckernbrücke zum Halleschen Tor. + +Eine Zeitlang steh ich bei den frierenden Statuen der +Brücke, die einen Gewerbe- oder Ackerbauzweig zu +allegorisieren versuchen. Aus Gelesenem und alten Stichen +taucht das Bild des wirklichen Halleschen Tores auf, die +niedrige Stadtmauer, mehr Gartenmauer als Wehr (sie sollte +wohl auch weniger verteidigen als Fremden- und +Steuerkontrolle ermöglichen und die Desertion erschweren), +die beiden Mauerpfeiler des Tores, oben durch eine +Eisenstange verbunden. Steinerne Schmuckvasen. Solang es +hell ist, stehen die Torflügel offen. Die Zolleinnehmer und +die Dragoner der Torwache sitzen beim Kartenspiel, bis +wieder eine Hammelherde kommt. Dann hat der Einnehmer der +Schlachtsteuer Arbeit. Jede Herde, die in die Stadt soll, +muß gezählt werden. Die Torflügel werden beide geschlossen, +es bleibt nur eine Klappe offen. Und während sich draußen +Volk und Vieh staut, wird zunächst der Leithammel +hereingelassen. Nach ihm die andern, Stück für Stück, am +vorgehaltenen Fuß des zählenden Zöllners vorbei. Ich sehe, +wie sie sich klemmen und drängen, während ich in die Leere +von Brücke und Platz starre. Da aber kommt vom Hochbahnbogen +her mit einem Schub Umschlagetücher und Mützen, Bastkörbe +und Rucksäcke mein Bekannter, der junge Blumenhändler, der +mich mitnehmen will. + +Wir gehn über das Rondell des Bellealliance-Platzes und die +Friedrichstraße hinauf bis an den Eingang zu dem +bahnhofbraunen Gehöft, über dessen Torstein ein städtisches +Bärenwappen prangt. Im Hofgang werden hinter verblichenen +Schaufenstern einige Arrangements künstlicher Blumen +sichtbar, wie man sie von französischen Friedhöfen kennt. In +der Halle wird mein Führer von aller Welt gegrüßt. Die gute +Frau aus Zossen, die hinter ihrem Grünzeug hockt, nimmt ihm +seinen Korb zum Aufheben ab. Ihre Nachbarin erzählt: ‚Bei +uns sind heut nacht zwei Mädchen angekommen‘. ‚Fruchtbare +Gegend Mariendorf‘, sagt mein Begleiter. ‚Na, nu mußt du +dich auch ranhalten, Karle‘, meint die Zossnerin. Ein +vorüberstreifender Kollege macht eine Art Terminhandel mit +Karl und fragt ihn dann: ‚Hast du Affenflöten ?‘ Karl gibt +ihm eine Zigarette. Das da, zeigt er mir, sind reiche Leute, +denen gehört ganz Werder und denen daneben halb Teltow. Er +geht eilig von Stand zu Stand, wählt, handelt, bestellt und +nimmt Bestellungen mit. Zwischen den blaßbunten Haufen +heimischer Herbstblumen lagern enggebunden Rosen, die mit +Flugpost aus Holland gekommen sind. Es wird flink gehandelt +und dabei fliegen Witzworte hin und her zwischen dem jungen +Mannsvolk und den alten Weibern. Auch untereinander necken +sich die Männer. Mit den jungen Frauen sind sie leiser und +vorsichtiger. Aber alle hier sind morgendlich munter. Man +ist gut aufgelegt trotz häufiger Wechselfälle. Es war doch +schon Frost heut nacht. In Britz sind alle Dahlien erfroren, +erzählt die Frau, die mit dem Kaffeetopf und den +Pflaumenkuchen kommt und bei der im Stehen gefrühstückt +wird. Das hört man sich mit einer Art ländlichem Fatalismus +an. Mit einmal komme ich mir vor wie unter Stadtbauern alter +Zeiten, als noch innerhalb der Tore viel Gemüsegarten und +Acker war. Wir machen noch ein paar Schritte in die +Topfhalle zu den Chrysanthemen. Die Topfhalle ist angebaut +worden, weil es in der großen schon zu voll war. Aber bald +wird das ganze Gehöft nicht mehr ausreichen. Die Halle wird +in die Vorstadt verlegt werden. Der alte Kirchhofsgärtner +aus Westend begrüßt meinen Begleiter, er sieht etwas +verächtlich auf die Straßenhändler, die bei der Frau in der +Türecke ‚Mist‘, das ist Ausschuß, kaufen. Er ist +alteingesessen. Schon seinem Vater hat die Gärtnerei der +Besitzer einer Tiergartenvilla geschenkt, bei dem er vor +sechzig Jahren Gärtner war. An Armen voll papierumwickelter +Veilchentöpfe und lose gebundner Chrysanthemen schieben wir +uns vorbei. Der brave Kumpan, der meines Begleiters Einkäufe +in seinem Lastauto mitnehmen will, geht mit uns über die +Straße in eine Destille, wo eine Molle ‚gehoben‘ wird. +Draußen sind zwischen Karren, Wagen und dicken Gäulen schon +die Straßenreiniger an der Arbeit. Noch einmal zum Abholen +in die Halle. Da wird auch schon aufgeräumt, während noch +ein paar Alte aus schrumpflichen Portemonnaies und Junge aus +Westen- und Hosentasche zahlen. Schmutz und Rest bleibt in +Berlin nirgends lange liegen. Diese Stadt räumt gern auf. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Gemüse und Blumen sind nun ‚erledigt‘. Bleibt das Fleisch. +Also auf zum Zentral-Vieh- und -Schlachthof im Osten. Schon +der alte Viehmarkt, der bis 1871 bestanden hat, war am +Landsberger Tor. Ein Stück weiter östlich erstreckt sich +jetzt über ein Gebiet von fast 190 Morgen der Riesenkomplex +mit Ställen, Verkaufshallen, Schlachthäusern, +Verwaltungsgebäuden, zweigeteilt von der Thaerstraße, +durchzogen von Triebstraßen, begrenzt von den langen Rampen +an der Ringbahn, deren Viehbahnhof 15 Kilometer Gleis und +eine große Anzahl von Ausladebuchten umfaßt. Erst bekomm ich +die Menschen zu sehn, Beamte, Tierärzte und im Börsengebäude +Viehhändler in langen Mänteln, Agenten, +Großschlächtermeister. Mein Führer erzählt mir die Arbeit +der Kommission, welche die Preise bestimmt, Auftrieb, +Untersuchung und Unterbringung der Tiere, den Handel durch +Handschlag. Er zeigt mir die hintereinanderlagernden Hallen, +die der Rinder, die der Hämmel und die riesenhafte +Schweinehalle, die in ihren Buchten ungefähr 15.000 Tiere +faßt. Sie reicht im Norden bis an die Rampen der Geleise, +auf denen das Vieh aus den Provinzen angerollt wird. Und +längs der Rampen erstreckt sich die lange schmale +Kälberhalle. Da nach Osten, das sind die Stallungen, die +Dungverladung, der Seuchenhof, die Häutesalzerei usw. An den +Markttagen öffnen sich die Hallen, und durch drei Tore +werden Rinder, Kälber und Schafe hinübergetrieben zum +Schlachthof. Die Schweine wandern ihren besonderen Weg längs +der Schienenstränge. Wir gehn in den Schlachthof hinüber und +dort einer Schweineherde nach, die zum neuen Schlachthaus, +einem mächtigen roten Gebäude, trottet. Wir sehen, wie +unterm Stock des Treibers die bunt gezeichneten rosagrauen +Rücken und die Ringelschwänzchen in der Luke verschwinden +Nun stehn wir drinnen in der weiten Halle. Weißer Dampf +steigt auf von den Brühkesseln. Da aus dem kleinen +Holzverschlag kommt das erste Schweinchen herausgeschlüpft, +lautlos und vertrauensvoll seinem Mörder entgegen. Das ist +ein hübscher junger Bursche in Hemdsärmeln. Er holt gelassen +aus mit dem Beil und schlägt dem Tier vor den Kopf. Es legt +sich sanft auf die Seite. Und während ein andrer auch sehr +sympathisch aussehender junger Mann ihm den Halsstich +versetzt, zucken nur noch die Beinchen. Da wartet ja schon +das nächste und ein drittes drängt sich hinterdrein. Ich +wundre mich, daß sie gar nicht quieken, weder hinter dem +Verschlag noch hier unterm Beil. Ich muß immer wieder das +Gesicht dessen ansehn, der den Schlag tut. Merkwürdig: die +Viehhändler vorhin, die Agenten und Schlächtermeister sahen +eigentlich viel blutrünstiger drein als dieser Jüngling mit +der zarten Gesichtsfarbe, der die Mordtat vollzieht . . . +Wir kommen ins Rinderschlachthaus. Da gibt es eine rituelle +Ecke. In der steht vor dem kopfunten hangenden Rind der +Schächter, der ihm den Halsschnitt gemacht hat. Er hat einen +schwarzgrau und scharf vorstehenden spitzen Bart. Auf +welchem alten Bild hab ich solch einen Bart gesehen? Die +Hämmel muß man besuchen, wenn sie abgezogen werden. Es ist +erstaunlich, wie säuberlich und glatt das zugeht. Sind sie +an einer Stelle aufgeschnitten, so greift ihnen einer, der +es versteht, ganz sanft unter den Pelz, das Fell gleitet +weich und spurlos ab, und darunter erscheint ein Wesen aus +hellem Elfenbein. Es geht überhaupt sehr säuberlich zu auf +diesem Massenmordhof. Blut und Entsetzen wird rasch +fortgewaschen, Geschlinge, Kuttel und ‚Kram‘ werden +beiseitegeschafft. Bald ist der Boden wieder blank wie +spiegelndes Parkett. + +Von Halle zu Halle wandern wir bis zum Ausgang. Die +Eisenstäbe, die dort wandentlang ziehen, das sind die +Laufkatzen, daran die an Haken aufgehangenen Tiere +transportiert werden. Noch ein Blick in das große Gehöft des +Fleischmarktes. Den hätte man eigentlich zu früherer +Morgenstunde besuchen müssen, wenn er von Wagen und Menschen +wimmelt. Die Gebäude dieser Sonderstadt sind neueren Datums +und imposante Schöpfungen. Im Kühl- und Gefrierhaus kann man +die weiten Räume mit den tausend verzinkten +Eisenblechkäfigen des Konservenfleisches besuchen. + +Soll ich heute noch weiter nach Nordosten vordringen? Heut +ist in Weißensee Pferdemarkt. Da werden sowohl Reitpferde +als auch alte Klepper verkauft. Auch dort wird der Handel +durch Handschlag abgeschlossen. Ein andermal. diff --git a/18-norden.rst b/18-norden.rst new file mode 100644 index 0000000..50eb7fd --- /dev/null +++ b/18-norden.rst @@ -0,0 +1,201 @@ +.. include:: global.rst + +NORDEN +====== + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`S`\ o sehr ich unsere Schaufenster im Westen liebe +mit ihren immer neuen Gruppierungen, Beleuchtungen, +Überraschungen — in der Woche vor Weihnachten wird’s mir zu +üppig hinterm Glase. Immer wieder diese Lebensmittelmassen +(Mittel, die kein Zweck zu heiligen imstande ist. Eher +schänden sie ihn), diese riesigen ‚Freßkörbe‘, in denen +Schnapsflaschen, Würste, Ananas und Trauben mit schimmernden +Schleifen gebunden und auf Tannenstreu gebettet überquellen! +In allen Preislagen wird mit der Ware zugleich seelenvolle +Aufmachung feilgeboten, um den Berlinern, die ‚zu nichts +kommen‘, das reizende Selber-Basteln, -Betten und -Binden zu +ersparen. Immer wieder die Buchläden mit dem kolorierten +Märchenaufguß für die lieben Kleinen. Und die Wälder von +versilberten Tannenzapfen zwischen Nickel- und Eisenwaren, +Fichtennadeln, die aus Schuhen kriechen, Lametta, das auf +Schlupfer schneit. Jahrmarkt-ähnlicher wird es, wo richtige +Buden stehn. Neben Christbaumschmuck aufblasbare Gummiwesen +zum Quieken, rote und grüne Quetsch-Affen. Eine Frau läßt +vor ihrem Verschlag einen künstlichen Piepmatz auf dem +Trottoir die Bewegung des Pickens machen und sagt dazu: ‚Das +neueste von der Leipziger Messe.‘ Und als ich vor diesem +Phänomen eine Weile stehn blieb, wandte sich der +Mitverkäufer persönlich an mich: ‚Noch so einen einpacken, +Herr Chef?‘ Merkwürdige neuzeitliche Nuance der +ehrerbietigen Anrede. Früher hätte er ‚Herr Doktor‘ gesagt. +In München schlechthin ‚Herr Nachbar‘. + +Das war, glaub ich, am Leipziger Platz. Je tiefer ich in die +Stadt und nach Norden kam, um so kleinstädtischer und echter +wurde der Weihnachtsmarkt. Und das Angebot in den Auslagen +der Geschäfte war nicht mehr so schrecklich distinguiert. Da +stand dick (es war die Gegend des Rosenthaler Tors) ‚Was wir +bieten‘ und ‚Dreipreis 25, 50 und 95 ch.‘ Und ‚Gänsebrust +das beste Festgeschenk‘. Und die kleinen Gänsebrüste hingen +ohne weitere Tannenzutat wartend aufgereiht. Die Wagen am +Straßenrand waren voll billiger derber Pfefferkuchen. +Wurstbuden unterbrachen den bunten Kram mit warm wehendem +Dampf. Immerhin vermißte ich manches von der rührenden +Kleinwelt des alten Berliner Weihnachtsmarktes. Nirgends +hörte ich das frühere ‚Zehn Pfennig der Taschenkalender‘ von +Kinderstimmen. Zur Zeit, als wir das hörten, erinnerten sich +unsere Eltern an das ‚Einen Dreier das Schäfchen‘ noch +früherer Zeiten. Und wo sind die Knarren und Waldteufel hin? +Aber keine Neuzeit vertreibt die Tannenbäume. Wo immer das +Trottoir sich platzartig erweitert, stehen sie zum Verkauf, +stattliche und rührend dürftige. Auch ganz winzige mit drei +bunten Kerzen. Man erzählt, gestern soll hier in der Nähe +ein Lager mit ein paar hundert Bäumen ausgeplündert worden +sein. Gefühlvolle Räuber! Wie behandelt die +Rechtsgelahrtheit diese Art Diebstahl? Dies Brennholz mit +Imponderabilien? Dies nicht lebensnotwendige Bedürfnis. Auch +in den übelsten Schenken bei bösen pflaumenaugigen Hexen +steht ein Bäumchen auf schmierigem Tischtuch. Das Christkind +kann’s immer noch mit dem Radio aufnehmen. + +Durch die Ackerstraße nach dem Wedding zu. Selbst diese +traurige Gegend bekommt etwas vom Weihnachtswald und bunten +Markt ab. Aus dem Hof der riesigen Mietskaserne, dem ersten +Hof — sie hat wohl fünf oder sechs, eine ganze Stadt von +Menschen wohnt darin. Alle Arten Berufe lassen sich erraten +aus den Anschlägen: Apostelamt, Pumpernickelfabrik, Damen- +und Burschenkonfektion, Schlosserei, Lederstanzerei, +Badeanstalt, Drehrolle, Fleischerei . . . Und noch so und +soviel Schneiderinnen, Nähterinnen, Kohlenmänner, die in den +endlosen, grau-rissigen Quer- und Seitengebäuden hausen — +aus dem ersten Hof dieses Musterbeispiels der Wohnverliese +von gestern kommen durch den runden Torweg drei Burschen, +einer mit der Gitarre, die beiden andern mit Kerzen, die sie +im Gang auspusten. Die spielen und singen hier von Hof zu +Hof Weihnachtslieder und halten dabei ihre brennenden Kerzen +in den Händen. + +Die Wölbungen dieser Torgänge geben dem Großstadtelend +wenigstens noch ein Gesicht. Sonst ist hier im Norden wie +auch in den proletarischen Teilen von Schöneberg oder +Neukölln den Häusern von außen meist nicht anzusehen, +wieviel Armut sie bergen. Wie die Menschen keine bunten +Lumpen tragen — leiser Trost des Bettlers in +Mittelmeerländern, daß sein Elend ein Gewand hat —, sondern +abgeschabtes Bürgerkleid und verwetzten Soldatenrock aus dem +unerschöpflichen Tuch des Krieges, so haben auch die Gebäude +eine heruntergekommene Bürgerlichkeit. Sie stehn in endloser +Reihe, Fenster an Fenster, kleine Balkone sind vorgeklebt, +auf welchen Topfblumen ein kümmerliches Dasein fristen. Um +eine Vorstellung vom Leben der Bewohner zu bekommen, muß man in +die Höfe vordringen, den traurigen ersten und den +traurigeren zweiten, man muß die blassen Kinder beobachten, +die da herumlungern und auf den Stufen zu den drei, vier und +mehr Eingängen der lichtlosen Quergebäude hocken, rührende +und groteske Geschöpfe, wie Zille sie gemalt und gezeichnet +hat. Manchmal scharen sie sich um einen Leiermann, der hier +noch eher auf Almosen hofft als in bürgerlichen Quartieren, +oder um die Sängerinnen der Heilsarmee mit ihren +rotbebänderten Hüten und militärischen Mänteln, die den +Armen dieser Welt die Reichtümer des Jenseits versprechen. +Wer Gelegenheit hat, die dumpfen Stiegen hinaufzutasten bis +zu den armseligen Wohnküchen mit ihrem Kohldunst und den +Schlafkammern mit dem säuerlichen Säuglingsgeruch, kann +‚lernen‘. + +Auch in den Gesichtern derer, die gegen Abend aus den Hallen +der Ringbahnhöfe Wedding und Gesundbrunnen kommen und durch +die Straßen oder an Zäunen und Baustellen entlang ins +Trostlose heimtrotten, steht allerlei geschrieben. Man muß +aber länger hineinsehn, auf den ersten Blick lassen sich +diese Menschen nicht soviel anmerken wie andre Völker, die +einen leichteren, unmittelbareren Weg vom Gefühl zur Geste, +zum Ausdruck haben. Umso mehr Kräfte sammeln vielleicht +diese Zurückhaltenden und Gefaßten für ihren Kampf gegen den +größten Feind der Menschheit von heute. + +Humboldthain: nur ein paar größere Buben jagen um den +Spielplatz. Für die kleinen, die man hier im Sommer auf den +Sandhaufen sah, ist es schon zu kalt. Auch von der berühmten +Spielbank der Arbeitslosen ist heute nichts zu sehn, die im +Herbst hier im Grünen auf den Bänken Karten auf rote und +bunte Taschentücher als Spielteppich warf, Zahlen erschallen +ließ und mit kleinen Münzen klapperte. Da gab es +Spielergesichter über kragenlosen Hälsen so ernst und +versunken wie die über den Frackhemden von Monte Carlo. Soll +ich die Ringbahn nehmen, zur Landsberger Allee fahren und in +den Friedrichshain gehn, um spielende Kinder zu sehn? Dort +findet nämlich richtiger Wintersport statt in diesen Tagen. +Dort wird den ‚Kanonenberg‘ hinuntergerodelt, immer zwei und +drei auf einem Handschlitten — + +Nein, heut will ich lieber weiter nach Norden ins Freie. In +der Badstraße seh ich zwischen den Häusern einen dünnen Bach +fließen. Das ist die gute Panke. Ich muß an die Stelle in +der Karlstraße denken, wo sie noch heimlicher fließt mitten +zwischen hohen Hinterhausmauern, sie, die einstmals nah +ihrer Mündung in die Spree ein hübsch eingerichtetes +Badehaus gehabt haben soll und jetzt ein recht trübseliges +Wässerchen geworden ist. + +Auf einer Trambahn lese ich: Pankow, Niederschönhausen. Ich +springe auf. Und nun fahr ich durch dies seltsame Gemisch +von Großstadt und Gartenstadt, wo es Musterbeispiele von +allem gibt, dazu noch den Schloßpark mit seinen alten Eichen +und den Bürgerpark mit dem stolzen Toreingang, die üblichen +Vorstadtstraßen und halb dörfliche mit den lieben, etwas +eingesunkenen Häuschen derer, die vor bald hundert Jahren +hier aufs Land zogen, dann nahe bei Villen vornehmer alter +Bankierfamilien Baracken, die aus der Kriegszeit stammen, +voll kinderreichem Elend, und weiterhin Kleingartenkolonien. +Und dann in Parkeinsamkeit das Schlößchen von +Niederschönhausen, ganz verlassen und verschlossen, die +hohen Fenster innen von Brettern verstellt. Da wohnte zur +Sommerzeit Friedrichs des Großen Gemahlin, die arme +Elisabeth Christine. Von dieser Vergessenen würde man, glaub +ich, selbst wenn man in das Schloß hineinkönnte, keine Spur +finden. + +Auf dem Rückweg kam ich in der Badstraße gerade zurecht, um +im Kinotheater die Revue zu sehn. Eine Revue mit fünf +Tanzmädchen. Um ihre zackig gerahmten Bewegungen war noch +Rest der Eierschale tüchtiger Einstudierung zu spüren. Wie +die Flitterstreifen über sie liefen und auf +Vogelscheuchstangen des Reifrocks von ihnen abstanden, +während sie sangen: ‚Wenn die Sterne wandern — Nachts am +Himmelszelt — Einer sagt’s dem andern — Schön ist’s auf der +Welt!‘ Ach, und die eine im Falterkleid, die am Hintergrund +festsaß ganz wie ein aufgespießter Schmetterling. Und die +südlich bekleidete Busendame, die das Lied sang: ‚Wenn in +Sevilla . . .‘ Und ihr Partner, der sein Spanisches trug wie +ein Lakaienhabit und beim Singen immer auf sie und ihren +Busen zeigte. Und zuletzt die historische Modeschau von Evas +Feigenblatt übers Keuschheitsschloß der Gattinnen alter +Ritter, als welche, laut begleitendem Gesang, gleich so bös +und bitter wurden, bis zu den Hemdhöschen von heute. +Zwischendurch durfte sich ein Soldat in einer Küche recht +zynisch aufführen und Späße machen, die fast der *Gaité +Montparnasse* würdig waren (wir werden Weltstadt!). Zuletzt +aber standen Silbersterne über Apotheoseköpfen, Silbersterne +wie vom Weihnachtsbaum, und die guten Mädchen wurden +himmlische Heerschar, die den Hirten erscheint. Mir war es +noch nicht genug mit dem einen Theater. Ich war noch am +Weinbergweg, wo in alter Zeit Mutter Gräberts berühmtes +Stullentheater geblüht haben soll und noch jetzt eins blüht, +das zwar Lachbühne heißt, in seinem Riesenprogramm von acht +Uhr bis nach Mitternacht aber auch ein ernstes Liederspiel +enthält, und gerade das bekam ich zu sehn. Es hieß +‚Zigeuner‘. Ob nun die schöne Else von Felsing im Jagdgewand +auftrat und an des Zigeuners Sohn wieder gut machte, was man +seiner entführten Mutter angetan, ob der grüne Oberförster +Wolter, Hand an der vorstehenden Flinte, mit strenger +Forderung auftrat, ob die Liebenden flüchteten oder die +Zigeunermusikanten eins sangen, fast die ganze Zeit stand +die alte Minka in der rechten Ecke und rührte die Suppe über +dem Holzfeuer. Dann schloß sich der Vorhang rund um die +Bühne, die auch seitlich vom Zuschauerraum eingefaßt ist. Es +war ein Sonnabend abend. Das Theater war voll dankbarer +Einwohner einer der vielen Kleinstädte von Berlin. diff --git a/19-nordwesten.rst b/19-nordwesten.rst new file mode 100644 index 0000000..876470d --- /dev/null +++ b/19-nordwesten.rst @@ -0,0 +1,361 @@ +.. include:: global.rst + +NORDWESTEN +========== + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`W`\ o sich heute die Museen an der Invalidenstraße +erheben (zwischen dem der Landwirtschaftlichen Hochschule +und dem geologischen das für Naturkunde, darin man den +berühmten Urvogel bewundern kann und allerhand saurische +Zeitgenossen von ihm in Skelett oder Abguß), da ließ einst +der Alte Fritz Maulbeerplantagen anpflanzen, damit seine +Invaliden Seidenraupenzucht trieben. Ein Stückchen weiter +nach Norden steht noch heute das Invalidenhaus, das er +*‚laeso et invicto militi‘* errichtete. Es lag damals in +ödem Gebiet, das einst Sandscholle hieß. Dort soll sich der +Sand bisweilen so hoch an der Stadtmauer gehäuft haben, daß +man über sie weg in die Stadt reiten konnte. Schön ist der +Eingang zu dem Invalidenhaus mit der rundgewölbten Holztür +und dem Oeil de bœuf darüber. Im Hof sieht man Kanonenrohre +liegen, verrostende Kriegsvergangenheiten. Und viele +berühmte Kriegsmänner ruhen auf dem Invalidenfriedhof +daneben. Das ist einer der Altberliner Kirchhöfe, wo man +noch eine ganze Reihe schöner Grabmonumente zu sehen +bekommt. Antikische Helme auf Schilden oder eine Steinvase +von wunderbar einfacher Größe auf Grabsteinen der Obersten +und Kommandanten des Invalidenhauses, Friesens schwarzes +Kreuz, Scharnhorsts hohen Marmor mit dem sterbenden Löwen, +Trophäen über Winterfeldts Grab und die Zinkplatte über dem +Grabe Tauentziens. Auch einen der preußisch neugotischen +Turmbaldachine, die nach Schinkels Entwürfen in der +königlichen Eisengießerei geschaffen wurden. + +Es ist schön, hier von Stein zu Stein zu wandern; so dicht +wie hier sind nur noch selten die Monumente der älteren +Berliner Friedhofkunst beisammen, Denkmäler der Zeit +Schadows und Schinkels und der spätfriderizianischen Zeit, +die Grazie und Strenge so einzig vereinte. In der +Chausseestraße, am Prenzlauer Tor und südlich vom Halleschen +Tore und in einigen andern in der Altstadt verbliebenen +Kirchhöfen kann man ähnliche efeuumgebene Wege in die alte +Grabkunst wandern zu den Malen Berühmter und Vergessener. +Leider muß man dabei oft vorbeifinden an den Kuppeln, +Baldachinen und Bogenhallen, zu deren ‚geschmackvoller‘ +Herstellung in bestem Material und jeder Preislage +allmählich eine große Industrie sich entwickelte. + +Auf diesen schönen kleinen Friedhof war ich geraten, statt +mich, wie beabsichtigt, ans andre Ende der Invalidenstraße +zum Kriminalgericht zu begeben, um zu meiner Belehrung einer +Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Das hatte ich einmal getan +vor Jahren, als ein Gotteslästerungsprozeß vorgeführt wurde, +bei dem Zeugen, Richter und Angeklagter zum Teil +ausgezeichnet spielten, nur der, welcher den Staatsanwalt +gab, chargierte zu sehr und war von unwahrscheinlicher +Witzblattkomik. Ich komme vielleicht doch noch zurecht, +suchte ich mir einzureden. Die Trambahn brachte mich rasch +vorbei an dem ehemaligen Hamburger Bahnhof, der so hübsch +ungebraucht aussieht (es ist aber ein Verkehrsmuseum darin), +am Humboldtshafen, Lehrter Bahnhof und Ausstellungspark. Ein +Blick auf den festungsartigen Komplex des Zellengefängnisses +mit dem mächtigen Turm, dann stieg ich aus vor dem Löwen, +der vor dem Gerichtsgebäude die Schlange des Verbrechertums +bekämpft. Am Sockel dieses Löwen steht derselbe Künstlername +wie an dem seines Vetters, der in der nach ihm benannten +Allee des Tiergartens sich über seiner verwundeten Löwin +drohend aufrichtet. Er hat aber gar nichts Furchtbares, +dieser gute Gatte, besonders für unsereinen, der von +Kindheit an so oft an ihm vorbeispaziert ist, daß er wie +Spielzeug auf dem Bord der Erinnerung steht. An diesen +lieben Löwen dachte ich und hatte nun gar keine Lust mehr, +in das große rote Haus zu gehn, das der Schlangentöter +bewacht. Ich schlich, wie hinter die Schule, an einer Seite +des mächtigen Fünfecks entlang, kam in die freundlichen +Anlagen des kleinen Tiergartens und sah auf das eifrige +Treiben vor der Meierei Bolle, vor der gerade eine Menge der +jedem Berliner Kind wohlvertrauten Milchwagen ankamen und +hielten und in ihren blauen Schürzenkleidern die Mädchen und +Burschen sich von den Rücksitzen schwangen. Unter die hätte +man sich mischen sollen, um Heimatkunde zu treiben. Statt +dessen trieb es mich nordwärts durch die Anlagen in eine +Querstraße der langen Turmstraße. + +Und da bin ich ganz zufällig in etwas recht Berlinisches +hineingeraten. Da standen an dem Eingang zu einem der +Etablissements, die Vor- oder Familiennamen der Hohenzollern +mit Schultheiß- und Patzenhoferausschank verbinden, einige +Leute, denen es festlich unterm Mantel vorschaute. Und so +mutlos ich vor den Löwen der Gerechtigkeit und den +Bollemädchen gewesen war, hier faßte ich gleich bürgerliches +Vertrauen und ging mit hinein in die Feier des sechsten +Stiftungsfestes eines Musikvereins, der eine +Liebhaberaufführung veranstaltete. Eine Operette sollte +gegeben werden von einem der Mitglieder. Man saß an Tischen +und bekam Kaffee und Kuchen, es war ein Sonnabend +nachmittag. Die Vorstellung begann mit einem tiefen Knix, +einem Hofknix aus alter Zeit, wie man ihn heutzutage selten +zu sehen bekommt. Den führte die Dame aus, welche den +Begrüßungsmonolog aufsagte. Und dann wandte sich der Herr +Kapellmeister und Komponist an das hochverehrte Publikum und +wies auf die unvermeidlichen Schwierigkeiten hin, die es +‚Dilettanten, die doch nur in den Mußestunden ihrer +Berufstätigkeit sich der Kunst widmen können‘, bereitet, +eine ganze Operette einzustudieren und mit unzureichenden +Mitteln aufzuführen. Die Operette spielte in dem +spezifischen Operettenlande zwischen Wien und dem +Türkenreich, wo soviel Gräfinnen, Lebemänner, Zigeuner, +bunte Bäuerinnen, Schmuggler und schicke Leutnants wohnen. +Und die vollschlanken Damen des Chores bewährten sich sowohl +als Landmädchen wie als vornehme Gäste der Schloßsoiree. Die +Hauptdarsteller wurden nach jedem Solo und Duett heftig +beklatscht und mußten das meiste wiederholen, nicht nur +Scherzhaftes, sondern auch Gefühlvolles wie ‚Mädel sag mir +ein Wort / Mädel, ich muß gleich fort!‘ Und das hatten sie +ebensogut verdient wie unsre berühmten Kammersänger, die als +berühmte Personnagen aus dem 18. Jahrhundert ihre +Partnerinnen wie Blasebälge an die mächtige tonbildende +Brust pressen und immer wiederholen, wie sehr sie sie +lieben. + +Dabei befanden sich diese Ausnahmskünstler ziemlich +kritischen Zuhörern gegenüber, die zum großen Teil die +Proben des Musikvereins miterlebt hatten und sich auf +Nuancen verstanden. Mir sind sehr subtile Äußerungen aus dem +Publikum zu Ohren gekommen. So meinte zum Beispiel eine +Tischnachbarin von der einen jugendlichen Liebhaberin, sie +hätte nicht das Schwarze anziehn sollen, das sie zu alt +macht, sie hat doch ein Lila . . . Wie es bei den großen +Premieren üblich ist, müßte man eine Modeschau schreiben, +nicht nur von den Künstlerinnen, auch vom Zuschauerkreise: +Wo sie Rosen sitzen hatten, die würdigen Damen mit den +Häkelschals überm Ausschnitt, wie diskret die dunklen +Seidenkleider der kräftigen Mütter, wie zartfarben die +Toiletten der schmalen Töchter waren. Zu loben wäre die +äußerst korrekte Festkleidung der Herren, die manchen +Theaterabend im Westen Berlins beschämte. Wilhelm II., der +als Admiral auf der Kommandobrücke aus einem Wandbild auf +seine weiland Untertanen niederschaute, konnte mit seinen +Moabitern zufrieden sein. + +Behufs Czardas hatte der Komponist und Regisseur seinen +Getreuen die nötige Menge Feuer ins Blut gezaubert. Mit +Fingerschnalzen und Hüftenstemmen wurde er getanzt. Doch +auch der mondäne taillentastende, herüber und hinüber +nickende Schieber gelang, vor allem aber der Walzer, von dem +wir aus einem Liede erfuhren, daß er doch der schönste aller +Tänze sei. + +Und nach der Vorführung hat dann Publikum und Künstlerschaft +in dem andern Saale weitergetanzt, da, wo die Bilder +Wilhelms I. und Friedrichs III. hängen. In diese Lust wagte +ich aber nicht mich zu mischen. + +Auf Umwegen unter Ringbahnbögen über Kanalbrücken geriet ich +in die Gegend, wo die Chausseestraße in die Müllerstraße +übergeht, und ein Stück dieser endlosen Stadt- und +Vorstadtstraße hinauf. Da war an jeder Ecke und auch +zwischendurch auf dem Trottoir Straßenhandel mit den +verschiedensten Gegenständen. Ein kragenloser junger Bursche +mit langen scharfen Falten auf fahlen Backen bot +illustrierte Hefte feil mit Aktphotos. Er rief dazu: ‚Was +das is? — Sexualetät is das. Und was is Sexualetät? Ganz was +Natürliches. Wie sieht der Mensch aus? So und nich anders. +Einer geniert sich immer nur vor dem andern. Sonst würd’s +jeder kaufen, der kein Sittlichkeitsapostel is . . . Du jeh +man lieber nach Haus‘, wandte er sich zwischendurch an einen +Minderjährigen. ‚Für dich is es noch nichts. Mutter sucht +dir schon mits Motorrad.‘ + +Ein Stück weiter gleich hinter den Manschettenbuketts und +den bunten Kinderwindmühlen hatte Einer Stock und Hut auf +der Erde liegen und stand nachdenklich davor, was allgemeine +Aufmerksamkeit erregte. Dann zeigte er auf seine Stirn, als +fiele ihm was ein. Er hob den Stock auf, den ihm ein Junge +hielt. Er schraubte da was hinein, hing daran Hut, Rock und +Mantel auf und rief ‚Zehn Fennije der Kleiderschrank‘. Und +dann hielt er der Versammlung eine Rede, die so schön war, +daß ich versucht habe, seine Worte in Verse zu bringen: + + | ‚ZEHN FENNIJE DER KLEIDERSCHRANK!‘ + + | Ick spüre Ihre stumme Frage: + | Wat soll mit dieses Zeug jeschehn? + | Sie kommen alle in die Lage, + | Wodrin Se mir hier stehen sehn. + + | Im Walde jibt et keene Bänke, + | Det Jras macht Rock und Hose jrien, + | Im Freibad jibt et keene Schränke, + | Wo sollen de Klamotten hin? + + | Da muß der Mensch sich wat ersinnen. + | Det hab ick Ihnen mitjebracht, + | Sie könn’t an jeden Baum anpinnen, + | Sehn Se ma her, wie man et macht. + + | Du Kleener, halt mer ma de Stange. + | Sie sehn, da is keen Schwindel mang. + | Een Jriff — keen Hammer, keene Zange — + | Und fertig is der Kleiderschrank. + + | Se haben weiters keene Spesen, + | Die Sachen hängen tadellos. + | Und woll’n Se wieder heimwärts peesen, + | Een Ruck — schon is de Nadel los. + + | Und daß se Sie nich in de Beene + | Und durch den Hosenboden sticht, + | Davor is diese liebe Kleene + | Ooch noch zum Klappen einjericht’t. + + | Hier, bitte selber zu probieren. + | Det rostet nie, bleibt immer blank, + | Se können’t mit Papier polieren. + | :letterspace:`Zehn Fennije der Kleiderschrank!` + + +Dann stand da Einer in weißem Mantel wie ein Assistent der +Klinik angetan. War es der, welcher echte Glaserdiamanten +hatte, oder der mit dem Universalfleckreiniger oder dem +Continentalkitt? Er hatte Mikrophon und Lautsprecher neben +sich, weil ihm die eigene Stimme nicht ausreichte. Es +dröhnte von seinem Tisch her wie der Lärm eines wütenden +Bauchredners. Auch den alten Wäscheschoner habe ich hier +wiedergesehen, von dem Hans Ostwald so schön das ‚Boniment‘ +festgehalten hat: »Sämtliche Kapazitäten haben diesen +Wäscheschoner untersucht und mir Gutachten ausgestellt . . . +In dieser Zeit, wo doch jeder sauber aussehn muß, ist der +Wäscheschoner ein Rettungsengel . . . Sie nehmen den weichen +Stehumlegekragen, schlagen ihn auf, legen den steifen +Wäscheschoner hinein, schlagen ihn zu. So . . . Wie sitzt +er? Straff und elegant. Und wenn sonst der Kragen nach +wenigen Stunden unsauber ist, jetzt können Sie ihn acht Tage +tragen. Wer solchen Wäscheschoner trägt, wird stets alle +Mitbewerber aus dem Felde schlagen.« Auch der neueste +Krawattenhalter tauchte auf. »Ein Griff — und weder die +genähte Krawatte noch der Selbstbinder kann aus dem Kragen +rutschen. Der vollendete Krawattenhalter. Wir schonen unsere +Schlipse!« Und drüben steht der Bücherwagen. Der hat hier +weniger Käufer als in großbürgerlichen Gegenden. Dafür aber +doch viel Zuspruch. Einige lesen im Stehen eine ganze +Zeitlang in den Schmökern und Heften. Und der gute +Wagenhüter läßt sie ruhig gewähren. Manche kommen alle Tage +vorbei und lesen immer ein Stückchen weiter. Eine rollende +Leihbibliothek! + +Dort wo das Pflaster aufgerissen ist, haben die Kinder aus +dem aufgeschütteten Sand Berge mit Tunnels gebaut. Aus den +Häusern schauen ihnen auf ihre Fensterkissen gelehnt die +Mütter zu. + +Nach Tegel führen schöne Wald- und Wasserwege von Spandau +her. Aber zur Erkenntnis der merkwürdigen Zwischenwelt, die +man Weichbild, Bannmeile, ‚wartendes Land‘ nennt, empfiehlt +sich die Strecke, welche die Trambahn zurücklegt, und ihre +nähere und weitere Umgebung. In dieser problematischen Zone +ergibt sich ja selten der sanfte Übergang, der bei Dorf oder +Kleinstadt Wohn- und Wanderwelt verbindet. Meist schneidet +plötzlich die Häuserreihe mit blinder Mauer ab. Und was dann +im Felde umherliegt oder aufragt, macht die Leere nur noch +leerer: die Schuppen, die Zäune aus Stacheldraht, die +gestapelten Tonrohre, die Schlöte einzelner Fabriken, Lager +und Schienenstränge für Warentransport. Aber das Volk von +Berlin fürchtet und bekämpft instinktiv alles Chaotische, +Unbestimmte, es versucht, so gut es geht, überall +aufzuräumen und zu ordnen. Es arbeitet eifrig, alle Leere zu +füllen. Wo Bauland längere Zeit freisteht, hat es seine +Schrebergärten, seine Laubenkolonien angelegt, diese rührend +gepflegten Stätten mit ein bißchen Haus und Acker, +Gemüsebeet und Blumengarten für jede Familie, woraus dann +eine blühende Gesamtheit, ein Riesenbeet, ein +Tausendblumengarten geworden ist. Und obwohl — oder +vielleicht weil — diese Welt ein nur flüchtiges Dasein hat +(denn immer wieder bedroht sie die Neuausdehnung der Stadt +und die Baulust der Unternehmer), so haben doch diese +Laubhütten und Gärten nichts Provisorisches oder +Nomadisches, sie sehen wie dauernde Paradiese aus, sind +proletarische oder kleinbürgerliche Gefilde der Seligen. Die +hemdsärmeligen Mannsleute, die da säen, Mütter, die gießen, +Töchter, die Schoten pahlen, scheinen nie etwas andres getan +zu haben. Ihr Dasein in den Gärten wirkt nicht wie eine +abendliche oder sonntägliche Erholungsfrist von Leuten, die +tagsüber das Pedal der Nähmaschine treten, Drähte ziehen und +Stäbe hämmern, Krane und Turbinen bedienen, Leichtes +verpacken und Schweres verladen. Sie scheinen lebenslänglich +unter Kletterrosen und Sonnenblumen nur mit Petersilie, +Mohrrübe und Bohne zu tun zu haben. Und ihre idyllische +Arbeit wird nur abgelöst, sollte man denken, von +Festlichkeiten, zu denen die Nachbarn sich vereinen. +Anschläge des Pflanzervereins ‚Erholung‘ laden ein zur +italienischen Nacht, den Kindern wird verheißen ‚Onkel Pelle +ist zur Stelle‘, die Kolonie Waldesgrün verspricht +musikalische Abendunterhaltung. Wie hier südlich der +Müllerstraße gibt es um Berlin unzählige solcher +Kleingärten, die zusammen einen grünen Streifen rund um die +Stadt bilden, der einzelne Abzweigungen im Innern behalten +hat, sich nach außen gürtelhaft zu schließen strebt, immer +wieder etwas verschoben und stellenweise durchbrochen wird. +Teile dieses Glückstreifens bleiben manchmal eine Zeitlang +mitten im Häusermeer zurück und bilden mit den Parks und +Gartenplätzen das grüne Glück des Großstädters. Von diesen +Parks sind einige, hier im Nordwesten wie im Norden und +Süden, an die Peripherie gelegt und helfen die Schrecken des +Weichbildes verdrängen. Wo einst die kahlen Rehberge waren, +eine Sandwüste, nur von Schießständen und Schuttablagerungen +unterbrochen, sind jetzt bis an den Rand des Kiefernwaldes +weite Rasenflächen, Abhänge voll Mohn und Wildrosengebüsche, +schneeige Felder von Margueriten. Auf braunem Sand laufen +Kinder in Badehosen herum, die größeren tummeln sich auf dem +Sportplatz, die ganz kleinen werden von den Müttern über +blanken Kies spazieren gefahren, und auf hoher Bank, von der +man 'weit über Kirchhof und Wasser bis zu den Schornsteinen +der Siemensstadt und denen hinter Plötzensee sieht, sitzen +an bienenumsummten Blumenbeeten alte Männer auf ihre Stöcke +gestützt. + +Auch nördlich der Müllerstraße gibts eine hübsche +Gartenwelt, den Schillerpark. Und wäre ich, statt hier an +der Trambahnstrecke zu bleiben, südlich tiefer in das weite +Gebiet der Jungfernheide gedrungen, so hätte ich hinterm +Spandauer Schiffahrtskanal nach Westend zu wieder einen +großen Volkspark gefunden. Aber nun fahr ich Tram durch das +Dorf Wittenau, wo vor Fabriken und Schuppen die +kleinstädtischen Straßen zurückweichen und sozusagen wieder +der ‚Ernst des Lebens‘ beginnt. Und auch Tegel fängt, wenn +man von dieser Seite kommt, recht städtisch an. +Strafgefängnis, Gaswerk und die große Maschinenfabrik und +Eisengießerei von Borsig. Das Tor und die Teile des +Komplexes, an denen wir nahe vorbeifahren, sind schon etwas +altertümlich. Aber dahinter ragt das neue zwölfstöckige +Turmhaus, ein schmucklos stolzer, scharfkantiger Belfried +der Arbeit. Dann endlich kommen wir in Busch- und +Gartenland. Ich steige aus und gehe in den Park der +Humboldts. Das Schloß hat ihnen Schinkel aus einem Jagdhaus +des Großen Kurfürsten umgebaut. Versonnen und vornehm die +Fensterreihe. In den Nischen Götterstatuen. Und oben +griechische Inschriften. In einem Zimmer ist Licht. Jetzt +wird auch ein Fenster der großen Saalreihe hell. Es ist also +nicht verlorene Vergangenheit, dies edle Gebäude. Menschen +wohnen darin, für die Statuen und Bilder und vielleicht auch +noch Möbel des Schlosses Familienbesitz, ‚Überlieferung und +Gnade‘ sind. Begleitet von der Wärme dieses Lichtes geh ich +einen Parkweg bis zu der Grabstätte der Humboldts und ihrer +Nachkommen. Über den efeubedeckten Grabplatten erhebt sich +eine hohe Säule mit der Marmorstatue der Hoffnung. + +Danach mochte ich nicht gleich in die Stadt zurück, ich +wanderte lange durch tiefe Sandwege zwischen mageren Kiefern +und Föhren in der Gegend von Saatwinkel. Märkische Mischung +von Wüste und krüppeligem Urwald. Bis schließlich ein Zaun +auftauchte und dahinter ein leerstehendes Gartenlokal. Auf +Mauerwerk verblaßte Inschriften: Allheil, Eingang zum +Waldschlößchen. Und deutlicher auf einem Lattenschild: +Continental Bau-A. G. Die Straße führte über den Spandauer +Kanal und schließlich zu Gebäuden und Trambahnschienen. + +Und dann fuhr ich durch Siemensstadt heim, vorbei an den +Türmen: Blockwerk, Schaltwerkhochhaus und dem Wernerwerk mit +dem Uhrturm, dessen Zifferblatt weithin die Stunde strahlte. diff --git a/20-friedrichstadt.rst b/20-friedrichstadt.rst new file mode 100644 index 0000000..eb6b28c --- /dev/null +++ b/20-friedrichstadt.rst @@ -0,0 +1,408 @@ +.. include:: global.rst + +FRIEDRICHSTADT +============== + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`N`\ ovembernachmittag. Silbergraues Licht über dem +Schiffbauerdamm. Vom gegenüberliegenden Reichstagsufer seh +ich die Häuserreihe und als Abschluß ein Stück von der Halle +des Friedrichstraßenbahnhofs, hinter der ferner und näher +Kuppeln mit rauchdünnen Konturen in die Luft eingehn. Von +dieser Gegend habe ich in Ebertys Erinnerungen eines alten +Berliners gelesen, wie sie vor hundert Jahren aussah, als +der Knabe mit seinem Hauslehrer sich hier erging und auf das +jenseitige Ufer blickte, das damals ganz mit Gärten bedeckt +war. Da sah man Laubengänge und Lusthäuschen, teils im +chinesischen, teils im griechischen Geschmack. Sie +schimmerten durch die Lücken im Laub und schienen dem +kleinen Eberty der Inbegriff alles Wunderbaren. Er fragte +den Lehrer nach den Bewohnern der lieblichen kleinen +Paläste, und der lehrte in ernstem Ton, da drüben sei der +Himmel, wo die guten Kinder hinkommen, die auf Erden recht +artig gewesen sind und ihren Eltern Freude gemacht haben. +Reizende Engel mit goldenen Flügeln warteten dort auf sie, +um die schönsten Spiele mit ihnen zu spielen. Ja, damals muß +da drüben ein schönes Jenseits der Spree gewesen sein. Es +war die Zeit, als die nahe Dorotheenstraße noch die Letzte +Straße hieß, in der die Rahel so gern spazierte. Geblieben +sind aus dieser Zeit wohl nur Schloß und Garten Monbijou und +ein paar Nachbarhäuser und noch Einzelnes nahe dem +Hackeschen Markt. Sonst ist die Gegend jetzt alles andre als +märchenhaft. Aber dort in der Vertiefung geht es noch heute +zu einem Märchenpalast. Er heißt Großes Schauspielhaus, war +früher ein Zirkus und ehedem eine Markthalle. Sein Innres, +einst Stätte steiler Kunstreiter und taumelnder Clowns, dann +des Thebanerchors, den Reinhardt gegen die Stufen des +Palastes zum König Ödipus stürmen ließ, faßt jetzt die +Tausendundeine Nacht und tausendundein Bein der großen +Revuen. Die Meister dieser herrlichen Kindervorstellungen +für Erwachsene (und das ist das höchste Lob, das ich +auszusprechen vermag, denn diese Schöpfungen befriedigen +sowohl unsre reiferen Lüste als auch unsre Kinderlust an +Märchenwelten über Traumrampen) haben einen neuen Genre +geschaffen zwischen Revue und Operette, getanztes zertanztes +Bild, getanzte zertanzte Musik, bald für den Riesenraum +hier, bald für die verwandten kleineren Bühnen. Und die +Besten unsrer darstellenden Künstler haben ihnen geholfen. +Ich meine nicht die Kammersänger, die mit gepflegtem +Stimmvibrieren das erfreuliche Tanz- und Ausstattungswesen +unterbrechen, ich meine Max Pallenberg und Fritzi Massary. +Wir haben mit schweifenden Balken und Trichtertürmchen +Titipu, die Märchenstadt des ‚Mikado‘ aufsteigen sehn, +wallende Lampions, porzellanene Bäume und zwischen Drachen +und bunten Garden, zwischen Pfauen und Zwergen die Tanzchöre +in Wachstuch und Seide. Und Pallenberg als Koko +schlimmheilig und verschmitzt auf Treppen trippelnd, +porzellanen vor Porzellanbäumen hockend, Reime malmend und +wegspuckend. Und in den Rahmen der auferstandenen +Jahrhundertwende, der Schleppen, Korsettaillen und +Riesenhüte, der Samtvorhänge und Blattpflanzen, des +wiegenden Walzers und der Maxixe hat die wunderbare Frau ihr +Chanson eingefügt mit schneidender Strenge und schimmerndem +Übermut, mit sparsamer Kunst und zitternder Lust, in jeder +Gebärde gehalten und gelöst. + +Ein paar Straßenecken vom Großen Schauspielhaus bekamen wir +in neuen Reimen das alte Singspiel vom trotzigen Elend, die +Lumpenballade, genannt ‚Dreigroschenoper‘, gepfiffen und +gesungen. + +Drüben hinter der Weidendammerbrücke probt man jetzt wohl +für den Abend Musik und Tanz in der Komischen Oper und im +Admiralspalast. Ebertys Zaubergärten sind in die Kulissen +gewandert, und am Tage ist hier im Freien keine sehr heitre +Gegend. Hinterm Schiffbauerdamm beginnt mit großen und +kleinen Kliniken, wissenschaftlichen Buchhandlungen, +chirurgischen und orthopädischen Schaufenstern das Quartier +der Medizin. Aber mittendrin in behütetem Abseits weiß ich +unser Deutsches Theater und die Kammerspiele. Als ich vor +einiger Zeit wieder einmal dort war, auf einem +vortrefflichen Parkettplatz den Bühnengesichtern schminkenah +saß und berühmte Glanzleistungen in einem amerikanischen +Artistendrama vor mir hatte, mußte ich in den Pausen, ja +auch während gespielt wurde, bisweilen verstohlen +hinaufschauen nach den Mittelplätzen des zweiten Ranges. +Ach, ihr Gleichaltrigen, wißt ihr noch? Es waren die Plätze +19 bis 26. Man lief ein paar Tage vor der ersehnten +Vorstellung früh an die Kasse, um noch die besten Plätze zu +bekommen. Man saß dicht unter den Medaillons der Devrient +und Döring an der Decke. Man sah Josef Kainz! — Ungeheuer +wichtig und zentral war damals in unserm Leben das Theater. +Warum ist es das nicht mehr? Ist es eine Frage des +Lebensalters oder hat sich in der Zeit etwas geändert? +Eigentlich waren die Berliner doch immer große +Theaterenthusiasten. Wie mögen sie in alter Zeit für die +Schmeling, die marmorn auf dem Schreibtisch des Königs stand +und als billige Lithographie in der Stube des Handwerkers +hing, wie für die Henriette Sontag geschwärmt haben! Nun, im +Leben der Stadt spielt das Theater auch heut eine große +Rolle. In der Trambahn und in der Gesellschaft wird viel von +der Bühne gesprochen. Aber bei allem Anteil an neuen +Problemen der Regie, der Erneuerung des Alten, der +revolutionären Tendenzen, ein richtiges Theatervolk wie etwa +die Wiener sind die Berliner doch nicht. Das hängt nicht nur +mit dem jetzigen Stande des Schauspielwesens, sondern auch +mit dem Volkscharakter zusammen. + +Die Berliner, und besonders die besseren, womit ich keine +Stufe der Bildung, sondern einen Grad der Echtheit +bezeichnen möchte, sind etwas mißtrauisch gegen das, was +ihnen unmittelbar gefällt. Und so haben sie als Publikum +nicht die Naivität des schlechthin Genußsüchtigen. Obendrein +kommen sie auch nicht wie die Pariser behaglich nach dem +Essen ins Theater mit der Aussicht auf eine angenehme +Fortsetzung der Konversation bei Tische, sondern hungrig und +kritisch. Es wird ihnen dann wohl so ziemlich das Beste +geboten, was es heute an Regie und Schauspielkunst gibt. Der +Namen sind so viel, daß ich keinen nennen will. Aber schau +dir das Publikum an! Eine Mischung von Verdrossenheit und +höflicher Andacht ist in den Gesichtern. Wenn sie dann +ablehnen, sind sie entrüstet, sie lachen das Verfehlte nicht +aus, sondern sind ungehalten, daß es ihnen zugemutet wird. +Und wenn sie sich begeistern, geschieht es auch mit einer +Art Entrüstung gegen einen imaginären Gegner, der sich nicht +genug begeistert. Ob sie wohl jemals von Herzen glücklich +sind im großen Theater? So glücklich wie das Publikum der +Vorstadtbühnen? So zu Hause im Genuß? + +:centerblock:`\* \* \*` + +Dorotheenstraße. Ein Glücksfall öffnet mir die +Dorotheenstädtische Kirche. Endlich einmal kann ich das +Grabmal des Königskindes, des neunjährig verstorbenen Grafen +von der Mark, sehn, Schadows berühmtes Erstlingswerk, den +schlafenden Jüngling mit Schwert und Kranzgewinden und im +Halbrund über ihm heidnische Parzen, denen der Tod die +Christenkirche aufgetan hat. Der Kirche gegenüber steht +inmitten höherer städtischer Nachbarn Schlüters letzte +Schöpfung, ein Landhaus, das erst das Buen Retiro eines +Staatsministers war, seit über hundertfünfzig Jahren aber +merkwürdigerweise einer Freimaurerloge, der Royal York, +gehört. Der vorspringende Mittelteil ist wie in sanfter +Bewegung, die in den Gesten der Figuren auf dem Dach — zwei +von diesen Statuen regen sich fast wie Tänzerinnen — sich +leidenschaftlicher fortsetzt. Eine wunderliche Spielerei +findet sich an einigen Seitenfenstern, nämlich +steingemeißelte Fenstervorhänge. Zeitgenossen fanden, es sei +‚ein überaus nettes, nach der neuesten Baukunst errichtetes +Lusthaus‘. Ein Kunsthistoriker der siebziger Jahre des vorigen +Jahrhunderts hat den Eindruck, daß die Willkürlichkeiten und +Spielereien, die ursprünglich der malerischen Wirkung +dienten, als die halb ländliche Umgebung noch bestand, jetzt +in der städtischen Straße sich fremdartig ausnähmen. Aber +ein Kunstrichter unserer Tage, Max Deri, nennt es das +einzige ‚wirklich »europäisch« schöne historische Gebäude‘, +das Berlin besitze. Es ist sehr verlockend, in dies +verwunschene Gartenhaus einzutreten, aber es steht nur den +Mitgliedern der Loge offen. Und so muß ich mich, was den +Gartensaal, der sich innen befinden soll, betrifft, mit der +Beschreibung von Friedrich Nicolai begnügen. Der lobt die +eleganten Proportionen des Saales und seine schönen +Deckenstücke: »Über den vier Türen sind die vier Weltteile +von Schlüter in Gyps vorgestellt. An der Wand stellen vier +kleine Basreliefs die Wachsamkeit, Weisheit, Vorsicht, +Verschwiegenheit als die vier Haupttugenden eines Ministers +vor«. Zu Nicolais Zeit ging der Garten bis an die Spree und +in ihm war »ein großer Salon von hohen Kastanien und Ulmen +und ein artig angelegter buschiger Hügel merkwürdig und die +Aussicht auf die gegenüberliegenden mit Bäumen umpflanzten +Wiesen ländlich reizend«. + +Im entgegengesetzten Teil der Dorotheenstraße hinter +Bibliothek und Universität weiß ich nah dem kleinen Platz +mit Hegels Kolossalbüste — diesem sanft dröhnenden Gesicht, +das unentwegt behauptet, alles Seiende sei vernünftig — +einige alte Häuser; besonders vertraut ist mir von +Studententagen her das Seminargebäude, dessen lichte +altfarbene Wand ein zarter Fries und Reliefs zieren. Aber so +weit will ich heute nicht, ich lasse auch neben dem Museum +für Meereskunde die beiden Büstenmänner in der Wand ruhig +immer wieder den Rübenzucker entdecken und seine Industrie +begründen. Ich biege an der Wintergartenecke in die +Friedrichstraße ein. Einen Blick in das Café des +Zentralhotels, wo um diese Nachmittagszeit oft recht +merkwürdige Leute sitzen: ausländische Geschäftsmänner, +einzeln reisende Damen, Familiengruppen aus der Levante, +Artisten, zweifelhafte Lebemänner, eine rätselaufgebende +Dämmerversammlung. Da der Wintergarten, Berlins altberühmtes +Varieté, vor kurzem umgestaltet und festlich neu eröffnet +worden ist, geziemt es sich seiner Geschichte zu gedenken. +Zunächst war er, wie sein Name andeutet, nur bestimmt, eine +Ruhe- und Erholungsstätte der Hotelgäste zu sein. Die Logen +waren so angelegt, daß man sie bequem aus den Zimmern des +Hotels erreichen konnte. Von dort sahen die Gäste hinunter +in die Fülle der Schlinggewächse, Lorbeerbäume, Palmen, in +Tropfsteinhöhlen und Aquarien, und zwischen alldem erschien +im Gaslicht der ‚Sonnenbrenner‘ und Kandelaber eine kleine +Bühne, auf der gelegentlich ein bißchen Singspiel stattfand. +Dann aber kam die Zeit der beiden Direktoren, deren Namen +schon sich zu einem so eindringlichen Firmenwort paaren, +Dorn & Baron. Die Zeit der Loie Fuller, der Barrisons, der +Otéro, der Cléo de Merode und aller europäischen +Berühmtheiten des Trapezes und hohen Seils. Der +Sternenhimmel an der blauen Decke strahlte als nahes Weltall +der Sensationen über den Berlinern. Es war ‚kolossal‘, was +hier geboten wurde. Und heute ist es, dem aktuellen +Superlativ entsprechend, ‚zauberhaft‘. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Friedrichstraße. Das war einmal das Zentrum der berlinischen +Sündhaftigkeit. Das schmale Trottoir war mit einem Teppich +aus Licht belegt, auf dem sich die gefährlichen Mädchen wie +auf Seide bewegten. Der Mode gemäß hatte ihr aufrechter Gang +etwas Feierliches, das grausam persifliert wurde, wenn sie +den Mund aufmachten, um sich im städtischen Idiom zu äußern. +Ihre kastenhafte Abgetrenntheit von der Gesellschaft, der +sündhafte Glanz ihres falschen Schmucks und echten Elends, +all die naheliegenden Kontraste, mit denen damals junge +Phantasie arbeiten konnte beim Anblick dieser schlimmen Feen +im Federhut der Fürstin, die sie im hohen Rat ihrer +bornierten Seelsorger aus den heimlichen Häusern auf die +Straße verbannt hatte, — Bild und Begriff von all dem ist +nun längst historisch geworden. Und in der heutigen +Friedrichstraße gespenstert wenig von dieser Vergangenheit. +Ihr Nachtleben ist ja längst von dem westlichen Boulevard +überboten. Und was davon noch vorhanden ist, reizt mehr den +Provinzler als den Berliner Bummler. In einigen Nachtlokalen +kann die heutige Jugend vielleicht noch ironisch studieren, +was früheren Generationen Spaß machte. Am Nachmittag aber, +wenn erst einige der Vergnügungsfassaden erleuchtet sind wie +jetzt, werden manche Tore und Fenster reizvoll wie +Theaterkulissen, die hinter der Szene angelehnt stehn. Eine +besondre Art Reklameliteratur treibt hier ihre Blüten. Von +Torhütern und Patrouillen werden einem Zettel zugesteckt mit +Empfehlungen interessanter Lokale, Brennpunkte des +Nachtlebens werden verheißen, mondän und doch dezent, +internationale Tanzaufführungen, ja sogar Nacktplastiken zum +Pilsatorausschank im Originalkünstlerkeller, »Musik des +Körpers, ästhetische Silhouetten, historische Visionen, +indische Opfertänze wie auch Frühlingsstimmen und Humoresken +des ganzen Ensembles, Nacht in Sevilla und das Dumme Herz«. +Neuerdings haben einige dieser Lokale belehrende Vorträge +von ‚Sexualethikern‘ in ihren Rahmen aufgenommen, die in +merkwürdigem Wettbewerb mit den neuesten +Aufklärungsschriften verschiedne erotische Bemühungen und +Möglichkeiten rechtfertigen und unsern armen +eingeschüchterten und verdrängten Instinkten ‚Neuland‘ +erobern. Aber das gibts erst abends. Indessen könnte man +schon jetzt in dem großen 5-Uhr-Programm ‚die acht +Pikanterien des bekannten Komikers Sascha Soundso‘ erleben. +Es empfiehlt sich wohl eher, in eine der kleinen +Konditoreien einzutreten, wo die, welche abends ihren Anteil +am Nachtleben zu liefern haben, nachmittäglich verschlafen +beisammen sitzen und unter ihresgleichen Meinungen über die +Geschäftslage und das Leben überhaupt austauschen. Da wäre +viel zu lernen über die Welt und über Berlin. Die Tanztees +der Friedrichstadt haben auch ihre lehrreichste Stunde, +bevor der Betrieb losgeht, wenn im Dämmer nah bei den noch +eingehüllten Instrumenten die Ballettdame einen Imbiß +einnimmt und sich dabei mit der Garderobefrau oder dem +Kellner unterhält. Als tapferer Forscher sollte man +eigentlich vormittags hier in gewisse Lokale der +Nebenstraßen gehn, wenn die Nixengrotte aufgewaschen wird! +Erstaunlich müßten um diese Zeit auch die Museen der +Bauernschänken sein, falls sie noch bestehn, der Totenkopf +Gottfrieds von Bouillon als dreijähriger Knabe und +dergleichen . . . ‚Weißes Meer‘ leuchtet eine Inschrift auf +dem Schürzenbauch eines dicken Pförtners mit einer Kochmütze +auf dem Kopf. Er lädt in ein bekanntes Lokal ein, wo +Weißbier ausgeschänkt wird. Das ist jetzt wohl schon eine +Spezialität. Früher beherrschte die Weiße mit oder ohne +Schuß (Himbeersaft) den Berliner Durst. In stilleren Straßen +der Altstadt findet man noch einige der echten alten +Weißbierstuben. Da sitzt man an blanken Holztischen vor der +breiten Trinkschale und unter den Bildern des alten Kaisers +und des Kronprinzen von dazumal und Bismarcks, Roons und +Moltkes. Aber hier in der Friedrichstadt sind diese Stuben +und Keller seit einem halben Jahrhundert verdrängt durch die +Bierpaläste und -kathedralen, die jetzt ihrerseits +historische Ehrwürdigkeit bekommen. Als neue +Sehenswürdigkeiten beschreibt sie Laforgue. Türme und +Türmchen dieser *curiosités architecturales* fallen ihm auf +und er weiß von einer Magistratsverfügung, die verbieten +mußte, daß noch höher getürmt wurde, sonst wären am Ende die +Berliner Biertürme babylonisch in den Himmel gewachsen. Er +ergötzt sich an den alfresco-Bemalungen außen und innen. +»Der Stil dieser Etablissements, schreibt er, ist, was man +deutsche Renaissance nennt. Sie haben Holzverkleidung an +Decke und Wand, auch die Pfeiler sind bemalt und rings um +den Saal läuft eine Etagere, wo aller Art Bierbehälter +aufgereiht stehn, aus Porzellan, Steingut, Metall und Glas +aller Epochen«. Wie lang sich dieses Kolossal-Nürnberg noch +halten wird gegen das eilig laufende Band der +Lichtreklameflächen, das jetzt die Fassaden von Berlin glatt +und gleichmachend erobert, das weiß ich nicht. Historisch +ist es jedenfalls schon jetzt wie seine Zeitgenossin, die +nach dem Vorbild der Pariser Passagen erbaute Kaisergalerie. +In die kann ich nicht ohne einen leisen Moderschauer +eintreten, nicht ohne die Traumangst, keinen Ausgang zu +finden. + +Kaum bin ich an dem Schuhputzer und dem Zeitungsstand unterm +hohen Eingangsbogen vorüber, so beginnt eine gelinde +Verwirrung. Täglichen Tanz verspricht mir ein Glasfenster +und jenen Meyer, ohne den keine Feier ist. Aber wo soll der +Eingang sein? Da kommt neben dem Damenfriseur wieder nur +eine Auslage: Briefmarken und die seltsam benannten +Utensilien der Sammler: Klebefälze mit garantiert +säurefreiem Gummi und Zähnungsschlüssel aus Zelluloid. +‚Aufgepaßt! Wolljacken!‘ herrscht eine Aufschrift aus dem +nächsten Glaskasten mich an, aber das zugehörige Geschäft +liegt ganz wo anders. Ich habe mich umgedreht und dabei fast +an den Bilderautomaten gestoßen, vor dem ein armer einzelner +Schuljunge, die Mappe unterm Arm, steht und sich kümmerlich +in die ‚Szene im Schlafzimmer‘ vertieft. + +So viel Schaufenster ringsum und so wenig Menschen. Man +fühlt die Bierhausrenaissance dieser hohen Wölbungen mit den +bräunlichen Konturen immer mehr veralten; die Gläser dieser +Galerie verdüstert Staub der Zeiten, der nicht wegzuwischen +ist. Die Auslagen sind noch ziemlich dieselben wie vor +zwanzig Jahren. Nippes, Reiseandenken, Perlen, Täschchen, +Thermometer, Gummiwaren, Marken, Stempel. Neu hinzugekommen +ist nur das Telefunkenhaus mit der überzeugenden Aufschrift: +‚Ein Griff — und Europa spielt für Sie.‘ Beim Optiker kann +man den ganzen Fabrikations-Werdegang einer Brille wie den +von der Raupe zum Schmetterling in Etappen auf belehrendem +Blatt studieren. ‚Des Menschen Entwicklung‘ winkt herüber +aus dem anatomischen Museum. Aber vor dem graut mir noch zu +sehr. Ich verweile bei ‚Mignon, dem Entzücken aller Welt‘, +einer Taschenlampe, in deren Licht ein junges Paar sein +Glück spiegelt, bei den Manschettenknöpfen Knipp-Knapp, die +sicher die besten sind, bei den Dianaluftflinten, die gewiß +der Jagdgöttin Ehre machen. Ich erschrecke vor Totenköpfen, +die als grimmige Likörgläser eines weißbeinernen Services +grinsen. Auf der Toilettenrolle ‚mit Musik‘ ruht das +clownige Jockeigesicht des handgemachten Holznußknackers. +Milchflaschen warten auf die Mitglieder des ‚Vereins +ehemaliger Säuglinge‘ voll Likör! Wenn diese schon rauchen +sollten, finden sie ‚Gesundheitsspitzen‘ in verwirrender +Nähe der Gummipuppen, die neben hygienischen Schlupfern über +der Inschrift: ‚Bedienung diskret und ungeniert‘ thronen. +Ich will noch bei den tröstlich gelben Bernsteinspitzen des +*‚first and oldest amber-store in Germany‘* verweilen, aber +immer wieder schielt die anatomische Schöne des Museums +herüber. Unter ihrem nackten Fleisch scheint das Skelett +durch wie ein Marterkorsett. Im Leeren schwimmend umgeben +sie ihre gemalten Organe, Herz, Leber, Lunge . . . Von ihr +wende ich mich zu dem weißbekutteten Arzt, der sich über die +Bauchhöhle einer schlummernden oder schon ausgenommenen +Blondine beugt. Schnell fort, ehe ich den Ersatz der Nase +aus der Armhaut erleben muß. Dann schon lieber den Buch- und +Papierladen mit den Heften über Sinnlichkeit und Seele und +die Liebesrechte des Weibes, dem kleinen Salonmagier und dem +vollendeten Kartenkünstler, von dem Dinge zu lernen sind, +mit denen man sich in jeder Gesellschaft beliebt macht. + +Die Galerie biegt in weitem Winkel, Stühle, Tische und +Palmenkübel eines Restaurants erscheinen, das sich als +*strictly kosher* bezeichnet. Im Gegensatz dazu scheint +*strictly treife* das Kabinett des Porträtmalers su sein, zu +dem ein teppichbelegter Eingang führt. Und hinten kann man +ihn selbst sehn, ihn selbst im Vollbart, wie er den +Reichspräsidenten abmalt. Hindenburg sitzt im Salon, ihm zu +Füßen liegt sein Hund, und zwischen ihm und dem Maler ist +das Bild, auf dem er noch einmal abgemalt ist, allerdings +ohne Hund; und wie er sitzt und wie der Maler steht, sind +sie — es ist verwirrend — auch nur gemalt, nicht anders als +die Vergrößerungen nach Photographien rings umher. Hier kann +man nämlich aus jeder Photographie ein Bild machen lassen. +Von hundert Mark an, in Lebensgröße! Verstorbene werden nach +den verblichensten Photographien porträtiert. Keine +zeitraubenden Sitzungen. Viele Atteste hochstehender +Persönlichkeiten. In einem gedruckten Schreiben wendet sich +der Hofmaler an uns Passanten und erklärt, er habe sich im +Gegensatz zu den modernen Porträtmalern, die eine solche +Verwirrung des Geschmacks gefördert haben, Goethes (!) +Auffassung ‚Kunst und Natur sei eines nur‘ zur Richtschnur +gemacht. Ein junges Mädchen und eine Matrone aus der Provinz +bleiben vor seinen vielen Schönen mit Hund und Wintergarten, +seinen Ordensbrüsten und Würdenbärten stehn. Um ihre +Bewunderung nicht zu stören, wende ich mich ein paar Fenster +weiter zur Konkurrenz, den ‚Originalgemälden akademisch +gebildeter Künstler zu konkurrenzlosen Preisen‘. Von +Originalherbsten und -frühlingen wandert das Auge über +Rothenburgs Mauern zu der bekannten Blinden im Kornfeld und +der beliebten verkauften Sklavin. Dabei hat man mich aber +beobachtet. ‚Das könn’ Se bei uns direkt haben‘, sagts neben +mir und ich sehe in das Gesicht eines kleinen Alten mit +schütterem Bart. Er zwinkert ins Nebenfenster, wo sich +originalradierte unvollständig bekleidete Mädchen mit ihren +Strumpf- und Achselbändern beschäftigen. Meine Kenntnisse zu +erweitern, hätte ich mich mit ihm in ein Gespräch einlassen +sollen. Aber mir grauts zu sehr hier unter falsch +spiegelnden Lichtern und streifenden Schatten. Ich lasse ihn +hinüberschleichen zu den verdächtigen Burschen mit den süßen +Schlipsen, denen er Tricks mit einem Taschenspiegel zeigt. + +Leer ist die ganze Mitte der Galerie. Rasch eile ich dem +Ausgang zu und spüre gespenstisch gedrängte Menschenmassen +vergangener Tage, die alle Wände entlang mit lüsternen +Blicken an Similischmuck, Wäsche, Photos und lockender +Lektüre früherer Basare hängen. Bei den Fenstern des großen +Reisebüros am Ausgang atme ich auf: Straße, Freiheit, +Gegenwart! diff --git a/21-doenhoffplatz.rst b/21-doenhoffplatz.rst new file mode 100644 index 0000000..25c30df --- /dev/null +++ b/21-doenhoffplatz.rst @@ -0,0 +1,204 @@ +.. include:: global.rst + +DÖNHOFFPLATZ +============ + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`I`\ ch stand zu Füßen einer der Riesendamen aus +Stein, die den Eingang zum Warenhause Tietz in der +Leipzigerstraße bewachen. In der Hand hatte ich ein neu +erbeutetes Büchlein, Gustav Langenscheidt, Naturgeschichte +des Berliners, Berlin 1878. Wie ein Kleinstädter, der sich +in der stillsten Straße seiner Heimatstadt ergeht, blätterte +ich mitten im Weltstadtverkehr, häufig gestoßen und +angefahren, in diesem lehrreichen Buch, kam gleich an ein +herrliches Zitat aus ‚Schattenriß von Berlin, 1788‘ und las +angesichts des spiegelglatten Asphalts und in strahlender +Beleuchtung: + +»So breit und schön die Straßen auch dem ersten Anblick nach +sind, so weiß doch der Fußgänger zuweilen nicht, wie er sich +für schnell fahrenden Wagen, für Koth und Gossen hüten soll. +Der eigentliche Gang für Fußgänger sollte, so wie in allen +übrigen polizierten Städten längs den Häusern hingehen, +allein dieses hat man durch die hohen Auffarthen vor den +Häusern fast unmöglich gemacht. Der Fußgänger wird alle +Augenblick aufgehalten und ist gezwungen, über die Gossen +weg auf den sogenannten Damm zu schreiten. Nirgends ist +diese Unbequemlichkeit sichtbarer als in der Leipziger +Straße, einer der schönsten von ganz Berlin (hier ist +vermutlich die Alte Leipziger Straße gemeint hinterm +Hausvogteiplatz bei Raules Hof, aber ich will diesen Text +angesichts der neuen Leipzigerstraße genießen). Außerdem +sind vor den Häusern auch hohe steinerne Treppen angebracht. +In der Mitten der Straßen oder auf dem Damme ist es bei +schlechter Witterung außerordentlich kothig und im +Steinpflaster selbst gibt es unzählige Löcher, welche theils +von dem sandigen Boden, theils von der unverantwortlichen +Nachlässigkeit der Steinsetzer und ihrer Aufpasser herrührt. +Die übermäßig großen Steine, die zwischen eine Menge kleiner +und spitzer Kieselsteine gelegt sind, verursachen, daß man +alle Augenblick Gefahr läuft anzustoßen und zu Boden zu +stürzen. Die Gossen sind zwar, wie es sich gehört, an beiden +Seiten des Dammes angelegt, jedoch so, daß sie dem Fußgänger +eine neue und gefährliche Fallbrücke werden. Ein Theil +dieser tiefen Gossen ist nur eben vor den Hausthüren mit +Brettern überlegt. Sobald man also des Abends längs der +Häuser weggehet, stößt man alle zehn bis fünfzehn Schritte +an eine steinerne Treppe oder Auffarth, die noch wohl zu +größerer Gefahr mit einer kleinen Rönne umgeben ist; gehet +man auf den Brettern, womit die Gossen bedeckt sind, +herzhaft fort, so stürzt man, ehe man es sich versiehet, mit +einem Male drei bis vier Fuß tief in die Gosse hinunter; +gehet man aber in der Mitte des Dammes, so weiß man bei der +geschwinden Annäherung eines oder gar mehrerer Wagen nicht, +wo man sich hinwenden soll, denn an den Gossen liegen hohe +und schlammigte Dreckhaufen; über sie hinüberzuspringen, ist +gefährlich, weil sie abschüssig und tief sind; dennoch muß +man auf das gerathewohl einen Entschluß fassen, um nicht von +den Wagen überfahren zu werden. Die eingebohrenen Berliner +sind an diese Unbequemlichkeiten gewöhnt, kennen auch die +Seitenwege besser als der Fremde, der dergleichen +Fallbrücken garnicht vermuthet. Es steckt selbst etwas +menschenfeindliches in einer solchen Anlage der Straßen, +weil man dabei bloß auf die Reichen, die in Kutschen fahren, +gedacht zu haben scheint. Man spreche ja nicht von der +nächtlichen Erleuchtung, denn die ist bis hierher herzlich +elend gewesen, ohnerachtet Laternen genug brennen. Letztere +sind so beschaffen und gesezt, daß sie nur eine Art von +hellem Schatten verbreiten, der zu nichts hilft.« + +Ich finde es sehr amüsant, sich vorzustellen, wie dieser +kritische Beobachter unserer guten Stadt verdrossen von +Stein zu Stein hüpfte und scheele Seitenblicke auf die +‚Eingebohrenen‘ warf, die kennerisch Seitenwege fanden . . . +Wie es noch in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit +der Beleuchtung bestellt war, lesen wir bei Eberty. Da +»wiegten sich in weiten Zwischenräumen vereinzelte Öllampen +in der Mitte von eisernen Ketten, die über die Straßen +gespannt waren und im Winde ein melancholisches Gequieke +hören ließen und so spärliches Licht verbreiteten, daß die +meisten Leute abends mit der Laterne in der Hand gingen oder +sich solche vorantragen ließen . . . Männer, deren Kleidung +von Fett triefte, reinigten die Lampen . . .« Und an das +Pflaster der vierziger Jahre erinnert sich der alte Ludwig +Pietsch und berichtet, wie sehr man, um vorwärts zu kommen, +auf das damals einzige öffentliche Verkehrsmittel angewiesen +war, »die heute noch in ihrer altehrwürdigen Gestalt +unverändert gebliebene Droschke zweiter Klasse«. An die +letzten Vertreter dieser Gattung Fuhrwerke mit ihren roten +und gelben Rädern, den windschiefen bunten Kasten, des +Kutschers struppigen Bart und blauen Pelerinenmantel können +die älteren von uns sich noch gut erinnern. + +Da zu meiner Rechten liegt der weite Dönhoffplatz überflutet +von Trambahnen, Autos und Menschenmassen und nun, da ich in +die alten Zeiten geraten bin, stell ich ihn mir vor, als er +noch eine Esplanade vor dem alten Leipziger Tor war, und +dann als Exerzier- und Paradeplatz des Regiments, das der +General Dönhoff befehligte. Wo jetzt die schönen +Gontardschen Kolonnaden den Platz nach dem Spittelmarkt zu +abschließen, war der Festungsgraben mit der Spitalbrücke. +Friedrich der Große ließ sie errichten und die vielen Buden +und Scharren wegräumen, die oft Verbrechern Unterschlupf +gewährten. Er ließ auch den Dönhoffplatz mit stattlichen +Gebäuden umgeben. Von diesen stand noch bis zur letzten +Jahrhundertwende das Palais, in dem einst der Staatskanzler +von Hardenberg wohnte und das später preußisches +Abgeordnetenhaus wurde. 1904 hat es einem modernen +Geschäftshaus Platz gemacht. An des Kanzlers Zeit erinnert +nur noch sein Denkmal, das an der Südseite des Platzes dem +Standbild des Freiherrn vom Stein feindlich den Rücken +kehrt, der trotzig auf die Trambahnen der Leipzigerstraße +schaut. Auch Jahrmarkt ist der Dönhoffplatz gewesen und +stand voller Buden. Und ehe das Steindenkmal errichtet +wurde, erhob sich in der Mitte ein Obelisk, der als +Meilenzeiger den Weg nach Potsdam maß. Vor dem war ein +großes Brunnenbecken mit einem wasserspeienden Löwen, den +die Berliner die Wasserkatze nannten. Sie reimten: + + | Wenn die wilde Katze + | Auf dem Dönhoffplatze + | Wasser speit, + | Ist der Frühling + | Von Berlin nicht weit. + +Um die Wasserkatze und das Becken spielten die +Straßenjungen, und die Mägde saßen mit den kleinen Kindern +auf den Stufen und dem Beckenrand, strickten und schwatzten, +wie man es auf alten Zeichnungen sehen kann. + +Aber genug von der alten Zeit. Ich gehe über den Damm, komme +vor den Eingang des Theaters und will sehn, was es heute +gibt. Die Stettiner Sänger! Wieder etwas Altehrwürdiges. +Aber weil es noch besteht, gehe ich hinein. + +Die Blüten auf der Wand des Treppenaufgangs, wann mögen die +wohl gemalt sein? Sie haben so etwas wie gedämpften +Jugendstil. Die hohen roten Pfeiler, die den Saal tragen, +und der verblichne Prunk der Decke deuten auf eine noch +weiter zurückliegende Glanzzeit. Nach der Form einiger +Ampeln und Kandelaber zu schließen, müssen es die Tage des +Gaslichts gewesen sein. Ja, damals war hier das Varieté par +excellence und es kamen sogar Mitglieder der höchsten +Hofgesellschaft zu Besuch. Ein großer Glaskasten nah dem +Büfett hütet eine zweite Vergangenheit. Darin sind wächsern +die beiden Ur-Komiker aufgehoben, der lange dürre und der +kleine dicke, beide in bunter Uniform, weißen Gardehosen, +den hohen Tschako auf dem Kopf. Von den Zeiten dieser Sänger +ist bis auf den heutigen Tag eine geheiligte Gewohnheit +bestehn geblieben: die ausschließliche Männlichkeit der +auftretenden Künstler. Selbst zuletzt in dem Theaterstück +werden die weiblichen Rollen, sowohl die Frau +Amtsgerichtsrat als auch das Dienstmädchen, von Mannsleuten +gespielt, genau wie auf dem altgriechischen und +altenglischen Theater. + +Wichtig ist diese Stätte aber vor allem als späte Blüte des +deutschen Männergesangs. Das Quartett würdiger Herren im +Frack bildet den Grundstock der Vorstellung, und was an +humoristischen Couplets und einzelnen Charakterszenen +zwischendurch laut wird, ist nur Intermezzo. Sie können +übrigens auch heiter sein, diese Würdigen. Dann necken sie +einander und uns mit Potpourriüberraschungen, bei denen nur +der verständige Mann am Bechsteinflügel ernst bleibt. Aber +ganz andächtig wird das Publikum, Familienväter und -mütter +und all unsre Ernas und Almas, die beim Abwaschen selbst so +schön über den Hof singen, wenn die Vier a cappella anheben +von der Liebe, die nur im Herzen wohnt und still wie die +Nacht und tief wie das Meer ist oder sein sollte. Regungslos +stehn die Sänger, die Notenhefte vor der Brust. Nur die +Köpfe drehen sich manchmal ein wenig zueinander, wenn Tenor +dem Baß und Baß dem Bariton den Einsatz von Augen und Lippen +abliest. + +Nach solchen rein musikalischen Genüssen möchte man nun auch +etwas Augenweide haben. Dafür sorgen ‚auf allgemeines +Verlangen‘ die Traumbilder. Das sind lebende Volkslieder, +gesungen und dargestellt vor einem äußerst felsig gerahmten +Bühnenbild. Da verbergen und enthüllen wolkige Gazeschleier +allerlei altdeutsche Landschaft und Situation, darinnen ein +Kostümierter wandelt und, teils allein, teils von seinen +Gefährten beechot, ‚In einem kühlen Grunde‘ und ‚Im Wald und +auf der Heide‘ singt. Von Strophe zu Strophe, ja manchmal +von einer Zeile zur andern, wechseln die Bilder: Muß am +Brunnen vor dem Tore dem Liebenden der Hut vom Kopfe +fliegen, so erhebt sich im Handumdrehn der dazugehörige +Sturm und verdüstert die Landschaft. Eben noch samtröckiger +Scholar mit Wanderbauch, wird in dem nächsten Verse der +fahrende Gesell grasgrüner Jägersmann oder Großmütterchen im +Winterstübchen. Hier habe ich endlich erlebt, wie der Müller +aussieht, dessen Lust das Wandern ist. Das ist kein weißer +Mehlknappe, sondern ein eilfertiger junger Mann in einer Art +grauem Sweater mit einem Barchentbündel unterm Arm. Im +Schlußbild aber werden nach all dem Rebensaft und +Waldesrauschen unser aller Gefühle zusammengefaßt in einer +von wehenden Flammen umspülten Riesenleier, über die sich +ein Zettel herabsenkt mit der Aufschrift: ‚Gott erhalte das +deutsche Lied!‘ + +Und während wir klatschen, greifen die Künstler zu +plötzlichen Posaunen und Trompeten und blasen uns einen +Abschiedsmarsch! diff --git a/22-zeitungsviertel.rst b/22-zeitungsviertel.rst new file mode 100644 index 0000000..ee1c878 --- /dev/null +++ b/22-zeitungsviertel.rst @@ -0,0 +1,196 @@ +.. include:: global.rst + +ZEITUNGSVIERTEL +=============== + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`I`\ n der südlicheren Friedrichstadt stehen ein +paar großmächtige Häuser, alte Festungen des Geistes, +umgebaut und ausgebaut, einladend mit breiten +Fensterflächen, drohend mit Steinbalustraden, verlockend und +abwehrend, schöne gefährliche Häuser. Sie gehören +sagenhaften Königen und Königsfamilien, die Ullstein, Mosse +und Scherl heißen. Als unsre letzte kleine Revolution +ausbrach, wurden mit den andern Königen eine Zeitlang auch +die Zeitungskönige aus ihren Schlössern vertrieben. Da +standen in den Schloßhöfen auf Biwakfeuern Kochtöpfe mit +Speckerbsen, auf den Dächern wurde geschossen und durch die +Redaktionsräume polterten genagelte Kriegerstiefel. Aber +viel schneller als andre Monarchen sind die Zeitungskönige +zurückgekehrt. In ihren Höfen stehn wieder ihre Streitwagen +mit Papiermunition, und durch die Redaktionsräume schlupfen +ihre Hofdamen, leichtfüßige Sekretärinnen und +Schreibmaschinenfräulein. + +Die Schloßtore sind gastlich offen. Wir mit unsern Anliegen +und Manuskripten werden freundlich hereingelassen von +stattlichen Pförtnern. Flinke Lifts fahren uns hinauf in die +oberen Etagen. Und da ist dann der Anmelderaum mit vielen +kleinen Boys. Die kennen schon so manchen von uns, obwohl +wir nicht zum Hause gehören. Ach, wir wollen ja nicht in die +ernsthaften Bereiche, wo Politik, Handel und das Lokale +gemacht wird. Wir gehören unter den Strich und in die +Unterhaltungsbeilagen. Auf einen Zettel schreiben wir, wen +von den Gewaltigen im Schlosse wir zu sehen begehren. Mit +dem Zettel entschwebt ein Ephebe. Und dann sitzen wir am +langen Tisch oder auf der Wandbank. Wir sehen einander in +Gesichter, die wir schon kennen, oft ohne zu wissen, wem sie +gehören. Viele Frauen sind darunter, manche etwas schüchtern +und bekümmert, das sind die, welche die kecken mondänen +Plaudereien schreiben. Wir sehn auf das Fangnetz neben der +Tür, in das aus langer Röhre runde Kapseln fallen. Sie sehen +aus, wie ich mir päpstliche Bullen denke. Da sind gewiß +wichtige Telegramme drin oder sonst Geheimnisse, wichtiger +als unsre ‚reizenden kleinen Sachen‘. Haben wir eine Weile +geduldig gesessen, so kommt der Knabe und bringt Botschaft: +der Gewaltige ist nicht im Hause oder er ist in einer +Konferenz. Man soll doch morgen früh anrufen. (‚Rufe mich an +in der Not‘.) Zu besonders Hilfsbedürftigen kommt eine +freundliche Hofdame hergeschwebt aus dem unnahbaren Bereich, +die versteht, Hoffnung zu nähren und Begierden +hintanzuhalten. Oft nimmt sie auch aus den zittrigen +Autorenfingern das Manuskript, zu dem man doch gar zu gern +dem Gewaltigen etwas gesagt hätte: Man könnte mehr +dergleichen machen, wenn es das Rechte sei; er würde einem +vielleicht sagen, was etwa anders sein müsse. Man wollte +ihn, wenn er ein paar Minuten Zeit hätte, unterhalten über +eine Serie, die man im Sinn habe . . . Ach, nun ist man +schon froh, daß der Engel einem das Papier abnimmt und +verheißt, es möglichst nahezulegen. Manchmal aber wirst du +wahrhaftig in das Zimmer des Gewaltigen geholt. Lange Gänge +läufst du hinter dem wegsicheren Knaben her, der unterwegs +mit Vorüberkommenden seinesgleichen Späße und Neuigkeiten +austauscht und sich von Zeit zu Zeit umsieht, ob du +Nachtaumelnder noch lebst. Glücklich angelangt, findest du +den Ersehnten meist von andern Großen des Reichs umgeben. In +leichtem und sicherem Ton reden sie miteinander. Da sitzest +du nun und fassest kaum Mut, in Gegenwart dieser +Geistverteiler deine kleine Sache vorzubringen. Man ist sehr +freundlich zu dir. Man wird schnell dein Geschriebenes +prüfen. So bald wird es allerdings wohl kaum unterzubringen +sein. Es liegt so viel vor. Und das Aktuelle muß natürlich +vorgehn. Daß sie unaktuell sind, das ist ja gerade der Reiz +deiner kleinen Schöpfungen. Aber, nicht wahr? für das +Ewig-Menschliche, das fraglos das Wertvollere ist, bleibt +immer Zeit, das veraltet nicht. Nun fassest du dir ein Herz +und bringst vor, du würdest dich gern einmal ins Gebiet des +Aktuellen wagen, wenn dir von seiten der Zeitung ein +Hinweis, eine Anregung käme. Ja, mit Anregungen ist das so +eine Sache, Zeitungen bekommen selber gern Anregungen. Man +hofft, du wirst vielleicht ein andres Mal einige geben . . . +Und dann gehn wir wieder fort aus dem Schloß, Männlein und +Weiblein; und wenn wir Glück haben, finden wir in vier +Wochen unser wackres Erzeugnis in gehörige Kürze geschrumpft +im Blatte. Verwandte lesen es ausführlich und sagen uns ihre +Meinung. Und sogar einigen Leuten vom Fach fällt Name und +Überschrift als Tatsache auf. + +Ist man erst selbst einmal wieder gedruckt, so nimmt man +auch mehr Anteil an anderm Gedruckten und bleibt bei den +Buchauslagen und bei den Bücherwagen stehn. An solch einem +Karren traf ich jüngst in eifrigem Gespräch mit dem Besitzer +meinen Buchhändler, den kleinen schwarzen Doctor medicinae, +der in dem merkwürdigen Bücherheim an der Brücke waltet. +Meinen Buchhändler nenn ich ihn, weil er mir meinen geringen +Bedarf an Literatur auf Kredit überläßt, mir obendrein +erzählt, was alles in den Büchern steht, die ich nicht +kaufe, und gern zusieht, wenn ich in den schönen Bänden +blättere, die ich bestimmt nicht erwerben werde. Nehmen ihn +nicht zuviel ernsthafte Kunden in Anspruch, setzt er sich +manchmal mit mir in das Hinterstübchen seines Ladens und +erzählt mir von Bücherschicksalen und vom Buchhandel. Das +ist nicht gerade zeitgemäß. Aus Buchläden oder ihren +Nebenräumen Stätten der Konversation und Geselligkeit zu +machen, war wohl früher einigen vom Metier möglich und lieb, +zuletzt noch dem verstorbenen Edmund Meyer, an dessen +Gespräche und Getränke mancher Büchermacher und Bücherfreund +sich erinnert. Im heutigen hastigen Berlin gibt es so etwas +kaum noch. Wohl ist in vielen Läden die Schranke gefallen, +die Käufer und Verkäufer trennte, und man kann +herumspazieren, stehn und sitzen wie im Bücherzimmer eines +Freundes, wohl nennen sich nach dem bekannten Münchner +Vorbild auch bei uns viele Buchhandlungen Bücherstube, +Bücherkabinett und dergleichen (es hat sogar einmal eine +Bücherbar gegeben, in der zwei wohlbekannte Prominente die +Mixer spielten), aber das rechte beschauliche Verweilen läßt +in diesen hübschen Räumen die ‚neue Sachlichkeit‘ nicht zu. +Sehr zum Bedauern derjenigen Buchhändler, die selbst +Bücherfreunde sind. Sie hätten gern Gäste in ihrem Laden, +die nicht bloß abgefertigt werden wollen. Sie beneiden ihre +Pariser Kollegen, die in meist schlechter ausgestatteten +Räumen sich einer geselligen Atmosphäre erfreuen, ohne daß +ihr Geschäft darunter leidet: es soll sogar in Amerika, dem +wir doch sonst die bewußte Sachlichkeit gern nachmachen, +eine Art Buchladengeselligkeit geben. Nun, wenn der Berliner +noch mehr Großstädter und dementsprechend gelassener +geworden sein wird, wenn er sich nicht mehr etwas darauf +zugute tun wird, daß er ‚zu nichts kommt‘, dann wird man +auch wieder im Zimmer des Buchhändlers richtig zu Gaste +sein. Die vielgerühmte Tüchtigkeit des Berliner Sortiments +wird darunter nicht leiden, die Tüchtigkeit, in der ihm +weder Paris noch sonst eine Weltstadt den Rang abläuft. Der +Berliner Buchhändler ist sehr unterrichtet und verschafft +einem jedes nur irgend erreichbare Buch. Darin tun es die +Jungen den Alten gleich, sie sind ja aufgewachsen in der +Tradition und studieren jeden Morgen eifrig das +vaterländische Börsenblatt. Die Tradition knüpft sich an die +Namen der großen Firmen aus dem achtzehnten Jahrhundert, +Nicolai und Gsellius, denen in der ersten Hälfte des +neunzehnten Asher und Spaeth folgen. + +‚Gibt es eigentlich Originale unter den Buchhändlern?‘ +fragte ich einmal, als mir der Doktor zu gründlich und +sachlich wurde. Er dachte nach, lächelte etwas verschmitzt, +nannte aber keinen Namen. »Nein, was man so Originale +nennt,« sagte er dann, »das gibt es allenfalls unter den +Antiquaren. Wohl dem, dem es vergönnt ist, eine +Plauderstunde, etwa von Musikgeschichte und Bibliographie +ausgehend, mit Martin Breslauer zu erleben, dem letzten +Gelehrten, der noch richtige Vatermörder trägt. Wir +Sortimenter, wir können es uns nicht leisten, Originale zu +sein. Wir haben zu harten Kampf ums Dasein, gerade wie unsre +guten Freunde, die Verleger!« + +‚Konkurrenz untereinander?‘ + +»Das weniger, aber zum Beispiel mit dem Warenhaus. Doch das +ist ein langes Kapitel, da müßte ich Ihnen einen Vortrag +halten über den Begriff Ramsch und seine Nuancen. Und über +die Konflikte zwischen moderner objektiver Organisation und +dem immer wieder Persönlichen, das die Behandlung geistiger +Werte erfordert.« + +‚Nun und hier, diese Karren, die Bücherwagen, ist das nicht +eine schlimme Konkurrenz?‘ + +»Oh nein. Mit denen hat es eine besondre Bewandtnis. +Zunächst sind es oft sehr merkwürdige Leute, die solche +Karren schieben, schieben lassen oder auch von einem +Pferdchen ziehen lassen. Das sind keine Krämer. Wunderliche +Existenzen sind darunter. Alte Schauspieler, verarmte +Gelehrte, dann Fanatiker bestimmter Gesinnungen, denen oft +ihr Verkaufsinteresse hinter dem Anteil an ihrer ‚Sache‘ +zurücksteht. Sie sind vielartig und gemischt wie ihr +Publikum. Sie sehn ja an solch einem Wagen den Chauffeur +neben dem Bibliophilen, das neugierige Geschäftsmädchen +neben dem eifrigen Werkstudenten stehn. Diese Karren dienen +in einem bestimmten Sinn unserm Interesse. Sie bringen das +Buch näher an den Menschen heran, als es ein Schaufenster +vermag. Und da die Verkehrspolizei uns nicht erlaubt, unsere +Ware, wie es in glücklicheren Ländern geschieht, auf die +Straße zu legen, so müssen wir den Bücherwagen dankbar sein, +daß sie auf Umwegen den Kunden in unsere Läden locken. Sie +werben besser für uns, als es die rühmlichen Bemühungen für +den ‚Tag des Buches‘ können.« + +‚Eigentlich sollten die Schriftsteller sich selbst mit ihrer +Ware in redlicher Selbstreklame an den Straßenecken +aufpflanzen und ausrufen: Hier noch zehn Stück +Selbstgedichtetes, damit es alle wird!‘ + +»Auch Derartiges hat man versucht«, sagte der Doktor, er +fand es gar nicht komisch, und dann wandte er sich wieder +seinem zigeunerischen Kollegen zu, um ernsthaft über Bücher +zu reden. diff --git a/23-suedwesten.rst b/23-suedwesten.rst new file mode 100644 index 0000000..8d683fa --- /dev/null +++ b/23-suedwesten.rst @@ -0,0 +1,362 @@ +.. include:: global.rst + +SÜDWESTEN +========= + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`I`\ m Südwesten sind Wilmersdorf und Schöneberg +mit Berlin und Charlottenburg völlig verwachsen‘, lehrt +Baedeker. Darum wollen wir nicht die genauen Grenzen suchen, +sondern hinterm Bülow-Bogen die Potsdamerstraße hinauf +unversehens in die Vorstadt gelangen. + +Erste Station: Der Sportpalast. + +Wer das Volk von Berlin im Fieber sehn will, versäume nicht, +einen Teil der 144 Stunden zu erleben, in denen auf schräger +Holzbahn die Fahrer des Sechstagerennens ihre Runden durch +die Riesenhalle machen. Im Mittelraum und in den Logen wird +er Gesellschaft sehn, ‚Köpfe,‘ Prominente, schöne Schultern +in Zobel und Fuchs, Will er aber unter den wahren Kennern +sitzen, unter denen, deren Anteil am unmittelbarsten und +berlinischsten ist, muß er sich unter die Sweater und +Windjacken auf der Galerie mischen. Da wird keine wichtige +Wertung oder Überrundung unbeachtet gelassen, da wird +strengste Kritik geübt und am heftigsten geklatscht. Ist +gerade ‚nichts los‘, wird Karten gespielt. Dann wieder +hallen und zischen die Vornamen der anzufeuernden Lieblinge, +welche man hier oben kennt, ohne sich an Zahl und +Trikotfarbe des sausenden Rückens orientieren zu müssen, +durch den Dunst. Hier findest du auch einen gutmütigen +Nachbarn, der dich über die Phasen des Kampfes, Jagden, +Ablösungen, Strafrunden, Spurt belehrt und dir die Bedeutung +der Lampensignale: grün = Wertung, blau = Prämie, rot = +Neutralisation, erklärt. Gern sagt der Berliner dir +Bescheid, so wunderlich ihm auch einer vorkommt, der von +diesen wichtigsten Dingen nichts weiß, die er selbst schon +als kleiner Junge gelernt hat. + +Wenn dann aber eine bemerkenswerte Nuance oder neue wichtige +Etappe der geregelten Raserei da unten deutlich wird, wendet +er sich von dir weg, ist ganz Auge und Ohr, beschimpft und +bejubelt den oder die, auf die er mit seinen Kumpanen oder +im eignen Herzen mit dem Schicksal gewettet hat. Er vergißt +dich, die Freunde, Beruf und Liebe, Lust und Verdruß. Von +den beiden großen Bedürfnissen des römischen Volkes, panis +et circenses, beherrschen ihn nur noch die circenses. +Londoner und Pariser in Sweater und Halstuch sind gewiß auch +große Sportkenner und -enthusiasten, aber sie haben ältere +Erfahrungen teils im Sport, teils in Weltstadtfreude +überhaupt. Hier aber sitzest du neben dem jüngsten +Großstädter. Der ist noch unblasiert, wenn er sich auch +gelassen stellt mit seinem ‚Selbstredend‘ und ‚Kommt nich in +Frage‘ (der neuen Form für das ältere ‚Ausjeschlossen‘). Er +fiebert im Massenrausch. Er fährt wie aus tiefem Traum, wenn +der Gongschlag den Beginn einer neuen Stunde verkündet. +Einen Augenblick verläßt sein Blick die Spur seines Fahrers +und streift den Apparat, der die geleisteten Kilometer +anzeigt. Im Paroxysmus kannst du ihn sehn bei plötzlichen +Jagden oder in der letzten Nacht, wenn sein Feuer noch +geschürt wird durch die Zählapparate am Ziel, welche die +noch zu fahrenden Minuten angeben. + +Doch auch in seinen gelinderen Momenten ist er unterhaltend. +Da spielt zum Beispiel die Kapelle statt seiner +Lieblingsmelodien irgend ein mondänes Stück, das ihn +langweilt. Gleich geht’s los: »Wo bleibt denn der +Sportpalastwalzer? Ihr Fettjemachten, ihr Volljefressnen! +Andre Kapelle! Halt’t Schnauze mit eurem ‚Ich küsse Ihren . +. . Madame‘.« Und als dann die Kapelle den gewünschten +Walzer spielt, pfeifen die da oben mit durch die Finger und +machen noch besondre Fiorituren um die Melodie herum. +Dazwischen stößt die heisere Stimme des Kellners: ‚Wer +wünscht noch Bier, Brause?‘ Ein witziger Zeitungsausrufer +reimt: ‚Die Mottenpost, die bloß’n Jroschen kost’t.‘ Späte +Nachzügler werden begrüßt: »Jetz kommt det Kind von der Post +. . . Na, du oller Hundertfünfunsiebziger, wo hast de denn +so lange jesteckt? Mensch, hast wohl zu lange jefastet, +siehst ja aus wie ’ne Spiritusleiche.« + +Ein Schreck zuckt durch die Fladen des Rauchs, die Büschel +der Scheinwerfer: es ist ein Fahrer gestürzt. Ist der Sturz +schwer? Man weiß noch nicht. Die andern kreisen weiter. Man +schleppt den blutenden in seine Koje am Innenbord der Bahn. +Vielleicht kann schon der Masseur ihm helfen, und er braucht +nicht zur Arztstation. Die seidnen Damen am nächsten +Sekttisch beugen sich einen Augenblick über die Brüstung zu +ihm. Dann wird er vergessen. + +So ist der Sportpalast in einer der oft und fachmännischer +erzählten großen Nächte. Eine eigene Schönheit hat er +während des Sechstagerennens auch in manchen stilleren +Nachmittagstunden, wenn milchig blaues Tageslicht in die +Bretterbahn fällt, auf der die Räder leise surren, und gelbe +und blaue Reklameplakate bestrahlt. Das gibt dem hölzernen +Raum eine Wärme und Dichtigkeit, wie sie sonst unser Berlin +nur selten hat. + +Sport ist international und kennt keine politischen +Parteien. Aber sein Palast hier steht auch der politischen +Leidenschaft offen. Große Kundgebung der Nationalsozialisten +wird angekündigt. Die Hallen füllen sich. Vor den Toren +patrouilliert die Polizei, denn man rechnet mit +Gegendemonstrationen der ‚Roten‘ draußen. Und vom +Aneinandervorbei bis zum Prügeln ist der Weg nicht weiter +als bei den Montecchi und Capuletti der vom ‚Eselbohren‘ bis +zum Blankziehen. Mit einmal heißt es, die Kommunisten +versuchen den Palast zu stürmen. Die Polizei bekommt +Verstärkung. Gummiknüppel werden geschwungen. Wer angefangen +hat, ist schwer festzustellen. Wenn sie nicht ihre Abzeichen +trügen, Orden der Reaktion oder Revolution, sie wären kaum +zu unterscheiden, die kecken Berliner Jungen aus beiden +Lagern. Mitunter lauern auch draußen die vom Stahlhelm, +während drinnen die Roten tagen. Dann ist der Saal mit +breiten roten Spruchbändern behangen. Ordner müssen die +Treppengänge immer wieder frei machen. Stühle werden +hergeschleppt und nachgerückt im überfüllten Saal. Von den +Schwalbennestern oben bis an die Türen unten ist alles voll. +Gefügig drückt sich die Menge beiseite, wenn mit Musik die +Rotfront einzieht. Kriegerisch ist die Musik, welche die +Genossen begeistert, wie einst die, bei der sie Kameraden +waren. Ganz junge Burschen ziehn beckenschlagend voran, +Pfeifer folgen ihnen im Gleichschritt. Die geballte Faust +der Männer, die offne Hand der Knaben grüßt die Fahnen. + +All das nimmt der Sportpalast mit einer Art riesenhafter +Gutmütigkeit in seine runden Weiten. Mit unparteiischem Echo +dröhnen seine Wände ‚Hakenkreuz am Stahlhelm‘ und ‚Auf zum +letzten Gefechte‘ wieder wie die Zurufe der Sportfreunde. Es +ist ja alles Überschwang derselben ungebrochnen Lebenslust. + +Zweite Station: Der Heinrich von Kleist-Park. + +Der hat einen besonderen Schmuck bekommen durch Gontards +Königskolonnaden, die ehedem in der Gegend des heutigen +Bahnhofs Alexanderplatz standen. Hier sind sie noch nicht +ganz zu Hause, nicht so ins Stadtgefüge eingetan wie die +Kolonnaden desselben Meisters am Ende der Leipziger Straße, +deren Rundung in eine platzartige Erweiterung mitten in +lauteste Geschäftsgegend ruhevolle Vergangenheit bannt. (Es +ist, als könne man durch die Tore und Türen, welche sich +hinter den Säulen öffnen, geradewegs in die Zimmer +vergangener Zeiten dringen.) Die nach dem Kleistpark +versetzten Kolonnaden müßten in diesem Parkrahmen Ruine sein +oder wenigstens stärker verwittern. Man sollte wenigstens +für Vogelnester sorgen . . . Immerhin erfreuen wir uns an +den gemeißelten Gewinden um die Schneckenkapitelle der +Säulen und an den Reliefs darunter, die wie Buchvignetten +wirken. Unter den Statuen ist ein rundliches Nymphenmädchen, +das bei all seiner Rokoko-Antike im Ausdruck etwas von einer +Berliner ‚Nutte‘ hat. Das muß also wohl älter sein als der +Begriff. Parkeinwärts zielt eine Bogenschützin so stilvoll +wie möglich über den Mummelteich auf die kleine Restflora +vom ehemaligen Botanischen Garten, der hier war, bevor er +hinter Steglitz verlegt wurde. Was zwischen Steinchen +gepflegt blüht, dem dürfen die Kinder sich nicht nähern, sie +müssen auf den Sandplätzen bleiben oder ihre Roller auf die +breiteren Wege lenken. Am glücklichsten unter den Kleinen +sind vielleicht die, denen die herrlichen Sandschutthaufen +drüben am Plankenzaun bei den freigelegten +Wasserleitungsröhren als Rutschbahn dienen. Von den +Erwachsnen interessiert uns am meisten die Gruppe +Kartenspieler auf der Bank unterm Busch. Ich glaube, es sind +Arbeitslose, wie wir sie im Friedrichshain gesehen haben. +Sie vergessen für ein paar Stunden ihren Jammer. Angespannt +sehen sie auf die Karten in der Hand dessen, der mischt, wie +Rembrandts Mediziner auf den Leichnam unterm Messer des +lehrenden Arztes in der Anatomie. Ein Gelähmter hat seinen +Wagen an die Partie auf der Bank hingerollt und kiebitzt +hingebungsvoll. + +Und nun hinein ins eigentliche Schöneberg. Da ist eine +Hauptstraße, wo es alles gibt: zwiebelig getürmte Häuser mit +Aufgängen nur für Herrschaften. Läden mit Duettbrennern und +Proviantdosen mit verstellbarem Abteil und ähnlich praktisch +heißendem Bedarf. Wir wollen nicht verweilen. Diese Gegend +macht ungewöhnlich traurig. Dann lieber über den Kaiser +Wilhelmsplatz — wie soll er auch sonst heißen? — ins +sozusagen offiziell traurige Viertel von Schöneberg gehn, +die ‚Insel‘, wie die Einwohner es nennen: Straßen, die den +Schienensträngen der Ringbahn benachbart sind. Dort kann man +morgens und abends zwischen den beiden Bahnhöfen Schöneberg +und Großgörschenstraße, die nicht miteinander verbunden +sind, eiliges armes Volk durch den ‚polnischen Korridor‘ +laufen sehen. Hinter den traurigen Fassaden ahnt man die +sonnenlosen Hinterhöfe, die ‚Rasenanlage‘, in der die Kinder +nicht graben dürfen, Müllkästen und das ungewollte Duett +eines Radiolautsprechers im Fenster und einer Drehorgel +unten, keifende Nachbarinnen und die dünne Stimme des +Bettelsängers. Das rotverhangene Gestell dort an der Ecke +der absteigenden Nebenstraße, welches ein Werbebüro der KPD +birgt, kann hier auf guten Zuspruch rechnen . . . Von +Tempelhof kommt einen bergigen Weg den Bahnübergang her die +Tram zwischen Güterbahnhof und Müllabfuhrschuppen gefahren. +Sie bringt uns schnell ans andere Ende von Schöneberg, an +die tiefe Mulde des Stadtparks. In dem könnte man im Notfall +das Lied vom verliebten ‚Schöneberg im Monat Mai‘ +lokalisieren, was in den übrigen Teilen dieses Orts mit dem +verheißungsvollen Namen kaum möglich ist. + +Nördlich vom Stadtpark liegt das rühmlich bekannte +‚Bayrische Viertel‘. Wieviel davon man zu Berlin, zu +Schöneberg oder zu Wilmersdorf rechnen soll, weiß ich nicht. +Es ist nicht so rechtwinkelig und geradlinig angelegt wie +Berlin W. Und statt uns darüber zu freuen, fluchen wir +Undankbaren, daß wir uns in all diesem Heilbronn, +Regensburg, Landshut und Aschaffenburg immer wieder +verirren. Uns kann man’s nie recht machen. Auch die allerlei +Brunnen- und Baumanlagen nehmen wir, ohne sie recht zu +beachten, hin. In einigen Winkeln stoßen wir auf Versuche, +altdeutsche Stadt nachzumachen, die rührend scheitern. Man +muß nicht allzu streng mit dem Bayrischen Viertel sein. Als +es gebaut wurde, gab es noch nicht unser gleich- und +alleinseligmachendes Laufband. + +Durch Wilmersdorf und Friedenau führt die lange Kaiserallee, +umgeben von Wohnvierteln, die sich aus alten Dörfern und +Villenkolonien gebildet haben. Von Friedenau wird behauptet, +daß es, wie auch gewisse Teile von Steglitz und +Lichterfelde, Zufluchtstätte vieler ehemaliger königlicher +Beamter und rentenlos gewordener Rentner alten Schlages sei. +Gestalten mit chronisch entrüstetem Gesichtsausdruck über +Bärten, die etwas Pensioniertes, etwas von Restbestand +haben, sollen Geheimräte und Kanzleisekretäre sein; es +begleiten sie Gattinnen, die oft richtige Federn auf dem Hut +haben, wie in entschwundenen Zeiten die Damen von Welt es +hatten. Diese würdigen Matronen wohnen in freundlichen etwas +unmodernen Gartenhäusern. Man sollte glauben, daß sie in +ihrem traulichen Heim lieblicher werden müßten, als sie es +sind. Nun, wir wollen für ihre Kinder hoffen . . . + +Wo die Kaiserallee in die Schloßstraße mündet, fängt +Steglitz an. Es beginnt hochmodern mit einem stolz ragenden +Filmpalast, an dessen Flanken in strahlenden Röhren das +Licht flutet, in dessen Innerm strenge Linien und kühne +Wölbungen Zuschauer- und Bühnenraum umschweifen. Aber +weiterhin ist das gute Steglitz eine der älteren +berlinischen Kleinstädte und viele Häuser der Seitenstraßen, +die zum Stadtpark führen, sind geblieben wie zur Zeit der +Jahrhundertwende, da man hier Schul- und Studienfreunde +besuchte, die Sonderlinge waren und zur bessern Erkenntnis +der Weltstadt die kontrastierende Stille des abgelegenen +Vororts brauchten. Das älteste hier ist wohl das +Schloßrestaurant mit dem Theater, ein Gebäude, das bald nach +1800 von Gilly als Landhaus errichtet worden ist. + +Mit der Wannseebahn erreichen wir als nächste Station den +Botanischen Garten, eine wunderbare Schöpfung von +Wissenschaft und Geschmack. Da kann man durch die Flora der +hohen Gebirge in winzigen Alpen und Kordilleren spazieren +gehn. Die ganzen Karpathen sind in einer halben Minute +durchstreift. Vom Mittelmeer ist es nicht weit zum Himalaya. +Hinterm Palmenhaus aber steigt als heimischer Hügel der +Dahlemer Fichtenberg an. Straßen und Plätze bei dem Garten +haben hübsche Namen, einen Begonienplatz gibt es, einen +Asternplatz und eine Malvenstraße. + +Schön gelegen wie die botanischen und +pflanzenphysiologischen Museen am Gartenrand sind auch die +wissenschaftlichen Institute im nahen Dahlem. Da hat die +strenge Wissenschaft lauter licht und munter gebaute +sommerliche Heime der Biologie, Entomologie, Völkerkunde, +Chemie. Die landwirtschaftliche Hochschule wohnt breit und +bequem in einer Art Gutshof. Sogar das Geheime Preußische +Staatsarchiv, das hier haust, hat ländlich frische Farbe und +ein lustig rotes Dach. Und selbst die Untergrundbahnhöfe in +und bei Dahlem besitzen sommerliche Anmut. Dieser Vorort ist +eine der Gegenden, wo die Berliner der kommenden Zeit +wohnen, ein Menschenschlag, bei dem die Abgehetztheit der +Väter, die ‚zu nichts kamen‘, weil sie zuviel zu tun hatten, +in eine freie heitere Beweglichkeit sich umzuwandeln +scheint. Nun, wir wollen mit Bestimmtheit nichts behaupten, +aber immerhin hoffen. + +Vielleicht haben wir Glück und es begegnet uns eine der +jungen Dahlemer Berlinerinnen. Sie läßt ihr Auto hier vor +dem hübschen Café an der Station parken und geht mit uns zu +Fuß waldeinwärts bis zur Krummen Lanke und dann +wasserentlang nach Onkel Toms Hütte oder zum alten +Jagdschloß Grunewald, das einst Kaspar Theyß für den +Kurfürsten Joachim erbaut hat. Dort machen wir eine Weile +vor dem kuriosen Steinrelief halt, das drei Personen um +einen Tisch stehend versammelt, in der Mitte den Fürsten als +Wirt oder Kellermeister mit aufgekrempelten Ärmeln und +stattlichem Embonpoint, neben ihm den höfisch gekleideten +Baumeister, dem sein Gebieter den Humpen kredenzt, während +die dritte Gestalt einen Krug mit weiterem Trank bereit +hält. Wir rätseln an den witzigen Versen, die in altem +Deutsch darunterstehn. Bald aber haben wir genug von alter +Zeit und sanftem Spazieren, und die gastliche Dahlemerin +fährt uns im Eiltempo zur neuen Siedlung an der +Riemeisterstraße, zu alten Lichterfelder Villenstraßen und +nach Zehlendorf, wo wieder mitten im Neuen und Neueren die +achteckige Dorfkirche mit dem spitzigen Dach für einen +Augenblick fesselt, die aus den Zeiten des Großen Friedrich +stammt. Dann geht es durch Schlachtensee und Nikolassee zum +Wannsee. Unsern Tee nehmen wir in einem etwas abgelegenen +Haus am See. Eine kleine Kapelle lockt zu ein wenig Tanz. +Unsre Begleiterin kann uns an lebenden Beispielen über den +Anteil des besten Berlin an den neuen Sommermoden belehren. +Aber auch mit den Segelbooten weiß sie Bescheid. Sie kennt +den Besitzer der hübschen Jacht, weiß, wem der eifrige Motor +gehört. Vielleicht haben wir noch Zeit, an den Stölpchensee +zu fahren und von der Terrasse auf die Paddelboote zu +schauen, auf die jungen zartkräftigen Knie der Mädchen, die +tief im Boot liegen, während der Gefährte oder die Gefährtin +lenkt. Im Vorbeifahren sehn wir bei Schildhorn Volk vom +Autobus hergebracht, das hier freibadet, Ball spielt und +Hunde tummelt. Rührend ist das Stückchen dünenzarter Sand am +Rande des Waldhangs, durch den Stolperwege zwischen +Kaninchenlöchern führen. + +Vielleicht ist unsre Begleiterin Mitglied des Golfklubs und +nimmt uns, wenn wir es verdienen, mit zu der schönsten +Sportstätte. Sie zu beschreiben zitiere ich Worte des +Dichters dieses lebendigsten, gegenwärtigsten Berlin, die +Worte Wilhelm Speyers in seiner ‚Charlott etwas verrückt‘: +»Unter den neuen Sportstätten im jungen Leben Berlins war +keine schöner geworden als der zwischen Wannsee und Potsdam +gelegene Golfplatz. Rasenflächen und Fichtenwälder mit +vereinzelten seitwärts gelegenen Bungalos fielen in sanfter +märkischer Schräge zu einem kleinen See oder zu neuen +Wäldern und neuen Rasenflächen hinab. Stand man oben auf der +Terrasse des Klubhauses, so wurden die über weite Räume +verteilten Spieler und ihre buntbekleideten Caddies in der +klaren, trockenen und reinen Luft der Mark vor dem Blickfeld +des Betrachtenden eng zusammengezogen, als seien sie mit +ihrem erhobenen oder gesenkten Spielgerät kostbar gebildete, +in schwierigen Verkürzungen dargestellte Figuren eines +japanischen Holzschnittes. Begleitet nur von den +bags-tragenden Knaben, doch abgesondert von den andern +Spielern, hatte der Spielende etwas in seiner Haltung von +dem frommen, auf sich gestellten Eifer eines Eremiten der +Thebais.« Von solchen Gestalten nennt uns unsre Protektorin +einige bei Namen, während wir auf der schönen Gartenterrasse +sitzen, und so lernen wir Berliner Gesellschaft kennen, +dieses schwer darzustellende Gebilde, zu dessen Formung +soviel verschiedene merkwürdige Ehrgeize beigetragen haben, +daß die zugleich freieste und konventionellste Sozietät +entstand. Man muß sich sehr zusammennehmen, um sich so gehen +zu lassen, wie es den großen Berlinern gefällt. Durch unsre +Athene (Athene ist Schutzgöttin der jungen Berlinerinnen +mehr als Diana oder Venus, glaub' ich), durch diese unsre +Athene werden wir auch den kennenlernen, der uns mitnimmt +zum Polo in die Gartenstadt Frohnau, zum Trabrennen nach +Mariendorf und auf die Rennbahn Grunewald usw. + +Nach alldem wird Athene uns, um ihre Güte vollzumachen, auch +noch heimfahren, und zwar über die Avus, die berühmte +Automobil-Verkehrs-und-Übungsstraße. Dort lernen wir, da wir +in diesem Artikel noch nicht so erfahren sind wie hier jeder +Junge von zehn Jahren, die verschiedenen berühmten +Automobilmarken im Vorbeifahren unterscheiden, und von +manchen wie jenem großen Hispano, diesem eleganten Buick, +dem schlanken ganz roten, dem kleinen ganz weißen Wagen, +nennt Athene den Besitzer oder die Dame am Steuer, während +die kleinen Bäume hinter dem Zaun und die Reklameschilder am +Straßenrand schräg in unsre rasche Fahrt sinken. Langsamer +gleiten wir dann durchs nördliche Tor, und hinterm Funkturm +geht es noch einmal mit achtzig oder mehr Kilometer die +breite Straße auf den Tiergarten zu. diff --git a/24-nachwort.rst b/24-nachwort.rst new file mode 100644 index 0000000..ca0b198 --- /dev/null +++ b/24-nachwort.rst @@ -0,0 +1,114 @@ +.. include:: global.rst + +NACHWORT AN DIE BERLINER +======================== + +:centerblock:`\*` + + +:initialit:`D`\ *as waren ein paar schüchterne Versuche, in +Berlin spazieren zu gehen, rund herum und mitten durch, und +nun, liebe Mitbürger, haltet mir nicht vor, was ich alles +Wichtiges und Bemerkenswertes übersehen habe, sondern geht +selbst so wie ich ohne Ziel auf die kleinen +Entdeckungsreisen des Zufalls. Ihr habt keine Zeit? Dahinter +steckt ein falscher Ehrgeiz, ihr Fleißigen.* + +*Gebt der Stadt ein bißchen ab von eurer Liebe zur +Landschaft! Von dieser Landschaft habe ich hier nichts +gesagt, habe die Grenzen der Stadt nur flüchtig mit ein paar +Worten überschritten. Sie ist ja schon viel beschrieben und +gemalt, die merkwürdige Gegend, in der unsere Stadt wohnt, +die märkische Landschaft, die bis auf den heutigen Tag etwas +Vorgeschichtliches behalten hat. Sobald die Sonntagsgäste +sie verlassen haben, sind Kiefernwald, Luch und Sand wie vor +der Zeit der ersten Siedler, besonders im Osten. Im Westen +aber haben wir ein Stück Landschaft, an der Menschenhand +mitgeschaffen hat. Das ist die Gegend, die Georg Hermann in +seinem ‚Spaziergang in Potsdam‘ eine Enklave des Südens +nennt. Wie in dies Neuland des achtzehnten Jahrhunderts +Stadt- und Parkbild sich einfügt, müßt ihr in dem kleinen +Büchlein nachlesen. Und dann laßt euch von ihm auf den Platz +beim Stadtschloß führen, den ‚losgelösten Architekturtraum‘, +und zu Knobelsdorffs Kolonnaden im Schloßgarten, den +Riesensäulen mit zart durchbrochener Balustrade, und in die +Schlösser, Hecken und Teppichbeete von Sanssouci. Er lehrt +das Persönliche der königlichen Schöpfung verstehn, die Art, +wie Friedrich ‚die Stadt im Gesamtbild abstimmte, als hätte +er sie innerlich stets als Ganzes vor Augen gehabt‘. An der +Hand dieses Führers wandert ihr dann auch gut durch die +Straßen der Stadt mit ihren glücklichen Durchblicken und +Abschlüssen, lebt mit all den Vasen, Girlanden, Flöten und +Leiern, Waffen und Sphinxen der Bauplastik, die ‚selbst im +Kietz, wo die Fischer wohnen, Amoretten auf der Dachkrönung +Netze flicken‘ läßt. Hermann unterscheidet die verschiedenen +Typen von Häusern, Puttenhäuser, Vasenhäuser, Urnen-, +Masken-, Medaillen-, Zopf- und Wedgwoodhäuser und ihre +Mischformen, beschreibt uns eine alte Straße, die ‚eine +zwitschernde Voliere all dieser Typen‘ ist, und treibt, +wohin er uns führt, ganz gelinde im Weitergehen, was er +selbst ‚peripatetische Stilkunde‘ nennt.* + +*Ins weitere und nähere Havelland leitet uns Fontane. Bei ihm +lesen wir zum Beispiel die Geschichte der alten und den +Anblick der späteren Pfaueninsel nach. Und was wir dort an +Blumenmustern der Tapeten, Bettschirmen und Möbeln von der +Welt der Königin Luise spüren, führt uns nach Paretz zu +ähnlichen Mustern, zu hängenden und tropfenden Bäumen auf +der Wandbespannung, zu Kommoden und Diwanen, in denen so +viel von der Atmosphäre dieser Frau und ihrer Welt geblieben +ist.* + +*Diese vollendeten Potsdamer Schönheiten zu lieben, fällt +nicht schwer, wir aber müssen die Schönheit von Berlin +lieben lernen. Zum Schluß müßte ich nun eigentlich auch +einige ‚Bildungserlebnisse‘ beichten und gestehn, aus +welchen Büchern ich lerne, was nicht einfach mit Augen zu +sehen ist, und manches, was ich sah, besser zu sehen lerne. +So eine saubere kleine Bibliographie am Ende, das gäbe +meinem Buch ein wenig von der Würde, die ihm mangelt. Ach, +aber auch in den Bibliotheken und Sammlungen bin ich mehr +auf Abenteuer des Zufalls ausgegangen als auf rechtschaffne +Wissenschaft, und zu solchem Kreuz und Quer durch die Welt +der Bücher möchte ich auch die andern verführen.* + +*Einer der großen Kenner der Geschichte, Kultur- und +Kunstgeschichte Berlins (ihre Namen finden sich im Baedeker +unter dem Abschnitt Literatur) sollte einmal eine +Beschreibung der Stadt aus lauter alten Beschreibungen +zusammenstellen und alle Denkmäler von den näheren +Zeitgenossen ihres Entstehens darstellen lassen: über das +Grabdenkmal des Staatsministers Johann Andreas Kraut in der +Nicolaikirche müßte der Rektor Küster vom Friedrich +Werderschen Gymnasium zu Worte kommen, über das Opernhaus +müßte aus Carl Burneys, der Musik Doctors, Tagebuch seiner +Musikalischen Reisen zitiert werden, über Schinkel müßte +einer von denen reden, die ihn den Königl. Geh. Oberbaurat +titulieren usw. Das gäbe einen hübschen bibliographischen +Spaziergang durch Berlin und würde uns immer neue +Vergangenheiten der Stadt bildhaft nahebringen und im noch +Sichtbaren Verschwundenes genießen lehren.* + +*Bisher wurde Berlin vielleicht wirklich nicht genug geliebt, +wie ein großer Freund der Stadt, der Bürgermeister Reicke, +einmal geklagt hat. Noch fühlt man in vielen Teilen Berlins, +sie sind nicht genug angesehn worden, um wirklich sichtbar +zu sein. Wir Berliner müssen unsere Stadt noch viel mehr — +bewohnen. Es ist gar nicht so leicht, das Ansehen sowohl wie +das Bewohnen bei einer Stadt, die immerzu unterwegs, immer +im Begriff ist, anders zu werden und nie in ihrem Gestern +ausruht. In seinem geistvollen, aber hoffentlich doch zu +pessimistischen Buch ‚Berlin, ein Stadtschicksal‘, klagt +Karl Scheffler, Berlin sei heute noch wie vor Jahrhunderten +recht eigentlich eine Kolonistenstadt, vorgeschoben in leere +Steppe. Darum keine Tradition, daher soviel Ungeduld und +Unruhe. Der Zukunft zittert die Stadt entgegen. Wie sollte +man da den Bewohnern zumuten, liebevoll in der Gegenwart zu +verweilen und die freundliche Rolle der Staffage im Bilde +der Stadt zu übernehmen?* + +*Wir wollen es uns zumuten, wir wollen ein wenig Müßiggang +und Genuß lernen und das Ding Berlin in seinem Neben- und +Durcheinander von Kostbarem und Garstigem, Solidem und +Unechtem, Komischem und Respektablem so lange anschauen, +liebgewinnen und schön finden, bis es schön ist.* diff --git a/README.md b/README.md new file mode 100644 index 0000000..df7d9ef --- /dev/null +++ b/README.md @@ -0,0 +1,17 @@ +Franz Hessel - Spazieren in Berlin +================================== + +Das git-Repository enthält die Quelldateien im Format reStructuredText. Sie bilden die Grundlage für die Ausgabe von [Spazieren in Berlin](https://in-transit.cc/buecher/franz-hessel-spazieren-in-berlin) als EPUB, HTML und PDF. + +Eine Kopie des Repositorys kann mittels git gezogen werden: +```` +git clone git://in-transit.cc/franz-hessel-spazieren-in-berlin +```` + +Download Links für zip- oder tar-Archive stehen auf der [commit-Seite](https://in-transit.cc/cgit/franz-hessel-spazieren-in-berlin/commit/) zur Verfügung. + +Aus den Quellen des Repositorys können verschiedene Formate mittels [Docutils](https://docutils.sourceforge.io/) oder, wie hier, mit [Sphinx](https://www.sphinx-doc.org/) generiert werden. + +Grundlage des Textes sind Scans des Erstauflage von 1929, die von der [Universität Greifswald](http://digitale-bibliothek-mv.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:gbv:9-g-5263172) zur +Verfügung gestellt werden. Auf dieser Basis wurde eine OCR-Fassung erstellt, die mit der Vorlage abgeglichen und in einer zweiten Korrektur-Schleife mit der parallel angebotenen [Textfassung der Universität](https://www.digitale-bibliothek-mv.de/viewer/api/v1/records/PPN181790468X/plaintext.zip) abgeglichen wurde. + diff --git a/anhang.rst b/anhang.rst new file mode 100644 index 0000000..e05bc0c --- /dev/null +++ b/anhang.rst @@ -0,0 +1,3 @@ +Anhang +====== + diff --git a/global.rst b/global.rst new file mode 100644 index 0000000..5090f4f --- /dev/null +++ b/global.rst @@ -0,0 +1,23 @@ +.. meta:: + :description lang=de: Franz Hessels »Spazieren in Berlin« nach der Erstausgabe von 1929. + :keywords lang=de: Prosa, Berlin, Zwanziger Jahre, Weimarer Republik, flanieren + :description lang=en: The text of the first edition (1929) of Franz Hessel's »Spazieren in Berlin« (Strolling in Berlin) + :keywords lang=de: prose, Berlin, 1920s, Weimar Republic, dandering + +.. geschützte leerzeichen +.. |nbsp| unicode:: 0xA0 + :trim: + +.. die häufigen auslassungen +.. |ellipsis| replace:: |nbsp| . |nbsp| . |nbsp| . |nbsp| + +.. role:: centerblock + +.. role:: initial + +.. role:: initialit + +.. role:: smallerfont + +.. role:: letterspace + diff --git a/index.rst b/index.rst new file mode 100644 index 0000000..3b31510 --- /dev/null +++ b/index.rst @@ -0,0 +1,34 @@ +.. figure:: _static/images/titel.jpg + + +.. toctree:: + :maxdepth: 1 + :caption: Inhalt: + + Der Verdächtige <01-der-verdaechtige.rst> + Ich lerne <02-ich-lerne.rst> + Etwas von der Arbeit <03-etwas-von-der-arbeit.rst> + Von der Mode <04-von-der-mode.rst> + Von der Lebenslust <05-von-der-lebenslust.rst> + Rundfahrt <06-rundfahrt.rst> + Die Paläste der Tiere <07-die-palaeste-der-tiere.rst> + Berlins Boulevard <08-berlins-boulevard.rst> + Alter Westen <09-alter-westen.rst> + Tiergarten <10-tiergarten.rst> + Der Landwehrkanal <11-der-landwehrkanal.rst> + Der Kreuzberg <12-der-kreuzberg.rst> + Tempelhof <13-tempelhof.rst> + Hasenheide <14-hasenheide.rst> + Über Neukölln nach Britz <15-ueber-neukoelln-nach-britz.rst> + Dampfermusik <16-dampfermusik.rst> + Nach Osten <17-nach-osten.rst> + Norden <18-norden.rst> + Nordwesten <19-nordwesten.rst> + Friedrichstadt <20-friedrichstadt.rst> + Dönhoffplatz <21-doenhoffplatz.rst> + Zeitungsviertel <22-zeitungsviertel.rst> + Südwesten <23-suedwesten.rst> + Nachwort an die Berliner <24-nachwort.rst> + Anhang <anhang.rst> + Korrekturen <korrekturen.rst> + Text- und Bildnachweis <textnachweis.rst> diff --git a/korrekturen.rst b/korrekturen.rst new file mode 100644 index 0000000..2eb42a6 --- /dev/null +++ b/korrekturen.rst @@ -0,0 +1,11 @@ +Korrekturen +=========== + +- Kap. 6 »Rundfahrt«: Offenbar wird es ihnen hier doch + gefallen haben - gefallen statt gegefallen + +- Kap. 20 »Friedrichstadt«: Kabinett des Porträtmalers zu + sein - zu statt su + +- Inhaltsverzeichnis: In der Erstauflage fehlt das Kapitel + »Die Paläste der Tiere«, hier nachgetragen. diff --git a/textnachweis.rst b/textnachweis.rst new file mode 100644 index 0000000..8b03069 --- /dev/null +++ b/textnachweis.rst @@ -0,0 +1,58 @@ +Text- und Bildnachweis und Lizenz +================================= + +Textnachweis +------------ + +Grundlage des Textes sind Scans des Erstausgabe von 1929, +die von der Universität Greifswald `zur +Verfügung gestellt werden +<http://digitale-bibliothek-mv.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:gbv:9-g-5263172>`_. + +Auf dieser Basis wurde eine OCR-Fassung erstellt, die mit +der Vorlage abgeglichen und in einer zweiten +Korrektur-Schleife mit der Textfassung der `Universität +Greifswald +<https://www.digitale-bibliothek-mv.de/viewer/api/v1/records/PPN181790468X/plaintext.zip>`_ +abgeglichen wurde. + + +Bildnachweis +------------ + +Für den Buchtitel dient der Ausschnitt einer Postkarte von +1928, die den Verkehr an der Kreuzung Friedrichstraße und +Leipziger zeigt. Das Foto steht über `Wikimedia Commons +<https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Berlin_postcard_c_1928_Leipziger_Strasse_-_Blick_in_die_Friedrichstrasse_(50002700796).jpg>`_ +zur Verfügung und wird dem Autor `Sludge G +<https://www.flickr.com/people/28179929@N08>`_ +zugeschrieben. Entsprechend der Lizenzvorgabe steht der +Ausschnitt selbst auch wieder unter der Creative Commons +Lizenz `Namensnennung - Weitergabe unter gleichen +Bedingungen 2.0 +<https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/deed.de>`_. + + +Lizenz +------ + +Für E-Book und HTML-Fassung gilt die Creative Commons Lizenz +für öffentliches Eigentum (Public Domain) (s. ccpd_). Davon +ausgenommen ist das Foto für den Buchtitel (s.o. +Bildnachweis). + +.. _ccpd: https://creativecommons.org/publicdomain/mark/1.0/deed.de + + +Rückmeldung +----------- + +Sollten Sie Anmerkungen haben oder Ihnen Fehler aufgefallen +sein - also Abweichungen von der Druckvorlage - schicken Sie +bitte gerne eine Nachricht an buecher (at) in-transit.cc. + + +Version +------- + +v1.0 |