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authorPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2024-11-27 18:15:59 +0100
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+++ b/17-nach-osten.rst
@@ -0,0 +1,542 @@
+.. include:: global.rst
+
+NACH OSTEN
+==========
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`L`\ ohnt's noch, vom heutigen und gestrigen
+Alexanderplatz zu sprechen? Er ist wohl schon verschwunden,
+ehe diese Zeilen gedruckt werden. Schon wandern die
+Trambahnen, Autobusse und Menschenmassen um die Zäune
+breiter Baustellen und tiefaufgerissener Erdlöcher. Die gute
+dicke Stadtgöttin Berolina, die hier früher von hohem
+Postament den Verkehr regelte, ist abgewandert. Das
+benachbarte Scheunenviertel mit seinen schiefen und geraden,
+verrufenen und armselig ehrlichen Straßen und Gassen ist zum
+größten Teil bereits eingerissen. Düster ragen von Süden die
+Mauern des Polizeipräsidiums über die Trümmerstätte des
+Platzes. Von Nordosten überwächst Häuser und Zäune der hohe
+Turm der Georgenkirche. Polizei und Kirche werden so
+bleiben. Aber was sonst hier noch steht, wird fast alles
+eingerissen oder umgebaut werden. Die meisten Grundstücke
+und Parzellen sind bereits im Besitz der Hoch- und
+Untergrundbahn, die ihren Schacht gen Osten gräbt. Was sie
+davon abtreten wird, darf dann der neue Besitzer nicht nach
+Gutdünken bebauen, alle künftigen Bauten hier sind gebunden
+an die Entwürfe des Stadtbauamts. So besteht keine Gefahr,
+daß die Spekulation häßliche Mietskasernenblöcke mit
+düstern, luftarmen Quer- und Hintergebäuden türmt und
+kleistert. Um eine Mittelinsel, auf der Kreisverkehr
+eingerichtet werden wird, sollen in Hufeisenform Hochhäuser
+aufwachsen.
+
+Wo Altes verschwindet und Neues entsteht, siedelt sich in
+den Ruinen die Übergangswelt aus Zufall, Unrast und Not
+an. Wer hier die Schlupfwinkel kennt, kann in seltsame
+Wohnstätten finden und führen, schaurige Zwischendinge von
+Nest und Höhle. Da versteckt sich zum Beispiel in den
+Kellerräumen einer abgerissenen Mietskaserne, die einen der
+großen Obstläden enthielt, welche zur nahen Markthalle ihre
+Wagen und Körbe sandten, hinter Schutt und Mörtel der
+‚Bananenkeller‘, eine traurige Schlafstelle für Obdachlose,
+die in den Nachtasylen nicht mehr unterkommen können oder
+wollen. Sie kriechen hier in ihren Winkel, wenn die Lokale
+rings am Platz und in den nahen Straßen geschlossen werden.
+Sie ziehen die Beine nur ein bißchen näher an den Bauch und
+zerren die Jacke über die Knie, wenn wir unbefugten
+Eindringlinge an ihnen vorüberstolpern. Andre Kellerräume
+enthalten kleine Basare, deren Inhalt an den Pariser
+Flohmarkt erinnert. Da sind zu verkaufen: Konservengläser
+und Karbidlampen, Vogelkäfige und Papierkörbe, alte
+Zylinderhüte und Lampenzylinder, Russenkittel, ‚kaum
+getragene‘ Schuhe, Schnürsenkel und Ölgemälde mit
+‚Gold‘rahmen, Plumeaux und sogar Straußenfedern. Auch die
+Oberwelt ist voll fliegenden Handels. Am Zugang des
+Georgenkirchplatzes, wo im Regen frierende Dirnen um die
+Ecke schleichen und starr stehen, sah ich aus der Zaunlücke
+des Abbruchs eine graue Alte den armen Geschöpfen
+weißleinene feste Unterbeinkleider hinhalten. Das sollten
+sie gegen die Kälte über die durchbrochene ‚Reizwäsche‘
+ziehen.
+
+An Ruinen entlang, die an die Trümmer zerschossener Städte
+erinnern, kommen wir in die Münzstraße und in dichtes
+Gedränge. Vor dem Ausschank liegt ein Weib auf dem Boden,
+über ihr, noch in Boxerstellung, einer der Gesellen in Mütze
+und Sweater, die hier vorherrschen. Interessiert sehen die
+Umstehenden zu. Einzugreifen wagt keiner. Es zeigt sich auch
+kein ‚Grüner‘. Die Justiz, die hier vollzogen wird, erfreut
+sich allgemeiner Anerkennung. Wir werden weitergedrängt.
+‚Ihr seid wohl übrig jeblieben von jestern‘, ruft einer
+unsrer kleinen Gruppe nach. In der nächsten Straße, ich weiß
+nicht, ob wir näher oder weiter vom Platz sind, drängen sich
+die Leute um einige Straßenhändler. Da ist der mit den
+Krawatten überm Arm: ‚Alles für eine Mark. Die janze
+Filmwelt trägt meine Binder.‘ Der drüben mit den
+Schnürsenkeln scheint große Beredsamkeit zu entwickeln, aber
+durch seine zahlreiche Zuhörerschaft können wir nicht
+hindurch. ‚Zauberhölzchen‘, schreit’s von rechts her neben
+dem Stand mit den Visitenkarten, die gleich mitzunehmen
+sind, frisch von der Prägemaschine. Dampf steigt warm auf um
+den Schild ‚Bouletten von Roßfleisch, Stück 5 ch.‘. Jetzt
+sind wir, glaube ich, in der neuen Königstraße. Hier
+interessieren mich am meisten die Anschläge und Aufschriften
+über und an den Läden: ‚Hundeklinik und -Bad, Hunde- und
+Pferdescheranstalt‘ und kleiner darunter ‚Kupieren,
+kastrieren, schmerzl. Töten‘. ‚Der neue Hut, aber ein
+Cityhut muß es sein‘, ‚Künstlergardinen‘ (was für Vorhänge
+mögen das sein?). Und vor einer tiefen Tür ‚Achtung! Hier im
+Keller ist Rattengift gelegt.‘ Ein Laden umfaßt zweierlei
+Gewerbe: Übersetzungsbüro und Kunststopferei.
+
+Zurück in die Gegend des Platzes und nach Osten. War hier
+die Ecke oder auf einer andern Wanderschaft oder — nur
+geträumt, wo ich oben am Erkerfenster die Inschrift Hotel
+verkehrt, auf den Kopf gestellt, bemerkte? Ein seltsam
+grausiger Anblick, der das ganze Haus gespenstisch machte,
+dies ⅂Ǝ⊥OH¡
+
+Noch eine ganze Strecke weiter kann ich nicht auf die Straße
+und die Menschen sehen, sondern bleibe mit den Augen an der
+Riesenliteratur anpreisender Worte auf Bretterzäunen und
+Schaufenstern der kleinen Läden und großen Ausverkäufe
+haften. In der Auslage des Tabaksladens kniet eine Nymphe im
+Lendenschurz unter einem Baum mit stilisierten Blättern,
+neben ihr wartet, wie sonst ein Krug, ein Aschbecher mit
+einer Steingutzigarette. Das ist ‚Flora Privat, leicht, süß,
+duftig, die Siegerin der 2 Pfennig-Zigaretten‘. Im Papier-
+und Galanteriewarengeschäft finden sich zwischen Rhein- und
+Weinliedern und der kuriosen Witzkiste die ‚neuen
+Tanzschellenbänder, eine reizende Spende‘. Überraschend sind
+manche Wortbildungen. Die ‚Naturange‘ erschreckt ja auch in
+andern Stadtteilen, aber ‚Stilla Sana‘, den stärkenden
+Wermutwein, habe ich nur hier bemerkt. Er stand neben
+anerkannt vorzüglichen und preiswerten Fruchtweinen ‚zur
+Einsegnung und Jugendweihe mit 5% Rabatt‘. Erstaunlich ist
+auch das ‚Darmgleitmittel Rodolax‘. Leibharnische finden in
+dieser Gegend die umfangreichsten Damen, Passendes für die
+stärksten Figuren, zum Beispiel den neuen Hüftformer mit
+Magenbinde. Der ‚Kavalier‘ kann den eleganten Tanzschuh
+kaufen, der vorn recht spitz ist. Über die käferbraune Mitte
+des Promenadenschuhs schließt sich die schwarze Kappe
+wie mit einem Bändchen. Es gibt auch treuherzig
+Kleinbürgerliches: ‚Borgen Pech / Ware los / Gäste weg‘,
+schreibt ein Wirt an seine Destillentür, und in der ‚Grünen
+Quelle‘ hängt überm elektrischen Piano das Bild eines Löwen
+und darunter steht geschrieben: ‚Brülle, wie ein Löwe
+brüllt, wenn das Glas nicht vollgefüllt.‘ Neben greller
+Werbewoche im ‚Küchenhimmel‘ und ‚Möbelcohn‘ wirkt rührend
+volksliedhaft die etwas blasse Inschrift an einer
+Handelsgärtnerei ‚Blumen für Freud und Leid‘.
+
+Bei solcher Lektüre sind wir in die Große Frankfurterstraße
+geraten. Betäubendes Sägen und Rasseln dringt über den
+Bretterzaun, der die Mitte des Dammes absperrt. Auf die
+Männer, die den Hammer niederprasseln lassen und Stricke
+ziehen, welche über Winden laufen, lächelt aus der
+Maskengarderobe für Ernte- und Kinderfeste, Volks- und
+Ländertrachten ein Wachsmädchen in Brünnemieder und weißer
+Haube herab. Das Eisengerüst der Dampframme ragt vier
+Stockwerk hoch. Und dort, wo das Pflaster aufgerissen ist,
+schimmern frühlingsgrün in der herbstlichen Straße
+Zementsäcke, die übereinandergeschichtet liegen. Einer der
+Arbeiter, die sie einen nach dem andern leeren, trägt eine
+ebenso grüne Joppe, die angeleuchtet wird von der Gasflamme
+neben der Maschine wie Parklaub von den Kandelabern
+vornehmer Avenuen. Er schüttet den Zement auf eine Stelle,
+auf die von andern eine braune Masse geschippt wird. Und die
+Mischung dringt in den Behälter, der sich wie eine
+Baggermaschine im Kreise bewegt und seinen Inhalt in einen
+Schlund gießt, aus dem die Masse feucht in die wartende
+Lore fällt. Die karrt die Beute fort bis dahin, wo die
+vorangewanderte Schicht austrocknet, und das Feuchte wird an
+das Trocknende gepappt. Kleine Jungen bestaunen mauloffen
+das Schauspiel der Arbeit. Und auch die Großen bleiben
+stehn. Zuschauen können die Berliner noch immer wie in alter
+Zeit, als sie es noch nicht so eilig hatten wie heute. Nur
+scheinen inzwischen ihre Sachkenntnisse gewachsen zu sein.
+Es sind nicht mehr die Naiven, die Hosemann gezeichnet hat,
+wie sie auf die großen Röhren der englischen Gasgesellschaft
+starren und sagen: ‚Wenn ick nur wüßte, wie sie das Öl durch
+die Kanone da ruff kriegen.‘
+
+Am Straßenrande erwarten uns neue Versprechungen. Der
+Hackebär hat eigne Wurstfabrik. Seine neue Bauernkapelle ist
+da. Es wird wieder den alten Betrieb geben, Stimmung, Humor.
+Viel Volk wartet schon unter wehenden Wimpeln. In einen
+Salon im Hinterhaus locken von der Wand des Durchgangs
+Friseur und Friseuse aus weißer Pappe. Gewaltige Filmreklame
+verkündet Amerikas berühmtesten Cowboy und den Grafen von
+Cagliostro. Der hohnlächelt über ihren Fächer weg auf eine
+schmerzlich stirnrunzelnde Brünette. Dunkle Nebenstraßen mit
+altertümlich sanften Namen unterbrechen unsern grellen Pfad.
+Ach, der alte Weinkeller mit den einladenden Strophen an
+schräger Wand über den tiefen Stufen!
+
+Und jetzt stehn wir am Torweg zum Rosetheater. Gegeben wird
+‚Der Verschwender, Romantisches Volksstück von Ferdinand
+Raimund‘. Es fängt erst in zehn Minuten an. Wir können noch
+den Durchgang zu Ende gehn bis zu den herbstlichen Skeletten
+der Laubengänge, die hier ein Sommerzelt bilden. Da steht
+gegen himmelhohe Brandmauer — wie eine Kulisse vor
+Theaternacht — mit grünen Pilastern und Fensterrahmen licht
+ein altertümliches Häuschen. Hier wohnten vielleicht früher
+die, denen das Theater gehörte, und damals war gewiß der
+Eingang von der Gartenseite; denn hier führen breite Stufen
+einer alten Terrasse in das Schauspielhaus.
+
+Wir haben unsre Plätze im Saal eingenommen und schauen ein
+wenig umher. Die vielen Mädchen in rosa und hellblauen
+Blusen! Mit nackten Armen, aber nicht ganz nackten, wie sie
+unsere ausgeschnittnen westlichen Damen haben, sondern mit
+breiter Atlaspasse über der Schulter. Seht dort im
+Proszenium die Reihe Gesichter, die noch ihres Berliner
+Daumier harren, den alten Angestellten, der über dieser
+selben Krawatte und dem hohen Kragen um 1900 einen Verdruß
+gehabt hat, wovon noch ein Schreck in seinen Gesichtsfalten
+geblieben ist, und neben ihm eine der gestrengen Gattinnen,
+deren energische Züge an ihren weiland Landesherrn, den
+Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, erinnern. Und der dicke
+Hauseigentümer. Und der magere lockige Friseur. Schaut
+hinunter ins Orchester, wie tief es wohnt in einem Kasten
+rot wie Ochsenblut. Schaut hinauf zu den silbrigen Schwänen,
+die ihre Hälse unter die Brüstung des Ranges schmiegen.
+
+Der Vorhang geht auf vor dem prächtigen Saal des
+Verschwenders, der soviel Freunde und Lakaien hat. Wand und
+Gewänder sind koloriert wie in unsern liebsten
+Kinderbüchern, und zwischen den vornehm Bewegten und
+Redenden stehn kleine Sophas wie in den Puppensalons unserer
+Schwestern. Ganz Märchenwelt ist Fels und Himmel hinter der
+Fee Genistane, die starr und hold steht wie aus Zuckerkand.
+Wie auf unsern Glückwunschkarten damals die dickere Blume
+sich öffnete über der zarteren, so gehn große Pappblumen auf
+vor ihrem dienstbaren Geist Azur. Nah ihren betenden Händen
+ist ein kleiner Steinaltar streng klassizistisch und
+makellos wie ein Altberliner Grabmonument. Eine Kinderstimme
+hat diese Fee, die Stimme eines eifrigen Kindes, das
+aufsagt. Aufsagend steht sie zum Publikum, nicht zu dem
+geliebten Schützling gewandt, als sie von ihm Abschied
+nimmt. Und sowohl seine trauernden Gebärden als ihre Verse
+kommen jedes für sich zu uns. Das ist ergreifender als
+manches berühmte Zusammenspiel. Gestalten, von denen sie
+sagt, daß sie ihr erscheinen, streifen hinten über die
+Himmelswand. Und nun sinkt sie in den Spalt, wo es
+vielleicht noch tiefer hinuntergeht als hier vor uns in das
+Orchester. Als sie verschwunden ist, nahen dem Verlassenen
+tröstliche Schleierbreiterinnen. Es sind dieselben Mädchen,
+die im Schloß vor den lächelnden Gästen Ballett tanzen.
+Langsames Ballett mit deutlichen Pausen zwischen den
+einzelnen Figuren. Die Tänzerinnen nicken zu den Zäsuren der
+Musik. Mit Würde tragen sie ihre weißen Gewänder. Und auch
+im andern bunteren Kostüm, einer Art spanischer
+Dirndltracht, bleiben sie unter dem rasselnden Jubel ihrer
+Tamburine feiertäglich. Im Schlosse des reichen Julius von
+Flottwell (muß man mit solchem Namen nicht verschwenderisch
+leben?) könnt ihr noch lernen, was Reverenzen waren, wenn
+Julius den Präsidenten, der ihm nicht wohl will, Amalie, die
+Geliebte, und seinen Nebenbuhler, den Baron Flitterstein,
+begrüßt. Mißtrauen, Leidenschaft und Haß muß er zurückhalten
+hinter der weltmännischen Verbeugung und uns doch sehen
+lassen. Schönes altes Theater, wo die Bettler wunderbare
+Mönchskutten haben und wankende Stäbe. Wo überm schwankenden
+Schiff Blitze durch den Seesturm zucken und die jagenden
+Wolken anstrahlen, viel zauberischer als die Berliner
+Lichtwoche ihre Monumente. So verlockend ist keins eurer
+Schaufenster beleuchtet wie in der kleinen Felsschlucht der
+Schatz, den Genistanes Bote zuletzt, zu guter Letzt ihrem
+verarmten Julius schenkt.
+
+Geht schnell gen Osten, solang es noch hinter den Kinos und
+Varietés solch altes rotgoldnes Theater gibt!
+
+Darüber haben wir nun aber die vielen Kinos und Varietés der
+Gegend versäumt. Man könnte noch in den Tanzpalast zur Möwe
+eintreten, wo altdeutscher Ball für die ältere Jugend
+stattfindet. Aber der Schub der heimkehrenden
+Sonnabendtheatergäste drängt uns in entgegengesetzter
+Richtung ein Stück in die Frankfurter Allee hinein. Eine
+Erinnerung taucht auf. Die Januartage 1919: da flogen hier
+Granaten entlang. Der Kampf um Lichtenberg! Und wenn man
+zurückgedrängt wurde, in engen Gassen die Schleichhändler
+mit Brillanten, Seife und englischem Tabak, Feldgraue mit
+Rauchwaren und mit Schokolade aus dem besetzten Gebiet,
+Leierkasten mit der Marseillaise, Gitarrengezupf. . .
+
+Eine Wackeldroschke poltert uns zurück zum Alexanderplatz
+und ein paar Straßen nach Norden und hält vor einem lärmend
+vollen Lokal. Über Bechern und Mollen, wendischen
+Backenknochen der Mädchen und zartfrechen Knabengesichtern
+ragt die Trompete des backenaufblasenden Krauskopfs, den
+eine Dame mit Broderien am Kragen auf dem Klavier begleitet.
+Der fettnackige Wirt erzwingt uns unter seinen alltäglichen
+Gästen etwas schonungslos Platz. ‚Ich küsse Ihre Hand,
+Madame‘, das wird hier ebenso gern gehört wie im schicksten
+Westen, aber dann abgelöst von einer Art Militärmarsch, den
+alles Volk mit preußischem Eifer mitsingt. Wir brauchen aber
+nicht zu glauben, etwa in ein nationalistisches Lokal
+geraten zu sein. Gerade kommt ein Bursche an unsern Tisch,
+der eine Unterstützungskollekte für die Streikenden im
+Westen zum Unterschreiben vorlegt. Ein sentimentales
+Rheinlied steigt hinauf zu dem Transparent ‚Riesendampfwurst
+50 ch‘. Ein paar Jungen setzen sich an eine Seite unseres
+Tisches und rücken langsam, noch mißtrauisch und schon
+zutulich, näher. Aus dem, was sie übertreibend und
+abschwächend vorbringen, ist zu entnehmen, daß sie keine
+‚Bleibe‘ haben. Mit den Zufallskameraden von gestern wollen
+sie nicht übernachten. Sie werden vielleicht auf
+‚Bodenfahrt‘ gehn, wenn nichts andres sich bietet. In
+manchen Häusern findet sich ein gutmütiger Bewohner, der
+denen, die auf dem Boden kampieren, morgens warmen Kaffee
+bringt, er hat vielleicht selbst in seiner Jugend unterm
+Stadtbahnbogen geschlafen. Er weiß, wie’s tut, kein Quartier
+zu haben. Einer von den Jungen führt uns weiter durch ein
+Gewirr von grellen und düstern Ecken. Er weiß hier ein
+‚schnaftes‘ Tanzlokal. ‚Polarstern‘ heißt es oder so
+ähnlich. Ein tiefes Berliner Zimmer. Über dem Zugang zum
+Nebenraum ein Lambrequin starr und staubig. Aus dem
+Hintergrund kommen Mädchen- und Jungenpaare zum Tanz, zu dem
+zwei zusammengeschrumpfte Musiker Klavier und Geige spielen.
+Es wird hingebungsvoll getanzt, wie wir das aus ähnlichen
+Stuben und ‚Dielen‘ kennen, nur verzweifelter, so scheint es
+uns wenigstens, und noch genußsüchtiger — als lauere Elend
+oder Gefahr. Es ist nach ein Uhr.
+
+Unser Führer (darin sind die eleganten und die kragenlosen
+Bummler von Berlin einander ähnlich) muß noch weiter, in die
+Gegend der Kommandantenstraße und hinter das Hallesche Tor.
+Unterwegs will er uns nahe bei der Markthalle etwas zeigen.
+Wir stehn wieder dem Polizeipräsidium gegenüber. Er schiebt
+uns durch ein niedriges Tor in die Wärmehalle. Er belehrt
+uns über die geduckten und aufrechten Gestalten. Er
+unterscheidet Einheimische und solche, die ‚auf der Walz‘
+sind. Hier darf nicht geraucht, gesungen, Karten gespielt
+oder gehandelt werden. Aber ein bißchen gehandelt wird doch,
+meist eine Art Tauschhandel, wie es scheint. Geschenkte oder
+‚gefundene‘ Kleidungsstücke, die einem andern besser passen.
+Einer nah am Ofen tauscht Schmöker gegen Brot ein. Sind es
+Fußlappen oder Zeitungen, was der da auf der Holzbank aus
+dem abgezogenen Stiefel holt? Beim Hinausgehn seh ich, daß
+wir unterm Stadtbahnbogen sind. Wir kommen in eine Straße,
+wo es nach Obst riecht, aber die Speicher der Früchte sehen
+aus wie Kontore. Hier wird auch am Tage nicht an den
+einzelnen verkauft. Der Markt von Berlin breitet sich nicht
+auf die Straße aus wie der an den Hallen in Paris.
+Wunderliche Auslagen in den nächsten Fenstern, in einem
+lauter Pappe und Einschlagepapier, ‚Schlächter- und
+Butterbrotpapiere‘, ‚Würstchenteller in allen Größen und
+Preislagen‘, Wiegeschalen, Kisten und Einsätze, eine ganze
+Negerhütte aus Bast, von einer nächtlichen Katze bewacht. Um
+die Ecke: ein koscheres Restaurant und ein Hotel mit
+geheimnisvollen Gardinen. An einer fensterlosen Mauer ein
+Zettel wie ein Wahlanschlag: ‚Deutsche Frühkarpfen für die
+Herbstsaison‘. Wir kommen unter die Eisensäulen des
+Viadukts. Diese Stadtbahnarchitektur sieht heute so
+altertümlich aus. Nur ein Blick in den Wartesaal. Bündel und
+Säcke als Kopfkissen der sitzend Schlafenden. Leeres Glas
+und mattes Blech des verlassenen Büfetts. Draußen vor
+wartenden Wagen halbschlafende Pferde spreizbeinig starr.
+Eine Kneipe, wo Markthelfer auf ihre Arbeit und Arbeitslose
+auf eine Gelegenheit warten. Ein paar Chauffeure rühren in
+der Löffelbrühe. Marktfahrer zeigen einander Stücke aus
+ihren Körben und besprechen kaufmännisch die ‚Lage‘. Der in
+Hemdsärmeln, der zwischen den Tischen entlang geht und
+Bekannte und Unbekannte beobachtet, ist nach der Meinung
+unseres Führers der ‚Rausschmeißer‘. Heute bekommt er nichts
+zu tun. Zwischen dem Alten, der in seinen Bart brabbelt, und
+der dicken Marktfrau, die über ihrem Korb eingenickt ist,
+erscheint an der Banklehne ein wunderbar gemeißelter
+Jünglingskopf in offnem Hemd. Er schläft tief und selig auf
+dem harten Holz wie in paradiesischen Gefilden. Über ihm ein
+handgeschriebener Anschlag: ‚Laden für Gänseausnehmen zur
+Saison abzugeben (Laufgegend)‘. In eine gegenüberliegende
+auch schon oder noch offne Bierstube werden wir nicht
+eingelassen. Die soll nur für reisende Händler sein. Das
+sind die Makler zwischen den Kleinbauern und den Berliner
+Gemüsehandlungen.
+
+Nun wird es Zeit, die Halle selbst zu betreten. Dort werden
+wir als Müßiggänger geduldet, aber nicht so wohlwollend
+ironisch empfangen wie der Noceur von Paris in den Ständen
+vor und in den Hallen. Kartoffelschälerinnen schauen etwas
+verdrossen zu unserer Gruppe auf. Neben seinem Wagen der
+Bursche in samtener Mütze und mit schönen Stulpstiefeln und
+auf dem andern Wagen der in leuchtend grüner Jacke, die
+durch grauen Dämmer strahlt, drehen finster die Köpfe nach
+uns. Nur der kleine Graukopf, der, aus dunklem Seitengang
+kommend, uns unter ‚Resi noch besser als Rahma‘ begegnet,
+nickt freundlich und flüstert uns auf sächsisch unflätig
+anspielende Verse auf die verschiedenen Margarinesorten zu.
+Wir stolpern hinaus zwischen Porree, Lauch und Rübe.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Heim. Ein paar Stunden Schlaf. Um sechs habe ich Rendezvous
+zum Besuch der andern Zentralhalle, der des Blumenmarktes.
+
+Frühmond über blau-leerem Asphalt. Wechsellichter von Tag
+und Nacht auf den Panzern des Hochbahnhofs. Nachtglanz in
+der Station. Ich nehme Platz zwischen Barhäuptigen und
+Mützen, Schürzen und Kitteln, Kiepen und Körben. Über die
+Eisennetze des Gleisdreiecks und den Kanalabgrund unter der
+Möckernbrücke zum Halleschen Tor.
+
+Eine Zeitlang steh ich bei den frierenden Statuen der
+Brücke, die einen Gewerbe- oder Ackerbauzweig zu
+allegorisieren versuchen. Aus Gelesenem und alten Stichen
+taucht das Bild des wirklichen Halleschen Tores auf, die
+niedrige Stadtmauer, mehr Gartenmauer als Wehr (sie sollte
+wohl auch weniger verteidigen als Fremden- und
+Steuerkontrolle ermöglichen und die Desertion erschweren),
+die beiden Mauerpfeiler des Tores, oben durch eine
+Eisenstange verbunden. Steinerne Schmuckvasen. Solang es
+hell ist, stehen die Torflügel offen. Die Zolleinnehmer und
+die Dragoner der Torwache sitzen beim Kartenspiel, bis
+wieder eine Hammelherde kommt. Dann hat der Einnehmer der
+Schlachtsteuer Arbeit. Jede Herde, die in die Stadt soll,
+muß gezählt werden. Die Torflügel werden beide geschlossen,
+es bleibt nur eine Klappe offen. Und während sich draußen
+Volk und Vieh staut, wird zunächst der Leithammel
+hereingelassen. Nach ihm die andern, Stück für Stück, am
+vorgehaltenen Fuß des zählenden Zöllners vorbei. Ich sehe,
+wie sie sich klemmen und drängen, während ich in die Leere
+von Brücke und Platz starre. Da aber kommt vom Hochbahnbogen
+her mit einem Schub Umschlagetücher und Mützen, Bastkörbe
+und Rucksäcke mein Bekannter, der junge Blumenhändler, der
+mich mitnehmen will.
+
+Wir gehn über das Rondell des Bellealliance-Platzes und die
+Friedrichstraße hinauf bis an den Eingang zu dem
+bahnhofbraunen Gehöft, über dessen Torstein ein städtisches
+Bärenwappen prangt. Im Hofgang werden hinter verblichenen
+Schaufenstern einige Arrangements künstlicher Blumen
+sichtbar, wie man sie von französischen Friedhöfen kennt. In
+der Halle wird mein Führer von aller Welt gegrüßt. Die gute
+Frau aus Zossen, die hinter ihrem Grünzeug hockt, nimmt ihm
+seinen Korb zum Aufheben ab. Ihre Nachbarin erzählt: ‚Bei
+uns sind heut nacht zwei Mädchen angekommen‘. ‚Fruchtbare
+Gegend Mariendorf‘, sagt mein Begleiter. ‚Na, nu mußt du
+dich auch ranhalten, Karle‘, meint die Zossnerin. Ein
+vorüberstreifender Kollege macht eine Art Terminhandel mit
+Karl und fragt ihn dann: ‚Hast du Affenflöten ?‘ Karl gibt
+ihm eine Zigarette. Das da, zeigt er mir, sind reiche Leute,
+denen gehört ganz Werder und denen daneben halb Teltow. Er
+geht eilig von Stand zu Stand, wählt, handelt, bestellt und
+nimmt Bestellungen mit. Zwischen den blaßbunten Haufen
+heimischer Herbstblumen lagern enggebunden Rosen, die mit
+Flugpost aus Holland gekommen sind. Es wird flink gehandelt
+und dabei fliegen Witzworte hin und her zwischen dem jungen
+Mannsvolk und den alten Weibern. Auch untereinander necken
+sich die Männer. Mit den jungen Frauen sind sie leiser und
+vorsichtiger. Aber alle hier sind morgendlich munter. Man
+ist gut aufgelegt trotz häufiger Wechselfälle. Es war doch
+schon Frost heut nacht. In Britz sind alle Dahlien erfroren,
+erzählt die Frau, die mit dem Kaffeetopf und den
+Pflaumenkuchen kommt und bei der im Stehen gefrühstückt
+wird. Das hört man sich mit einer Art ländlichem Fatalismus
+an. Mit einmal komme ich mir vor wie unter Stadtbauern alter
+Zeiten, als noch innerhalb der Tore viel Gemüsegarten und
+Acker war. Wir machen noch ein paar Schritte in die
+Topfhalle zu den Chrysanthemen. Die Topfhalle ist angebaut
+worden, weil es in der großen schon zu voll war. Aber bald
+wird das ganze Gehöft nicht mehr ausreichen. Die Halle wird
+in die Vorstadt verlegt werden. Der alte Kirchhofsgärtner
+aus Westend begrüßt meinen Begleiter, er sieht etwas
+verächtlich auf die Straßenhändler, die bei der Frau in der
+Türecke ‚Mist‘, das ist Ausschuß, kaufen. Er ist
+alteingesessen. Schon seinem Vater hat die Gärtnerei der
+Besitzer einer Tiergartenvilla geschenkt, bei dem er vor
+sechzig Jahren Gärtner war. An Armen voll papierumwickelter
+Veilchentöpfe und lose gebundner Chrysanthemen schieben wir
+uns vorbei. Der brave Kumpan, der meines Begleiters Einkäufe
+in seinem Lastauto mitnehmen will, geht mit uns über die
+Straße in eine Destille, wo eine Molle ‚gehoben‘ wird.
+Draußen sind zwischen Karren, Wagen und dicken Gäulen schon
+die Straßenreiniger an der Arbeit. Noch einmal zum Abholen
+in die Halle. Da wird auch schon aufgeräumt, während noch
+ein paar Alte aus schrumpflichen Portemonnaies und Junge aus
+Westen- und Hosentasche zahlen. Schmutz und Rest bleibt in
+Berlin nirgends lange liegen. Diese Stadt räumt gern auf.
+
+:centerblock:`\* \* \*`
+
+Gemüse und Blumen sind nun ‚erledigt‘. Bleibt das Fleisch.
+Also auf zum Zentral-Vieh- und -Schlachthof im Osten. Schon
+der alte Viehmarkt, der bis 1871 bestanden hat, war am
+Landsberger Tor. Ein Stück weiter östlich erstreckt sich
+jetzt über ein Gebiet von fast 190 Morgen der Riesenkomplex
+mit Ställen, Verkaufshallen, Schlachthäusern,
+Verwaltungsgebäuden, zweigeteilt von der Thaerstraße,
+durchzogen von Triebstraßen, begrenzt von den langen Rampen
+an der Ringbahn, deren Viehbahnhof 15 Kilometer Gleis und
+eine große Anzahl von Ausladebuchten umfaßt. Erst bekomm ich
+die Menschen zu sehn, Beamte, Tierärzte und im Börsengebäude
+Viehhändler in langen Mänteln, Agenten,
+Großschlächtermeister. Mein Führer erzählt mir die Arbeit
+der Kommission, welche die Preise bestimmt, Auftrieb,
+Untersuchung und Unterbringung der Tiere, den Handel durch
+Handschlag. Er zeigt mir die hintereinanderlagernden Hallen,
+die der Rinder, die der Hämmel und die riesenhafte
+Schweinehalle, die in ihren Buchten ungefähr 15.000 Tiere
+faßt. Sie reicht im Norden bis an die Rampen der Geleise,
+auf denen das Vieh aus den Provinzen angerollt wird. Und
+längs der Rampen erstreckt sich die lange schmale
+Kälberhalle. Da nach Osten, das sind die Stallungen, die
+Dungverladung, der Seuchenhof, die Häutesalzerei usw. An den
+Markttagen öffnen sich die Hallen, und durch drei Tore
+werden Rinder, Kälber und Schafe hinübergetrieben zum
+Schlachthof. Die Schweine wandern ihren besonderen Weg längs
+der Schienenstränge. Wir gehn in den Schlachthof hinüber und
+dort einer Schweineherde nach, die zum neuen Schlachthaus,
+einem mächtigen roten Gebäude, trottet. Wir sehen, wie
+unterm Stock des Treibers die bunt gezeichneten rosagrauen
+Rücken und die Ringelschwänzchen in der Luke verschwinden
+Nun stehn wir drinnen in der weiten Halle. Weißer Dampf
+steigt auf von den Brühkesseln. Da aus dem kleinen
+Holzverschlag kommt das erste Schweinchen herausgeschlüpft,
+lautlos und vertrauensvoll seinem Mörder entgegen. Das ist
+ein hübscher junger Bursche in Hemdsärmeln. Er holt gelassen
+aus mit dem Beil und schlägt dem Tier vor den Kopf. Es legt
+sich sanft auf die Seite. Und während ein andrer auch sehr
+sympathisch aussehender junger Mann ihm den Halsstich
+versetzt, zucken nur noch die Beinchen. Da wartet ja schon
+das nächste und ein drittes drängt sich hinterdrein. Ich
+wundre mich, daß sie gar nicht quieken, weder hinter dem
+Verschlag noch hier unterm Beil. Ich muß immer wieder das
+Gesicht dessen ansehn, der den Schlag tut. Merkwürdig: die
+Viehhändler vorhin, die Agenten und Schlächtermeister sahen
+eigentlich viel blutrünstiger drein als dieser Jüngling mit
+der zarten Gesichtsfarbe, der die Mordtat vollzieht . . .
+Wir kommen ins Rinderschlachthaus. Da gibt es eine rituelle
+Ecke. In der steht vor dem kopfunten hangenden Rind der
+Schächter, der ihm den Halsschnitt gemacht hat. Er hat einen
+schwarzgrau und scharf vorstehenden spitzen Bart. Auf
+welchem alten Bild hab ich solch einen Bart gesehen? Die
+Hämmel muß man besuchen, wenn sie abgezogen werden. Es ist
+erstaunlich, wie säuberlich und glatt das zugeht. Sind sie
+an einer Stelle aufgeschnitten, so greift ihnen einer, der
+es versteht, ganz sanft unter den Pelz, das Fell gleitet
+weich und spurlos ab, und darunter erscheint ein Wesen aus
+hellem Elfenbein. Es geht überhaupt sehr säuberlich zu auf
+diesem Massenmordhof. Blut und Entsetzen wird rasch
+fortgewaschen, Geschlinge, Kuttel und ‚Kram‘ werden
+beiseitegeschafft. Bald ist der Boden wieder blank wie
+spiegelndes Parkett.
+
+Von Halle zu Halle wandern wir bis zum Ausgang. Die
+Eisenstäbe, die dort wandentlang ziehen, das sind die
+Laufkatzen, daran die an Haken aufgehangenen Tiere
+transportiert werden. Noch ein Blick in das große Gehöft des
+Fleischmarktes. Den hätte man eigentlich zu früherer
+Morgenstunde besuchen müssen, wenn er von Wagen und Menschen
+wimmelt. Die Gebäude dieser Sonderstadt sind neueren Datums
+und imposante Schöpfungen. Im Kühl- und Gefrierhaus kann man
+die weiten Räume mit den tausend verzinkten
+Eisenblechkäfigen des Konservenfleisches besuchen.
+
+Soll ich heute noch weiter nach Nordosten vordringen? Heut
+ist in Weißensee Pferdemarkt. Da werden sowohl Reitpferde
+als auch alte Klepper verkauft. Auch dort wird der Handel
+durch Handschlag abgeschlossen. Ein andermal.