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authorPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2024-11-27 18:15:59 +0100
committerPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2024-11-27 18:15:59 +0100
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--- /dev/null
+++ b/12-der-kreuzberg.rst
@@ -0,0 +1,238 @@
+.. include:: global.rst
+
+DER KREUZBERG
+=============
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`D`\ er ist obligatorisch. Eine Sehenswürdigkeit.
+Die höchste Erhebung über der Spree-Ebene. Da ich ihn seit
+langer Zeit nicht mehr besucht habe, beschloß ich ihn jetzt
+gewissenhaft zu besichtigen und begab mich gen Süden.
+Unterwegs in einer Nebenstraße der Großbeerenstraße gab es
+ein paar Schaufenster, vor denen mußte ich stehenbleiben. So
+lange konnte der Kreuzberg auf mich warten. Das eine verhieß
+Wäscheanfertigung jeder Art aus vorhandenem sowie aus
+geliefertem Material. Da lehnte über die Leine mit den
+Spitzentaschentüchern eine nachdenkliche Stoffpuppe ihre
+marmorgrauen Arme. Unter roter Kappe hatte sie blaugraue
+Locken, altfarben, wie Ahnenbilder sie haben. Es war schwer,
+an ihren einladenden Augen und Armen vorbeizukommen. Und
+wenige Schritte weiter war eine Vogel- und
+Vogelfutterhandlung. Auch für Fische und gegen Insekten gab
+es da mancherlei einzukaufen, und ich las Worte wie
+Piscidin, Wawil, Dermingin, Radicalin, Milbin. Vor allem
+aber einen Vers allgemeineren Inhalts, den ich mir gemerkt
+habe:
+
+ | Ein Vöglein im Heim
+ | Erfreut groß und klein.
+ | Große Auswahl in Sing-
+ | Und Ziervögel.
+
+Ich weiß nicht, ob die beiden letzten Zeilen auch als Vers
+gemeint sind, aber ich lese sie so.
+
+Das alles hielt mich begreiflicherweise auf, aber
+schließlich stand ich doch am Fuß des Berges vor dem großen
+Becken des Wasserfalls im Viktoriapark. Im Wasser lachte ein
+faunischer Fischer aus Bronze, der eine zappelnde Nixe in
+sein Netz zwang. Außer mir sah ihm bei dieser Tätigkeit von
+der nächsten Brandmauer der Kreuzbergstraße ein riesiges
+Reklamefräulein staunend zu, ohne darüber ihre Arbeit zu
+vernachlässigen. Sie mußte die Wäsche in ihrer
+Riesenschüssel mit empfehlenswerten Seifenflocken behandeln.
+Ich aber ging einem kleinen Jungen nach, der auf seinem
+Dreirad bergauf fuhr bis zu dem Sandspielplatz. Am Lido, in
+Ostende und an der Riviera soll das gesellige Strandleben
+sehr entwickelt sein, in Berlin gibt es in verschiedenen
+Volksparks aber auch sehr schöne Sandplätze. Sie haben meist
+eine Holzfassung, auf deren Brüstung die ganz Kleinen ihre
+Kuchenformen stülpen, während innen in der weiten Sandwüste
+die Größeren Berge mit Tunneln und mit Rauchlöchern für
+Vulkane bauen. Neidisch und erwachsen sehe ich den Eifrigen
+zu und komme auf eine Bank neben ein paar alte Frauen zu
+sitzen, von deren Gespräch ich wie einen Refrain oder wie
+Pedal einer Klaviermusik immer nur höre: »Da hat se ja nu .
+. . da wird se ja auch . . . da hat se alles jehabt . . .«
+Aber ich habe weiter Park und Berg zu besichtigen und suche
+zunächst pflichtgetreu die Denkmäler der Freiheitsdichter
+auf, die hier im Grünen verteilt sind. Es sind
+angenehmerweise nur Hermen, harmlos unter Büschen, über
+Beeten wie die, welche im Pariser Luxembourggarten dichten.
+Da haben wir Rückert in langem Haar mit
+Schmetterlingskrawatte. In ein Notenheft, das breit genug
+ist für Ghaselen, schreibt er an einer Strophe, deren
+Komplikationen ihm Stirnfalten über den sinnenden Augen
+machen. Unten an seinem Sockel spielt auf seiner Leier ein
+Bambino. Unweit steigt Körnern der Kragen hoch an die
+Koteletten des nach links oben strebenden Hauptes. Sein
+Militärmantel ist zur Toga drapiert, und mit seiner
+Dichterrolle faßte er gleichzeitig das Schwert. Auch drüben
+Heinrich von Kleist braucht die Linke nicht nur zum Halten
+des Dichterhandwerks, sie faßt zugleich des Schoßes
+Draperie, während die Rechte mit dem Gänsekiel unter dem
+versonnenen Kinn langfährt. Auf Uhlands Rolle steht
+geschrieben ‚Das Alte Recht‘. Er sieht überzeugt geradeaus.
+Hübsche Blaublümchen blühn im Beet vor seinem Sockel. Und
+davon blühn noch mehr und dichter beieinander an dem
+Seitenbach des Wasserfalls, an dem entlang ich nun weiter
+hinauf muß, dankbar für alles, was mich unterwegs aufhält.
+Es gibt noch einige zoologische und botanische Ablenkungen.
+Hinter Drahtgitter Goldfasanen und Rehe. Man darf sie weder
+füttern noch necken. Denn, steht geschrieben, Gesundheit und
+Leben der Tiere ist hierdurch gefährdet. Vor den
+Blumenbeeten mit den gelehrten Porzellanschildchen höre ich
+Nachbarstimmen auseinandersetzen: »Das ist auch ’ne
+Alpenrose, sag’ ich dir, nur ’ne andre Sorte, steht ja
+Orient drauf.« Bei den Pfingstrosen fragt mich ein blasses
+Rothaariges: »Können Sie mir mal sagen, wie spät’s is?« und
+mahnt mich so zur Eile. Ich halte mich also nicht auf bei
+den Probeporträts, welche auf halber Berghöhe, wo der Weg
+über die Brücke des Wasserfalls führt, ein Photograph
+ausstellt. Auch nicht bei dem tiefgebetteten Milchkurgarten,
+aus dem ich doch meine Sommerfrische machen könnte. Nein,
+statt mich zu erholen, steige ich neben künstlichem Fels die
+Granitstufen hinauf, sechzig Stufen der oberen Terrasse bis
+zum großen Denkmal.
+
+Neben mir erklärt ein Familienvater Frau und Kindern, was es
+da unten ringsum an Türmen und Dächern zu sehen gibt, er
+zeigt ihnen die Hallen des Anhalter Bahnhofs,
+Reichstagskuppel und Siegessäule, nahe Gnadenkirche und
+ferne Lutherkirche. Als er dann zu den grünspanigen Kuppeln
+am Gendarmenmarkt, zu Hedwigskirche, Dom und Schloß kommt,
+wird die kleine Tochter ungeduldig und fragt: »Wollen wir
+nicht bei den kleinen Fluß gehn?« Damit meint sie den
+Wasserfall. Der Vater aber gelangt erklärend weiter zu den
+Kirchen der Altstadt. Ich denke bei den Namen nach, wer wohl
+in vergangenen Zeitläuften von dieser Höhe auf die alten
+Türme hinuntergesehen haben mag. Da fällt mir die Anekdote
+von dem Kurfürsten Joachim ein, der hier oben ein paar
+Stunden seltsamer Angst und Spannung verbracht hat. Dem
+hatte nämlich sein gelehrter Sterndeuter Carion, dem er eine
+Sternwarte in seinem festen Schloß zu Cölln an der Spree
+eingerichtet hatte, prophezeit, es werde am 15. Juli 1525
+ein grausames Wetter die Städte Berlin und Cölln ersäufen.
+Der Tag brach, wie die Chronisten erzählen, wolkenlos an,
+mittags herrschte glühende Hitze, der Himmel bekam ein
+fahles Gelbgrau und am Horizont erschien eine schwarze
+Wolke. Da gab es Unruhe im Schloß, die Hofwagen wurden eilig
+angeschirrt, und der Kurfürst lief mit verstörter Miene
+durch die Gemächer. Und als die Wolkenwand höher stieg und die
+ersten Blitze zuckten, sprangen die Tore des Schlosses auf,
+der Kurfürst, seine Gemahlin und die Kinder fuhren im
+vierspännigen Wagen über den Schloßplatz, die vornehmsten
+Räte, Offiziere und Hofdiener folgten zu Pferde und zu Fuß,
+mit eilig zusammengeraffter Habe beladen.
+
+Nach Süden ging der Zug, wo sich die Cöllnischen Weinberge
+erhoben. Hier hat es nämlich vormals Weinberge gegeben, auf
+denen wirklich Wein gedieh. Er war wohl ziemlich sauer,
+wurde aber nicht nur in der Mark getrunken, sondern auch
+nach Polen, Rußland und Schweden ausgeführt. Erst als der
+Branntwein aus einem Medikament gegen Heiserkeit, Gicht,
+Kopfweh, Wurm und stinkenden Atem allmählich ein beliebtes
+Getränk wurde, das man nicht nur in Apotheken kaufte, hat er
+den Weinbau von diesen Tempelhofer Bergen verdrängt. Auf den
+höchsten der Hügel, den, der heute Kreuzberg heißt, ging der
+Zug des Kurfürsten und suchte dort Schutz gegen die drohende
+Sintflut. Hier oben wartete man auf das Wetter, das nicht
+kam. »Als er aber lange darauf gehalten und nichts daraus
+geworden, hat ihn sein Gemahl (wie sie denn eine sehr
+christliche und gottesfürchtige Fürstin gewesen) gebeten,
+daß er möchte wieder hineinziehen und bei seinen armen
+Unterthanen ausharren . . . Davon ließ er sich bewegen und
+ist um 4 Uhr gegen Abend wieder gen Cölln gezogen. Ehe er
+aber aufs Schloß kommen, hat sich ein Wetter bewiesen und
+wie er unter das Schloßtor kommen, hats dem Kurfürsten vier
+Pferde vor dem Wagen samt dem Knechte erschlagen und sonsten
+keinen Schaden mehr getan.« So zu lesen in Peter Hafftitz’
+Mikrologikon.
+
+Was sah der geängstete Monarch, wenn er von der drohenden
+Wolke weg auf seine Residenz blickte? Hinter Sumpf und Sand
+einen Wall mit Türmchen und Zinnen, dahinter seine Burg
+‚Zwing-Cölln‘, wie sie das Volk nannte und von der heut nur
+noch der Grüne Hut übrig ist, jener runde Turm an der
+Spreeseite mit dem grünspanbedeckten Kupferdach, in Cölln
+ferner Kuppeln und Spitzen der Glockentürme von Sankt Peter
+und nah dabei das Dominikanerkloster, wo vor einigen Jahren
+Tetzel gehaust hatte, um den Cöllnern und Berlinern die
+Höllenqualen recht genau darzustellen und Ablaßzettel zu
+verkaufen . . . Und weiter wanderten seine Blicke über das
+Haus des Heiligen Geistes zu Sankt Marien und Sankt Nicolas,
+zu den Grauen Brüdern und über die Mühlen am Wasser bis zum
+Köpenicker Tor, durch das er damals zur Jagd geritten war an
+dem schlimmen Tage, als ihm die verschworenen Junker auf der
+Heide auflauerten. Dort am Tor hatte das Haupt des kecksten
+der Rebellen aufgesteckt geprangt und ein ganzes Jahr lang
+von seiner Eisenstange herabgegrinst. Zwischen den Kirchen
+und stolzen Eckhäusern der Breiten- und der Klostergasse
+waren nur niedere Schilfdächer und ein paar moosige
+Ziegeldächer zu sehn und viel freies Feld, Acker und Weide
+und Tümpel mitten in der Stadt.
+
+Von diesem Hügel haben Schweden und Kaiserliche abwechselnd
+auf die bedrängte Stadt geblickt, die dann der Große
+Kurfürst zur zackig umwallten Kanonenfestung umschuf.
+Im Siebenjährigen Krieg sind Österreicher und Russen hier
+gewesen. Feuerkugeln mit langen Schwefel- und Pechkränzen
+schossen hinunter. Danach hat der arme Sandhügel eine Weile
+Ruhe von der Weltgeschichte gehabt. Erst anno 1813 haben die
+Berliner auf dem Tempelhofer Berg und den Rollbergen
+Schanzen zur Stadtverteidigung angelegt. Aber der Feind kam
+nicht bis an die Stadt, nur der Kanonendonner von
+Großbeeren. Und bald danach läuteten die Glocken Dank für
+den Sieg bei Leipzig. Im Jahre 1818 wurde der Grundstein
+gelegt zu dem Siegesdenkmal, das hier hinter mir aufragt.
+Die Majestäten von Rußland und Preußen warfen Kalk aus der
+Maurerkelle auf das Lager des Steins. Und dann wuchs, ganz
+aus Eisen gegossen, Schinkels Denkmal im sogenannten
+‚altteutschen Style‘ empor, und zwar, wie ein Zeitgenosse
+berichtet, »auf einem achteckigen Unterbau, welcher eine
+erhöhte mit steinernen Platten bedeckte Terrasse um das
+Monument bildet, die sich auf elf rings um das Achteck
+laufenden Stufen erhebt . . . Bei den Teilen und bei dem
+Ganzen hat die Architektur des Kölner Domes zum Muster
+gedient . . . Das Ganze bildet einen thurmartigen Baldachin,
+der sich über zwölf Kapellen oder Nischen erhebt, aus denen
+die im Grundriß bestimmte Kreuzform des Ganzen
+zusammengesetzt ist. Diese nischenartigen Kapellen sind den
+zwölf Hauptschlachten des großen Krieges gewidmet und jede
+Nische ist mit einem charakteristischen Siegesgenius
+ausgefüllt, dessen Gestalt dem durch ihn personificierten
+Ereignis entspricht. Die schöne Aufgabe dieser Gestalten für
+den Bildhauer ist bereits in vollendeten Figuren durch die
+Professoren Rauch, Tieck und Wichmann jun. sehr glücklich
+gelöset . . .« Die Genien haben klassizistisch abgeschwächte
+Ähnlichkeit mit den Fürsten und Helden der Zeit, Culm mit
+Löwenhaut und Keule sieht dem König Friedrich Wilhelm
+gleich. Dennewitz trägt Bülows Züge. Blücher ist zweimal
+vertreten, stürmend an der Katzbach, im nordischen Harnisch
+bei La Rothiere. Der Siegesgöttin von Paris verlieh Rauch
+die Gesichtszüge der Königin Luise und ließ sie in der
+Rechten eine kleine Quadriga tragen, die an die
+wiedergewonnene große auf dem Brandenburger Tor gemahnt.
+Belle-Alliance aber, der Endsieg, blieb den unumgänglichen
+Föderierten vorbehalten: das Haupt hat die Züge der
+russischen Kaiserin Alexandra Feodorowna, und obendrein sind
+noch auf der Mittelfalte ihres Gewandes als Stickereien die
+übrigen elf Genien in Relief wiederholt. Später wurde für
+das Denkmal eine höhere Untermauerung geschaffen und es
+wurde mittels hydraulischer Pressen bis zu seiner
+gegenwärtigen Höhe gehoben.
+
+Benommen von alter Zeit und dem Abendwind, der von den
+Brauereien her Geruch von Malz wehte, wie man ihn in München
+riecht, hätte ich gern jemanden gefragt: Wo ist denn hier
+der Dustere Keller ? Der muß einmal hier am Abstieg gelegen
+haben. In Urzeiten war es eine Schlucht mit Aschenurnen,
+dann hauste dort in fritzischen Zeiten ein wunderlicher
+Einsiedler. Dann war es ein beliebtes Ausflugsziel. Und in
+den heimlichen Tagen vor den Freiheitskriegen gründeten die
+vaterländischen Turner Jahn und Friesen in der Wirtschaft
+mit ihren Freunden den Deutschen Bund, in welchem der
+aufgelöste Tugendbund weiterlebte. Aber da seh ich Flieger
+im Osten über Tempelhof und besinne mich auf die Gegenwart.