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path: root/16-dampfermusik.rst
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authorPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2024-11-27 18:15:59 +0100
committerPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2024-11-27 18:15:59 +0100
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-rw-r--r--16-dampfermusik.rst146
1 files changed, 146 insertions, 0 deletions
diff --git a/16-dampfermusik.rst b/16-dampfermusik.rst
new file mode 100644
index 0000000..cea0e5d
--- /dev/null
+++ b/16-dampfermusik.rst
@@ -0,0 +1,146 @@
+.. include:: global.rst
+
+DAMPFERMUSIK
+============
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`‚H`\ ier können unentgeltlich Ziegelsteine
+abgefahren werden. Nachfragen beim Bauführer.‘ Das sind die
+Steine der alten Jannowitzbrücke, die abgebrochen wird, weil
+mitten in der alten Hafenstadt Cölln am Wasser vieles neu
+werden soll. Eine Untergrundbahn wird hinübergetunnelt. Es
+zischt und stampft um Stahlgerüste und Walzen. Durch Schutt
+und an Sperren entlang schlängle ich mich an die
+Abfahrtsstelle der Dampfer, die spreeaufwärts fahren.
+Vergnügungsdampfer mit Musik. Das möchte ich erleben; steht
+doch auch im Baedeker, den ich jetzt immer so neugierig
+studiere, unter 4. Tag, nachmittags: Dampferfahrt nach
+Grünau. Aber der Mann am Schalter der
+Schiffahrtsgesellschaft will, daß ich statt nach Grünau nach
+der Woltersdorfer Schleuse fahre, ich weiß nicht weshalb, er
+ist streng mit mir, wie viele seinesgleichen in Berlin. Er
+erlaubt mir, erst noch im Restaurant am Wasser zu essen.
+Inzwischen füllt sich der Dampfer, die besten Plätze werden
+besetzt. Ich gedenke mit dem zweiten zu fahren, der eine
+Viertelstunde später abgehen soll, werde aber im
+entscheidenden Augenblick in den ersten beordert und
+verfrachtet. Da bin ich wieder einmal ins Altertümliche
+geraten. Hier sitzen nämlich die Leute, die noch dick sind.
+In raschen Motorbooten treibt die schlanke sportliche Jugend
+von heute an uns vorbei; wir aber sitzen, feiste Herren in
+den besten Jahren und Madam’s in umfangreichen Stoffbergen
+wie auf Altberliner Scherzbildern. Qualvoll langsam
+schleichen wir vorwärts, überflüssig und müßig zwischen all
+dem Fleiß der Eisenhallen, Schornsteine und Krane an den
+Ufern.
+
+Da sind Weizenmühlen mit mächtigen Elevatoren, die das
+Getreide aus dem Lastkahn heben, andre, die es mit
+Exhaustoren aus den Kähnen saugen. So kommt es in die Mühle
+hinein, wird gewogen, gesiebt, gewaschen, getrocknet,
+gequetscht, gemahlen und wieder gesiebt, in Säcke gefüllt,
+alles am laufenden Band und in gleicher Weise als fertiges
+Mehl für den Weitertransport zum Kahn zurückgeleitet. Wir
+kommen unter der Oberbaumbrücke hindurch. Von den
+backsteinernen neu-altmärkischen Warttürmen seh ich hinüber
+zu dem großen Kühlhaus, das hinter seinen Gerüsten schon
+fast vollendet über den Osthafen ragt. In weiten Lagerräumen
+sollen dort Tausende und Tausende von Eiern, Riesenfrachten
+von Gemüse, Obst und Fleisch in Kühlzellen bis zum Verbrauch
+aufgehoben werden. Drüben am Treptower Strand kommt grüner
+Park ans Wasser. Ich möchte am liebsten aussteigen und zu
+den Kindern gehn, die da hinten in fliegenden Kästen, auf
+schwingenden Seilen sich vergnügen. Da muß doch wohl noch
+die Liliputeisenbahn sein, die auf ihrer Schiene rundum fuhr
+gleich der, die man im Kinderzimmer aufbaute und aufdrehte.
+Es waren drei offne Aussichtswagen, die gingen hinter
+kleinem Rauch zweimal im Kreise mit Läuten und Pfeifen über
+Feld und durch die beiden Tunnel. ‚Klettermaxe‘ hieß die
+Lokomotive, darin der Zugführer saß. Eierhäuschen heißt das
+Etablissement und die Straße dahinter führt zur großen
+Sternwarte. Da breitet sich auch der Rasen, auf dem das Volk
+frei lagern darf wie in Versailles auf unverbotnem Gras. Ich
+möchte aussteigen, aber unser Dampfer hält nicht. Zu unserer
+Linken taucht nun das ‚Gelsenkirchen an der Spree‘ auf,
+Oberschöneweide und dahinter Rummelsburg. Am Ufer Zillen,
+die Schlacke laden, dahinter Metallwerke, die rote
+Textilfabrik, das Transformatorenwerk und fern noch einmal
+die Riesenschornsteine des Großkraftwerks Klingenberg. All
+dieser rauchende ragende Fleiß beschämt unsre fette Ruhe,
+unser elendes Schneckentempo. Jetzt machen wir gar Musik!
+
+Es geht an Köpenick vorbei. Das verlockt weniger zum
+Aussteigen. Ich weiß zwar, hinter dem alten Burggraben, der
+jetzt Ententümpel ist, erheben sich Schloß und Kapelle. Es
+ist das Schloß, in dem der Kurfürst Joachim mit der schönen
+Spandowerin Anna Sydow gehaust hat, das Schloß, an dessen
+Tür sein Todfeind, der Ritter von Otterstedt, die berühmten
+Worte anschlug:
+
+ | ‚Jochimke, Jochimke, hüte dy.
+ | Fange wy dy, so hange wy dy‘.
+
+Aber um dahin zu gelangen, muß man durch die übliche
+Langweile trister Miethausblöcke und Kaiser Wilhelmsplätze.
+Hinterm Schloß gäbe es allerdings dann den Wendenkietz mit
+Fischerhütten, Reusen und Netzen, und verwitterndes
+Mauerwerk um den Alten Markt. . . Es sitzt aber alles Volk
+so unbeweglich um mich herum, ganz der Dampfermusik und dem
+künstlichen Feiertag hingegeben. Ich kann nicht durch.
+Mitleidig winkt uns aus den vielen Bootshäusern,
+Badeanstalten und Freibädern junges Volk zu. Und rings um
+mich wird dauernd wieder gewinkt. Winken ist die
+Haupttätigkeit des Dampferpublikums.
+
+Nun werden wir über den See transportiert und halten vor
+einem Gasthaus, wo wir Rieseneisbeine essen sollen, das
+steht diktatorisch angeschrieben. Und da hier viele
+aussteigen, brauche ich nun auch nicht mehr bis zur
+Woltersdorfer Schleuse durchzuhalten; ich klettere mit den
+andern die angelegte Treppe hinunter, begebe mich unter
+Preisgabe meines Retourbilletts an den Eisbeingeboten vorbei
+rasch in den Wald und gehe sandige Wege unter Föhren, die im
+Nachmittagslicht chinesische Silhouetten bekommen.
+
+Als ich dann auf die Chaussee kam, hatte ich doch noch
+Glück. Ein Auto taucht auf, das ich erkenne: es ist der
+Graham-Paige des Freundes. Ich winke wie ein
+Schiffbrüchiger. Und nun darf ich nach all der feisten
+Nachbarschaft auf dem Dampfer neben der schlanksten der
+jungen Berlinerinnen sitzen, die einen Kinderballon bunt
+flattern läßt, den sie von Treptow mitgenommen hat. In
+erfrischendem Tempo fahren wir an hockenden Dorfhäusern
+vorbei zwischen Kornfeldern und zart ansteigenden Höhen. Da
+ist Königswusterhausen. Der Turm der Telefunkenstation aus
+eisernem Spinnweb. Das schöne gelbe Vorgebäude des
+Jagdschlosses, in dem das Tabakkollegium tagte. Wir kennen
+den Tisch der Rauchkumpane aus dem Zimmer im
+Hohenzollernmuseum. Ich beschreibe meiner Nachbarin des
+Königs Hofnarren, den Professor Gundling in seiner
+parodierten Zeremonienmeistertracht, rotem, samten
+ausgeschlagenem Leibrock mit Goldknopflöchern, gestickter
+Weste und mächtiger Staatsperücke aus weißem Ziegenhaar.
+Obendrauf ein Straußenfedernhut, unten dran strohfarbene
+Beinkleider, rotseidne Strümpfe mit Goldzwickeln und Schuhe
+mit roten Absätzen. Während wir von diesem armen Narren und
+seiner Welt plaudern, geht es weiter die lange Straße nach
+Storkow und in halber Nacht Waldwege nach dem
+Scharmützelsee.
+
+Spät sitzen wir auf der Terrasse des Hotels von Saarow. Oben
+wird getanzt. Am Wasser ist Rampenbeleuchtung, die ein Stück
+See aus der Nacht hebt.
+
+Zur Nacht werden wir hier bleiben und morgen wird der weite
+See in unsern Fenstern sein. Und dann fahren wir über
+Pieskow hinaus und steigen aus bei den hübschen, im Grünen
+versteckten Häusern der Schauspielerkolonie ‚Meckerndorf‘.
+Und machen in Saarow selbst Besuch in einem der
+kühngiebeligen Häuser der Malerkolonie. Werden wir den See
+hinauf in ferne Uferwinkel Motorboot fahren? Oder zu Fuß
+durch die Wälder gehn bis zu den Markgrafensteinen? Oder
+Pfade so nah als möglich am Wasser?
+
+Schade, daß es zum Baden schon zu spät im Jahre ist.