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author | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2024-11-27 18:15:59 +0100 |
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Aber was sonst hier noch steht, wird fast alles +eingerissen oder umgebaut werden. Die meisten Grundstücke +und Parzellen sind bereits im Besitz der Hoch- und +Untergrundbahn, die ihren Schacht gen Osten gräbt. Was sie +davon abtreten wird, darf dann der neue Besitzer nicht nach +Gutdünken bebauen, alle künftigen Bauten hier sind gebunden +an die Entwürfe des Stadtbauamts. So besteht keine Gefahr, +daß die Spekulation häßliche Mietskasernenblöcke mit +düstern, luftarmen Quer- und Hintergebäuden türmt und +kleistert. Um eine Mittelinsel, auf der Kreisverkehr +eingerichtet werden wird, sollen in Hufeisenform Hochhäuser +aufwachsen. + +Wo Altes verschwindet und Neues entsteht, siedelt sich in +den Ruinen die Übergangswelt aus Zufall, Unrast und Not +an. Wer hier die Schlupfwinkel kennt, kann in seltsame +Wohnstätten finden und führen, schaurige Zwischendinge von +Nest und Höhle. Da versteckt sich zum Beispiel in den +Kellerräumen einer abgerissenen Mietskaserne, die einen der +großen Obstläden enthielt, welche zur nahen Markthalle ihre +Wagen und Körbe sandten, hinter Schutt und Mörtel der +‚Bananenkeller‘, eine traurige Schlafstelle für Obdachlose, +die in den Nachtasylen nicht mehr unterkommen können oder +wollen. Sie kriechen hier in ihren Winkel, wenn die Lokale +rings am Platz und in den nahen Straßen geschlossen werden. +Sie ziehen die Beine nur ein bißchen näher an den Bauch und +zerren die Jacke über die Knie, wenn wir unbefugten +Eindringlinge an ihnen vorüberstolpern. Andre Kellerräume +enthalten kleine Basare, deren Inhalt an den Pariser +Flohmarkt erinnert. Da sind zu verkaufen: Konservengläser +und Karbidlampen, Vogelkäfige und Papierkörbe, alte +Zylinderhüte und Lampenzylinder, Russenkittel, ‚kaum +getragene‘ Schuhe, Schnürsenkel und Ölgemälde mit +‚Gold‘rahmen, Plumeaux und sogar Straußenfedern. Auch die +Oberwelt ist voll fliegenden Handels. Am Zugang des +Georgenkirchplatzes, wo im Regen frierende Dirnen um die +Ecke schleichen und starr stehen, sah ich aus der Zaunlücke +des Abbruchs eine graue Alte den armen Geschöpfen +weißleinene feste Unterbeinkleider hinhalten. Das sollten +sie gegen die Kälte über die durchbrochene ‚Reizwäsche‘ +ziehen. + +An Ruinen entlang, die an die Trümmer zerschossener Städte +erinnern, kommen wir in die Münzstraße und in dichtes +Gedränge. Vor dem Ausschank liegt ein Weib auf dem Boden, +über ihr, noch in Boxerstellung, einer der Gesellen in Mütze +und Sweater, die hier vorherrschen. Interessiert sehen die +Umstehenden zu. Einzugreifen wagt keiner. Es zeigt sich auch +kein ‚Grüner‘. Die Justiz, die hier vollzogen wird, erfreut +sich allgemeiner Anerkennung. Wir werden weitergedrängt. +‚Ihr seid wohl übrig jeblieben von jestern‘, ruft einer +unsrer kleinen Gruppe nach. In der nächsten Straße, ich weiß +nicht, ob wir näher oder weiter vom Platz sind, drängen sich +die Leute um einige Straßenhändler. Da ist der mit den +Krawatten überm Arm: ‚Alles für eine Mark. Die janze +Filmwelt trägt meine Binder.‘ Der drüben mit den +Schnürsenkeln scheint große Beredsamkeit zu entwickeln, aber +durch seine zahlreiche Zuhörerschaft können wir nicht +hindurch. ‚Zauberhölzchen‘, schreit’s von rechts her neben +dem Stand mit den Visitenkarten, die gleich mitzunehmen +sind, frisch von der Prägemaschine. Dampf steigt warm auf um +den Schild ‚Bouletten von Roßfleisch, Stück 5 ch.‘. Jetzt +sind wir, glaube ich, in der neuen Königstraße. Hier +interessieren mich am meisten die Anschläge und Aufschriften +über und an den Läden: ‚Hundeklinik und -Bad, Hunde- und +Pferdescheranstalt‘ und kleiner darunter ‚Kupieren, +kastrieren, schmerzl. Töten‘. ‚Der neue Hut, aber ein +Cityhut muß es sein‘, ‚Künstlergardinen‘ (was für Vorhänge +mögen das sein?). Und vor einer tiefen Tür ‚Achtung! Hier im +Keller ist Rattengift gelegt.‘ Ein Laden umfaßt zweierlei +Gewerbe: Übersetzungsbüro und Kunststopferei. + +Zurück in die Gegend des Platzes und nach Osten. War hier +die Ecke oder auf einer andern Wanderschaft oder — nur +geträumt, wo ich oben am Erkerfenster die Inschrift Hotel +verkehrt, auf den Kopf gestellt, bemerkte? Ein seltsam +grausiger Anblick, der das ganze Haus gespenstisch machte, +dies ⅂Ǝ⊥OH¡ + +Noch eine ganze Strecke weiter kann ich nicht auf die Straße +und die Menschen sehen, sondern bleibe mit den Augen an der +Riesenliteratur anpreisender Worte auf Bretterzäunen und +Schaufenstern der kleinen Läden und großen Ausverkäufe +haften. In der Auslage des Tabaksladens kniet eine Nymphe im +Lendenschurz unter einem Baum mit stilisierten Blättern, +neben ihr wartet, wie sonst ein Krug, ein Aschbecher mit +einer Steingutzigarette. Das ist ‚Flora Privat, leicht, süß, +duftig, die Siegerin der 2 Pfennig-Zigaretten‘. Im Papier- +und Galanteriewarengeschäft finden sich zwischen Rhein- und +Weinliedern und der kuriosen Witzkiste die ‚neuen +Tanzschellenbänder, eine reizende Spende‘. Überraschend sind +manche Wortbildungen. Die ‚Naturange‘ erschreckt ja auch in +andern Stadtteilen, aber ‚Stilla Sana‘, den stärkenden +Wermutwein, habe ich nur hier bemerkt. Er stand neben +anerkannt vorzüglichen und preiswerten Fruchtweinen ‚zur +Einsegnung und Jugendweihe mit 5% Rabatt‘. Erstaunlich ist +auch das ‚Darmgleitmittel Rodolax‘. Leibharnische finden in +dieser Gegend die umfangreichsten Damen, Passendes für die +stärksten Figuren, zum Beispiel den neuen Hüftformer mit +Magenbinde. Der ‚Kavalier‘ kann den eleganten Tanzschuh +kaufen, der vorn recht spitz ist. Über die käferbraune Mitte +des Promenadenschuhs schließt sich die schwarze Kappe +wie mit einem Bändchen. Es gibt auch treuherzig +Kleinbürgerliches: ‚Borgen Pech / Ware los / Gäste weg‘, +schreibt ein Wirt an seine Destillentür, und in der ‚Grünen +Quelle‘ hängt überm elektrischen Piano das Bild eines Löwen +und darunter steht geschrieben: ‚Brülle, wie ein Löwe +brüllt, wenn das Glas nicht vollgefüllt.‘ Neben greller +Werbewoche im ‚Küchenhimmel‘ und ‚Möbelcohn‘ wirkt rührend +volksliedhaft die etwas blasse Inschrift an einer +Handelsgärtnerei ‚Blumen für Freud und Leid‘. + +Bei solcher Lektüre sind wir in die Große Frankfurterstraße +geraten. Betäubendes Sägen und Rasseln dringt über den +Bretterzaun, der die Mitte des Dammes absperrt. Auf die +Männer, die den Hammer niederprasseln lassen und Stricke +ziehen, welche über Winden laufen, lächelt aus der +Maskengarderobe für Ernte- und Kinderfeste, Volks- und +Ländertrachten ein Wachsmädchen in Brünnemieder und weißer +Haube herab. Das Eisengerüst der Dampframme ragt vier +Stockwerk hoch. Und dort, wo das Pflaster aufgerissen ist, +schimmern frühlingsgrün in der herbstlichen Straße +Zementsäcke, die übereinandergeschichtet liegen. Einer der +Arbeiter, die sie einen nach dem andern leeren, trägt eine +ebenso grüne Joppe, die angeleuchtet wird von der Gasflamme +neben der Maschine wie Parklaub von den Kandelabern +vornehmer Avenuen. Er schüttet den Zement auf eine Stelle, +auf die von andern eine braune Masse geschippt wird. Und die +Mischung dringt in den Behälter, der sich wie eine +Baggermaschine im Kreise bewegt und seinen Inhalt in einen +Schlund gießt, aus dem die Masse feucht in die wartende +Lore fällt. Die karrt die Beute fort bis dahin, wo die +vorangewanderte Schicht austrocknet, und das Feuchte wird an +das Trocknende gepappt. Kleine Jungen bestaunen mauloffen +das Schauspiel der Arbeit. Und auch die Großen bleiben +stehn. Zuschauen können die Berliner noch immer wie in alter +Zeit, als sie es noch nicht so eilig hatten wie heute. Nur +scheinen inzwischen ihre Sachkenntnisse gewachsen zu sein. +Es sind nicht mehr die Naiven, die Hosemann gezeichnet hat, +wie sie auf die großen Röhren der englischen Gasgesellschaft +starren und sagen: ‚Wenn ick nur wüßte, wie sie das Öl durch +die Kanone da ruff kriegen.‘ + +Am Straßenrande erwarten uns neue Versprechungen. Der +Hackebär hat eigne Wurstfabrik. Seine neue Bauernkapelle ist +da. Es wird wieder den alten Betrieb geben, Stimmung, Humor. +Viel Volk wartet schon unter wehenden Wimpeln. In einen +Salon im Hinterhaus locken von der Wand des Durchgangs +Friseur und Friseuse aus weißer Pappe. Gewaltige Filmreklame +verkündet Amerikas berühmtesten Cowboy und den Grafen von +Cagliostro. Der hohnlächelt über ihren Fächer weg auf eine +schmerzlich stirnrunzelnde Brünette. Dunkle Nebenstraßen mit +altertümlich sanften Namen unterbrechen unsern grellen Pfad. +Ach, der alte Weinkeller mit den einladenden Strophen an +schräger Wand über den tiefen Stufen! + +Und jetzt stehn wir am Torweg zum Rosetheater. Gegeben wird +‚Der Verschwender, Romantisches Volksstück von Ferdinand +Raimund‘. Es fängt erst in zehn Minuten an. Wir können noch +den Durchgang zu Ende gehn bis zu den herbstlichen Skeletten +der Laubengänge, die hier ein Sommerzelt bilden. Da steht +gegen himmelhohe Brandmauer — wie eine Kulisse vor +Theaternacht — mit grünen Pilastern und Fensterrahmen licht +ein altertümliches Häuschen. Hier wohnten vielleicht früher +die, denen das Theater gehörte, und damals war gewiß der +Eingang von der Gartenseite; denn hier führen breite Stufen +einer alten Terrasse in das Schauspielhaus. + +Wir haben unsre Plätze im Saal eingenommen und schauen ein +wenig umher. Die vielen Mädchen in rosa und hellblauen +Blusen! Mit nackten Armen, aber nicht ganz nackten, wie sie +unsere ausgeschnittnen westlichen Damen haben, sondern mit +breiter Atlaspasse über der Schulter. Seht dort im +Proszenium die Reihe Gesichter, die noch ihres Berliner +Daumier harren, den alten Angestellten, der über dieser +selben Krawatte und dem hohen Kragen um 1900 einen Verdruß +gehabt hat, wovon noch ein Schreck in seinen Gesichtsfalten +geblieben ist, und neben ihm eine der gestrengen Gattinnen, +deren energische Züge an ihren weiland Landesherrn, den +Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, erinnern. Und der dicke +Hauseigentümer. Und der magere lockige Friseur. Schaut +hinunter ins Orchester, wie tief es wohnt in einem Kasten +rot wie Ochsenblut. Schaut hinauf zu den silbrigen Schwänen, +die ihre Hälse unter die Brüstung des Ranges schmiegen. + +Der Vorhang geht auf vor dem prächtigen Saal des +Verschwenders, der soviel Freunde und Lakaien hat. Wand und +Gewänder sind koloriert wie in unsern liebsten +Kinderbüchern, und zwischen den vornehm Bewegten und +Redenden stehn kleine Sophas wie in den Puppensalons unserer +Schwestern. Ganz Märchenwelt ist Fels und Himmel hinter der +Fee Genistane, die starr und hold steht wie aus Zuckerkand. +Wie auf unsern Glückwunschkarten damals die dickere Blume +sich öffnete über der zarteren, so gehn große Pappblumen auf +vor ihrem dienstbaren Geist Azur. Nah ihren betenden Händen +ist ein kleiner Steinaltar streng klassizistisch und +makellos wie ein Altberliner Grabmonument. Eine Kinderstimme +hat diese Fee, die Stimme eines eifrigen Kindes, das +aufsagt. Aufsagend steht sie zum Publikum, nicht zu dem +geliebten Schützling gewandt, als sie von ihm Abschied +nimmt. Und sowohl seine trauernden Gebärden als ihre Verse +kommen jedes für sich zu uns. Das ist ergreifender als +manches berühmte Zusammenspiel. Gestalten, von denen sie +sagt, daß sie ihr erscheinen, streifen hinten über die +Himmelswand. Und nun sinkt sie in den Spalt, wo es +vielleicht noch tiefer hinuntergeht als hier vor uns in das +Orchester. Als sie verschwunden ist, nahen dem Verlassenen +tröstliche Schleierbreiterinnen. Es sind dieselben Mädchen, +die im Schloß vor den lächelnden Gästen Ballett tanzen. +Langsames Ballett mit deutlichen Pausen zwischen den +einzelnen Figuren. Die Tänzerinnen nicken zu den Zäsuren der +Musik. Mit Würde tragen sie ihre weißen Gewänder. Und auch +im andern bunteren Kostüm, einer Art spanischer +Dirndltracht, bleiben sie unter dem rasselnden Jubel ihrer +Tamburine feiertäglich. Im Schlosse des reichen Julius von +Flottwell (muß man mit solchem Namen nicht verschwenderisch +leben?) könnt ihr noch lernen, was Reverenzen waren, wenn +Julius den Präsidenten, der ihm nicht wohl will, Amalie, die +Geliebte, und seinen Nebenbuhler, den Baron Flitterstein, +begrüßt. Mißtrauen, Leidenschaft und Haß muß er zurückhalten +hinter der weltmännischen Verbeugung und uns doch sehen +lassen. Schönes altes Theater, wo die Bettler wunderbare +Mönchskutten haben und wankende Stäbe. Wo überm schwankenden +Schiff Blitze durch den Seesturm zucken und die jagenden +Wolken anstrahlen, viel zauberischer als die Berliner +Lichtwoche ihre Monumente. So verlockend ist keins eurer +Schaufenster beleuchtet wie in der kleinen Felsschlucht der +Schatz, den Genistanes Bote zuletzt, zu guter Letzt ihrem +verarmten Julius schenkt. + +Geht schnell gen Osten, solang es noch hinter den Kinos und +Varietés solch altes rotgoldnes Theater gibt! + +Darüber haben wir nun aber die vielen Kinos und Varietés der +Gegend versäumt. Man könnte noch in den Tanzpalast zur Möwe +eintreten, wo altdeutscher Ball für die ältere Jugend +stattfindet. Aber der Schub der heimkehrenden +Sonnabendtheatergäste drängt uns in entgegengesetzter +Richtung ein Stück in die Frankfurter Allee hinein. Eine +Erinnerung taucht auf. Die Januartage 1919: da flogen hier +Granaten entlang. Der Kampf um Lichtenberg! Und wenn man +zurückgedrängt wurde, in engen Gassen die Schleichhändler +mit Brillanten, Seife und englischem Tabak, Feldgraue mit +Rauchwaren und mit Schokolade aus dem besetzten Gebiet, +Leierkasten mit der Marseillaise, Gitarrengezupf. . . + +Eine Wackeldroschke poltert uns zurück zum Alexanderplatz +und ein paar Straßen nach Norden und hält vor einem lärmend +vollen Lokal. Über Bechern und Mollen, wendischen +Backenknochen der Mädchen und zartfrechen Knabengesichtern +ragt die Trompete des backenaufblasenden Krauskopfs, den +eine Dame mit Broderien am Kragen auf dem Klavier begleitet. +Der fettnackige Wirt erzwingt uns unter seinen alltäglichen +Gästen etwas schonungslos Platz. ‚Ich küsse Ihre Hand, +Madame‘, das wird hier ebenso gern gehört wie im schicksten +Westen, aber dann abgelöst von einer Art Militärmarsch, den +alles Volk mit preußischem Eifer mitsingt. Wir brauchen aber +nicht zu glauben, etwa in ein nationalistisches Lokal +geraten zu sein. Gerade kommt ein Bursche an unsern Tisch, +der eine Unterstützungskollekte für die Streikenden im +Westen zum Unterschreiben vorlegt. Ein sentimentales +Rheinlied steigt hinauf zu dem Transparent ‚Riesendampfwurst +50 ch‘. Ein paar Jungen setzen sich an eine Seite unseres +Tisches und rücken langsam, noch mißtrauisch und schon +zutulich, näher. Aus dem, was sie übertreibend und +abschwächend vorbringen, ist zu entnehmen, daß sie keine +‚Bleibe‘ haben. Mit den Zufallskameraden von gestern wollen +sie nicht übernachten. Sie werden vielleicht auf +‚Bodenfahrt‘ gehn, wenn nichts andres sich bietet. In +manchen Häusern findet sich ein gutmütiger Bewohner, der +denen, die auf dem Boden kampieren, morgens warmen Kaffee +bringt, er hat vielleicht selbst in seiner Jugend unterm +Stadtbahnbogen geschlafen. Er weiß, wie’s tut, kein Quartier +zu haben. Einer von den Jungen führt uns weiter durch ein +Gewirr von grellen und düstern Ecken. Er weiß hier ein +‚schnaftes‘ Tanzlokal. ‚Polarstern‘ heißt es oder so +ähnlich. Ein tiefes Berliner Zimmer. Über dem Zugang zum +Nebenraum ein Lambrequin starr und staubig. Aus dem +Hintergrund kommen Mädchen- und Jungenpaare zum Tanz, zu dem +zwei zusammengeschrumpfte Musiker Klavier und Geige spielen. +Es wird hingebungsvoll getanzt, wie wir das aus ähnlichen +Stuben und ‚Dielen‘ kennen, nur verzweifelter, so scheint es +uns wenigstens, und noch genußsüchtiger — als lauere Elend +oder Gefahr. Es ist nach ein Uhr. + +Unser Führer (darin sind die eleganten und die kragenlosen +Bummler von Berlin einander ähnlich) muß noch weiter, in die +Gegend der Kommandantenstraße und hinter das Hallesche Tor. +Unterwegs will er uns nahe bei der Markthalle etwas zeigen. +Wir stehn wieder dem Polizeipräsidium gegenüber. Er schiebt +uns durch ein niedriges Tor in die Wärmehalle. Er belehrt +uns über die geduckten und aufrechten Gestalten. Er +unterscheidet Einheimische und solche, die ‚auf der Walz‘ +sind. Hier darf nicht geraucht, gesungen, Karten gespielt +oder gehandelt werden. Aber ein bißchen gehandelt wird doch, +meist eine Art Tauschhandel, wie es scheint. Geschenkte oder +‚gefundene‘ Kleidungsstücke, die einem andern besser passen. +Einer nah am Ofen tauscht Schmöker gegen Brot ein. Sind es +Fußlappen oder Zeitungen, was der da auf der Holzbank aus +dem abgezogenen Stiefel holt? Beim Hinausgehn seh ich, daß +wir unterm Stadtbahnbogen sind. Wir kommen in eine Straße, +wo es nach Obst riecht, aber die Speicher der Früchte sehen +aus wie Kontore. Hier wird auch am Tage nicht an den +einzelnen verkauft. Der Markt von Berlin breitet sich nicht +auf die Straße aus wie der an den Hallen in Paris. +Wunderliche Auslagen in den nächsten Fenstern, in einem +lauter Pappe und Einschlagepapier, ‚Schlächter- und +Butterbrotpapiere‘, ‚Würstchenteller in allen Größen und +Preislagen‘, Wiegeschalen, Kisten und Einsätze, eine ganze +Negerhütte aus Bast, von einer nächtlichen Katze bewacht. Um +die Ecke: ein koscheres Restaurant und ein Hotel mit +geheimnisvollen Gardinen. An einer fensterlosen Mauer ein +Zettel wie ein Wahlanschlag: ‚Deutsche Frühkarpfen für die +Herbstsaison‘. Wir kommen unter die Eisensäulen des +Viadukts. Diese Stadtbahnarchitektur sieht heute so +altertümlich aus. Nur ein Blick in den Wartesaal. Bündel und +Säcke als Kopfkissen der sitzend Schlafenden. Leeres Glas +und mattes Blech des verlassenen Büfetts. Draußen vor +wartenden Wagen halbschlafende Pferde spreizbeinig starr. +Eine Kneipe, wo Markthelfer auf ihre Arbeit und Arbeitslose +auf eine Gelegenheit warten. Ein paar Chauffeure rühren in +der Löffelbrühe. Marktfahrer zeigen einander Stücke aus +ihren Körben und besprechen kaufmännisch die ‚Lage‘. Der in +Hemdsärmeln, der zwischen den Tischen entlang geht und +Bekannte und Unbekannte beobachtet, ist nach der Meinung +unseres Führers der ‚Rausschmeißer‘. Heute bekommt er nichts +zu tun. Zwischen dem Alten, der in seinen Bart brabbelt, und +der dicken Marktfrau, die über ihrem Korb eingenickt ist, +erscheint an der Banklehne ein wunderbar gemeißelter +Jünglingskopf in offnem Hemd. Er schläft tief und selig auf +dem harten Holz wie in paradiesischen Gefilden. Über ihm ein +handgeschriebener Anschlag: ‚Laden für Gänseausnehmen zur +Saison abzugeben (Laufgegend)‘. In eine gegenüberliegende +auch schon oder noch offne Bierstube werden wir nicht +eingelassen. Die soll nur für reisende Händler sein. Das +sind die Makler zwischen den Kleinbauern und den Berliner +Gemüsehandlungen. + +Nun wird es Zeit, die Halle selbst zu betreten. Dort werden +wir als Müßiggänger geduldet, aber nicht so wohlwollend +ironisch empfangen wie der Noceur von Paris in den Ständen +vor und in den Hallen. Kartoffelschälerinnen schauen etwas +verdrossen zu unserer Gruppe auf. Neben seinem Wagen der +Bursche in samtener Mütze und mit schönen Stulpstiefeln und +auf dem andern Wagen der in leuchtend grüner Jacke, die +durch grauen Dämmer strahlt, drehen finster die Köpfe nach +uns. Nur der kleine Graukopf, der, aus dunklem Seitengang +kommend, uns unter ‚Resi noch besser als Rahma‘ begegnet, +nickt freundlich und flüstert uns auf sächsisch unflätig +anspielende Verse auf die verschiedenen Margarinesorten zu. +Wir stolpern hinaus zwischen Porree, Lauch und Rübe. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Heim. Ein paar Stunden Schlaf. Um sechs habe ich Rendezvous +zum Besuch der andern Zentralhalle, der des Blumenmarktes. + +Frühmond über blau-leerem Asphalt. Wechsellichter von Tag +und Nacht auf den Panzern des Hochbahnhofs. Nachtglanz in +der Station. Ich nehme Platz zwischen Barhäuptigen und +Mützen, Schürzen und Kitteln, Kiepen und Körben. Über die +Eisennetze des Gleisdreiecks und den Kanalabgrund unter der +Möckernbrücke zum Halleschen Tor. + +Eine Zeitlang steh ich bei den frierenden Statuen der +Brücke, die einen Gewerbe- oder Ackerbauzweig zu +allegorisieren versuchen. Aus Gelesenem und alten Stichen +taucht das Bild des wirklichen Halleschen Tores auf, die +niedrige Stadtmauer, mehr Gartenmauer als Wehr (sie sollte +wohl auch weniger verteidigen als Fremden- und +Steuerkontrolle ermöglichen und die Desertion erschweren), +die beiden Mauerpfeiler des Tores, oben durch eine +Eisenstange verbunden. Steinerne Schmuckvasen. Solang es +hell ist, stehen die Torflügel offen. Die Zolleinnehmer und +die Dragoner der Torwache sitzen beim Kartenspiel, bis +wieder eine Hammelherde kommt. Dann hat der Einnehmer der +Schlachtsteuer Arbeit. Jede Herde, die in die Stadt soll, +muß gezählt werden. Die Torflügel werden beide geschlossen, +es bleibt nur eine Klappe offen. Und während sich draußen +Volk und Vieh staut, wird zunächst der Leithammel +hereingelassen. Nach ihm die andern, Stück für Stück, am +vorgehaltenen Fuß des zählenden Zöllners vorbei. Ich sehe, +wie sie sich klemmen und drängen, während ich in die Leere +von Brücke und Platz starre. Da aber kommt vom Hochbahnbogen +her mit einem Schub Umschlagetücher und Mützen, Bastkörbe +und Rucksäcke mein Bekannter, der junge Blumenhändler, der +mich mitnehmen will. + +Wir gehn über das Rondell des Bellealliance-Platzes und die +Friedrichstraße hinauf bis an den Eingang zu dem +bahnhofbraunen Gehöft, über dessen Torstein ein städtisches +Bärenwappen prangt. Im Hofgang werden hinter verblichenen +Schaufenstern einige Arrangements künstlicher Blumen +sichtbar, wie man sie von französischen Friedhöfen kennt. In +der Halle wird mein Führer von aller Welt gegrüßt. Die gute +Frau aus Zossen, die hinter ihrem Grünzeug hockt, nimmt ihm +seinen Korb zum Aufheben ab. Ihre Nachbarin erzählt: ‚Bei +uns sind heut nacht zwei Mädchen angekommen‘. ‚Fruchtbare +Gegend Mariendorf‘, sagt mein Begleiter. ‚Na, nu mußt du +dich auch ranhalten, Karle‘, meint die Zossnerin. Ein +vorüberstreifender Kollege macht eine Art Terminhandel mit +Karl und fragt ihn dann: ‚Hast du Affenflöten ?‘ Karl gibt +ihm eine Zigarette. Das da, zeigt er mir, sind reiche Leute, +denen gehört ganz Werder und denen daneben halb Teltow. Er +geht eilig von Stand zu Stand, wählt, handelt, bestellt und +nimmt Bestellungen mit. Zwischen den blaßbunten Haufen +heimischer Herbstblumen lagern enggebunden Rosen, die mit +Flugpost aus Holland gekommen sind. Es wird flink gehandelt +und dabei fliegen Witzworte hin und her zwischen dem jungen +Mannsvolk und den alten Weibern. Auch untereinander necken +sich die Männer. Mit den jungen Frauen sind sie leiser und +vorsichtiger. Aber alle hier sind morgendlich munter. Man +ist gut aufgelegt trotz häufiger Wechselfälle. Es war doch +schon Frost heut nacht. In Britz sind alle Dahlien erfroren, +erzählt die Frau, die mit dem Kaffeetopf und den +Pflaumenkuchen kommt und bei der im Stehen gefrühstückt +wird. Das hört man sich mit einer Art ländlichem Fatalismus +an. Mit einmal komme ich mir vor wie unter Stadtbauern alter +Zeiten, als noch innerhalb der Tore viel Gemüsegarten und +Acker war. Wir machen noch ein paar Schritte in die +Topfhalle zu den Chrysanthemen. Die Topfhalle ist angebaut +worden, weil es in der großen schon zu voll war. Aber bald +wird das ganze Gehöft nicht mehr ausreichen. Die Halle wird +in die Vorstadt verlegt werden. Der alte Kirchhofsgärtner +aus Westend begrüßt meinen Begleiter, er sieht etwas +verächtlich auf die Straßenhändler, die bei der Frau in der +Türecke ‚Mist‘, das ist Ausschuß, kaufen. Er ist +alteingesessen. Schon seinem Vater hat die Gärtnerei der +Besitzer einer Tiergartenvilla geschenkt, bei dem er vor +sechzig Jahren Gärtner war. An Armen voll papierumwickelter +Veilchentöpfe und lose gebundner Chrysanthemen schieben wir +uns vorbei. Der brave Kumpan, der meines Begleiters Einkäufe +in seinem Lastauto mitnehmen will, geht mit uns über die +Straße in eine Destille, wo eine Molle ‚gehoben‘ wird. +Draußen sind zwischen Karren, Wagen und dicken Gäulen schon +die Straßenreiniger an der Arbeit. Noch einmal zum Abholen +in die Halle. Da wird auch schon aufgeräumt, während noch +ein paar Alte aus schrumpflichen Portemonnaies und Junge aus +Westen- und Hosentasche zahlen. Schmutz und Rest bleibt in +Berlin nirgends lange liegen. Diese Stadt räumt gern auf. + +:centerblock:`\* \* \*` + +Gemüse und Blumen sind nun ‚erledigt‘. Bleibt das Fleisch. +Also auf zum Zentral-Vieh- und -Schlachthof im Osten. Schon +der alte Viehmarkt, der bis 1871 bestanden hat, war am +Landsberger Tor. Ein Stück weiter östlich erstreckt sich +jetzt über ein Gebiet von fast 190 Morgen der Riesenkomplex +mit Ställen, Verkaufshallen, Schlachthäusern, +Verwaltungsgebäuden, zweigeteilt von der Thaerstraße, +durchzogen von Triebstraßen, begrenzt von den langen Rampen +an der Ringbahn, deren Viehbahnhof 15 Kilometer Gleis und +eine große Anzahl von Ausladebuchten umfaßt. Erst bekomm ich +die Menschen zu sehn, Beamte, Tierärzte und im Börsengebäude +Viehhändler in langen Mänteln, Agenten, +Großschlächtermeister. Mein Führer erzählt mir die Arbeit +der Kommission, welche die Preise bestimmt, Auftrieb, +Untersuchung und Unterbringung der Tiere, den Handel durch +Handschlag. Er zeigt mir die hintereinanderlagernden Hallen, +die der Rinder, die der Hämmel und die riesenhafte +Schweinehalle, die in ihren Buchten ungefähr 15.000 Tiere +faßt. Sie reicht im Norden bis an die Rampen der Geleise, +auf denen das Vieh aus den Provinzen angerollt wird. Und +längs der Rampen erstreckt sich die lange schmale +Kälberhalle. Da nach Osten, das sind die Stallungen, die +Dungverladung, der Seuchenhof, die Häutesalzerei usw. An den +Markttagen öffnen sich die Hallen, und durch drei Tore +werden Rinder, Kälber und Schafe hinübergetrieben zum +Schlachthof. Die Schweine wandern ihren besonderen Weg längs +der Schienenstränge. Wir gehn in den Schlachthof hinüber und +dort einer Schweineherde nach, die zum neuen Schlachthaus, +einem mächtigen roten Gebäude, trottet. Wir sehen, wie +unterm Stock des Treibers die bunt gezeichneten rosagrauen +Rücken und die Ringelschwänzchen in der Luke verschwinden +Nun stehn wir drinnen in der weiten Halle. Weißer Dampf +steigt auf von den Brühkesseln. Da aus dem kleinen +Holzverschlag kommt das erste Schweinchen herausgeschlüpft, +lautlos und vertrauensvoll seinem Mörder entgegen. Das ist +ein hübscher junger Bursche in Hemdsärmeln. Er holt gelassen +aus mit dem Beil und schlägt dem Tier vor den Kopf. Es legt +sich sanft auf die Seite. Und während ein andrer auch sehr +sympathisch aussehender junger Mann ihm den Halsstich +versetzt, zucken nur noch die Beinchen. Da wartet ja schon +das nächste und ein drittes drängt sich hinterdrein. Ich +wundre mich, daß sie gar nicht quieken, weder hinter dem +Verschlag noch hier unterm Beil. Ich muß immer wieder das +Gesicht dessen ansehn, der den Schlag tut. Merkwürdig: die +Viehhändler vorhin, die Agenten und Schlächtermeister sahen +eigentlich viel blutrünstiger drein als dieser Jüngling mit +der zarten Gesichtsfarbe, der die Mordtat vollzieht . . . +Wir kommen ins Rinderschlachthaus. Da gibt es eine rituelle +Ecke. In der steht vor dem kopfunten hangenden Rind der +Schächter, der ihm den Halsschnitt gemacht hat. Er hat einen +schwarzgrau und scharf vorstehenden spitzen Bart. Auf +welchem alten Bild hab ich solch einen Bart gesehen? Die +Hämmel muß man besuchen, wenn sie abgezogen werden. Es ist +erstaunlich, wie säuberlich und glatt das zugeht. Sind sie +an einer Stelle aufgeschnitten, so greift ihnen einer, der +es versteht, ganz sanft unter den Pelz, das Fell gleitet +weich und spurlos ab, und darunter erscheint ein Wesen aus +hellem Elfenbein. Es geht überhaupt sehr säuberlich zu auf +diesem Massenmordhof. Blut und Entsetzen wird rasch +fortgewaschen, Geschlinge, Kuttel und ‚Kram‘ werden +beiseitegeschafft. Bald ist der Boden wieder blank wie +spiegelndes Parkett. + +Von Halle zu Halle wandern wir bis zum Ausgang. Die +Eisenstäbe, die dort wandentlang ziehen, das sind die +Laufkatzen, daran die an Haken aufgehangenen Tiere +transportiert werden. Noch ein Blick in das große Gehöft des +Fleischmarktes. Den hätte man eigentlich zu früherer +Morgenstunde besuchen müssen, wenn er von Wagen und Menschen +wimmelt. Die Gebäude dieser Sonderstadt sind neueren Datums +und imposante Schöpfungen. Im Kühl- und Gefrierhaus kann man +die weiten Räume mit den tausend verzinkten +Eisenblechkäfigen des Konservenfleisches besuchen. + +Soll ich heute noch weiter nach Nordosten vordringen? Heut +ist in Weißensee Pferdemarkt. Da werden sowohl Reitpferde +als auch alte Klepper verkauft. Auch dort wird der Handel +durch Handschlag abgeschlossen. Ein andermal. |