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authorPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2024-11-27 18:15:59 +0100
committerPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2024-11-27 18:15:59 +0100
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+++ b/23-suedwesten.rst
@@ -0,0 +1,362 @@
+.. include:: global.rst
+
+SÜDWESTEN
+=========
+
+:centerblock:`\*`
+
+
+:initial:`I`\ m Südwesten sind Wilmersdorf und Schöneberg
+mit Berlin und Charlottenburg völlig verwachsen‘, lehrt
+Baedeker. Darum wollen wir nicht die genauen Grenzen suchen,
+sondern hinterm Bülow-Bogen die Potsdamerstraße hinauf
+unversehens in die Vorstadt gelangen.
+
+Erste Station: Der Sportpalast.
+
+Wer das Volk von Berlin im Fieber sehn will, versäume nicht,
+einen Teil der 144 Stunden zu erleben, in denen auf schräger
+Holzbahn die Fahrer des Sechstagerennens ihre Runden durch
+die Riesenhalle machen. Im Mittelraum und in den Logen wird
+er Gesellschaft sehn, ‚Köpfe,‘ Prominente, schöne Schultern
+in Zobel und Fuchs, Will er aber unter den wahren Kennern
+sitzen, unter denen, deren Anteil am unmittelbarsten und
+berlinischsten ist, muß er sich unter die Sweater und
+Windjacken auf der Galerie mischen. Da wird keine wichtige
+Wertung oder Überrundung unbeachtet gelassen, da wird
+strengste Kritik geübt und am heftigsten geklatscht. Ist
+gerade ‚nichts los‘, wird Karten gespielt. Dann wieder
+hallen und zischen die Vornamen der anzufeuernden Lieblinge,
+welche man hier oben kennt, ohne sich an Zahl und
+Trikotfarbe des sausenden Rückens orientieren zu müssen,
+durch den Dunst. Hier findest du auch einen gutmütigen
+Nachbarn, der dich über die Phasen des Kampfes, Jagden,
+Ablösungen, Strafrunden, Spurt belehrt und dir die Bedeutung
+der Lampensignale: grün = Wertung, blau = Prämie, rot =
+Neutralisation, erklärt. Gern sagt der Berliner dir
+Bescheid, so wunderlich ihm auch einer vorkommt, der von
+diesen wichtigsten Dingen nichts weiß, die er selbst schon
+als kleiner Junge gelernt hat.
+
+Wenn dann aber eine bemerkenswerte Nuance oder neue wichtige
+Etappe der geregelten Raserei da unten deutlich wird, wendet
+er sich von dir weg, ist ganz Auge und Ohr, beschimpft und
+bejubelt den oder die, auf die er mit seinen Kumpanen oder
+im eignen Herzen mit dem Schicksal gewettet hat. Er vergißt
+dich, die Freunde, Beruf und Liebe, Lust und Verdruß. Von
+den beiden großen Bedürfnissen des römischen Volkes, panis
+et circenses, beherrschen ihn nur noch die circenses.
+Londoner und Pariser in Sweater und Halstuch sind gewiß auch
+große Sportkenner und -enthusiasten, aber sie haben ältere
+Erfahrungen teils im Sport, teils in Weltstadtfreude
+überhaupt. Hier aber sitzest du neben dem jüngsten
+Großstädter. Der ist noch unblasiert, wenn er sich auch
+gelassen stellt mit seinem ‚Selbstredend‘ und ‚Kommt nich in
+Frage‘ (der neuen Form für das ältere ‚Ausjeschlossen‘). Er
+fiebert im Massenrausch. Er fährt wie aus tiefem Traum, wenn
+der Gongschlag den Beginn einer neuen Stunde verkündet.
+Einen Augenblick verläßt sein Blick die Spur seines Fahrers
+und streift den Apparat, der die geleisteten Kilometer
+anzeigt. Im Paroxysmus kannst du ihn sehn bei plötzlichen
+Jagden oder in der letzten Nacht, wenn sein Feuer noch
+geschürt wird durch die Zählapparate am Ziel, welche die
+noch zu fahrenden Minuten angeben.
+
+Doch auch in seinen gelinderen Momenten ist er unterhaltend.
+Da spielt zum Beispiel die Kapelle statt seiner
+Lieblingsmelodien irgend ein mondänes Stück, das ihn
+langweilt. Gleich geht’s los: »Wo bleibt denn der
+Sportpalastwalzer? Ihr Fettjemachten, ihr Volljefressnen!
+Andre Kapelle! Halt’t Schnauze mit eurem ‚Ich küsse Ihren .
+. . Madame‘.« Und als dann die Kapelle den gewünschten
+Walzer spielt, pfeifen die da oben mit durch die Finger und
+machen noch besondre Fiorituren um die Melodie herum.
+Dazwischen stößt die heisere Stimme des Kellners: ‚Wer
+wünscht noch Bier, Brause?‘ Ein witziger Zeitungsausrufer
+reimt: ‚Die Mottenpost, die bloß’n Jroschen kost’t.‘ Späte
+Nachzügler werden begrüßt: »Jetz kommt det Kind von der Post
+. . . Na, du oller Hundertfünfunsiebziger, wo hast de denn
+so lange jesteckt? Mensch, hast wohl zu lange jefastet,
+siehst ja aus wie ’ne Spiritusleiche.«
+
+Ein Schreck zuckt durch die Fladen des Rauchs, die Büschel
+der Scheinwerfer: es ist ein Fahrer gestürzt. Ist der Sturz
+schwer? Man weiß noch nicht. Die andern kreisen weiter. Man
+schleppt den blutenden in seine Koje am Innenbord der Bahn.
+Vielleicht kann schon der Masseur ihm helfen, und er braucht
+nicht zur Arztstation. Die seidnen Damen am nächsten
+Sekttisch beugen sich einen Augenblick über die Brüstung zu
+ihm. Dann wird er vergessen.
+
+So ist der Sportpalast in einer der oft und fachmännischer
+erzählten großen Nächte. Eine eigene Schönheit hat er
+während des Sechstagerennens auch in manchen stilleren
+Nachmittagstunden, wenn milchig blaues Tageslicht in die
+Bretterbahn fällt, auf der die Räder leise surren, und gelbe
+und blaue Reklameplakate bestrahlt. Das gibt dem hölzernen
+Raum eine Wärme und Dichtigkeit, wie sie sonst unser Berlin
+nur selten hat.
+
+Sport ist international und kennt keine politischen
+Parteien. Aber sein Palast hier steht auch der politischen
+Leidenschaft offen. Große Kundgebung der Nationalsozialisten
+wird angekündigt. Die Hallen füllen sich. Vor den Toren
+patrouilliert die Polizei, denn man rechnet mit
+Gegendemonstrationen der ‚Roten‘ draußen. Und vom
+Aneinandervorbei bis zum Prügeln ist der Weg nicht weiter
+als bei den Montecchi und Capuletti der vom ‚Eselbohren‘ bis
+zum Blankziehen. Mit einmal heißt es, die Kommunisten
+versuchen den Palast zu stürmen. Die Polizei bekommt
+Verstärkung. Gummiknüppel werden geschwungen. Wer angefangen
+hat, ist schwer festzustellen. Wenn sie nicht ihre Abzeichen
+trügen, Orden der Reaktion oder Revolution, sie wären kaum
+zu unterscheiden, die kecken Berliner Jungen aus beiden
+Lagern. Mitunter lauern auch draußen die vom Stahlhelm,
+während drinnen die Roten tagen. Dann ist der Saal mit
+breiten roten Spruchbändern behangen. Ordner müssen die
+Treppengänge immer wieder frei machen. Stühle werden
+hergeschleppt und nachgerückt im überfüllten Saal. Von den
+Schwalbennestern oben bis an die Türen unten ist alles voll.
+Gefügig drückt sich die Menge beiseite, wenn mit Musik die
+Rotfront einzieht. Kriegerisch ist die Musik, welche die
+Genossen begeistert, wie einst die, bei der sie Kameraden
+waren. Ganz junge Burschen ziehn beckenschlagend voran,
+Pfeifer folgen ihnen im Gleichschritt. Die geballte Faust
+der Männer, die offne Hand der Knaben grüßt die Fahnen.
+
+All das nimmt der Sportpalast mit einer Art riesenhafter
+Gutmütigkeit in seine runden Weiten. Mit unparteiischem Echo
+dröhnen seine Wände ‚Hakenkreuz am Stahlhelm‘ und ‚Auf zum
+letzten Gefechte‘ wieder wie die Zurufe der Sportfreunde. Es
+ist ja alles Überschwang derselben ungebrochnen Lebenslust.
+
+Zweite Station: Der Heinrich von Kleist-Park.
+
+Der hat einen besonderen Schmuck bekommen durch Gontards
+Königskolonnaden, die ehedem in der Gegend des heutigen
+Bahnhofs Alexanderplatz standen. Hier sind sie noch nicht
+ganz zu Hause, nicht so ins Stadtgefüge eingetan wie die
+Kolonnaden desselben Meisters am Ende der Leipziger Straße,
+deren Rundung in eine platzartige Erweiterung mitten in
+lauteste Geschäftsgegend ruhevolle Vergangenheit bannt. (Es
+ist, als könne man durch die Tore und Türen, welche sich
+hinter den Säulen öffnen, geradewegs in die Zimmer
+vergangener Zeiten dringen.) Die nach dem Kleistpark
+versetzten Kolonnaden müßten in diesem Parkrahmen Ruine sein
+oder wenigstens stärker verwittern. Man sollte wenigstens
+für Vogelnester sorgen . . . Immerhin erfreuen wir uns an
+den gemeißelten Gewinden um die Schneckenkapitelle der
+Säulen und an den Reliefs darunter, die wie Buchvignetten
+wirken. Unter den Statuen ist ein rundliches Nymphenmädchen,
+das bei all seiner Rokoko-Antike im Ausdruck etwas von einer
+Berliner ‚Nutte‘ hat. Das muß also wohl älter sein als der
+Begriff. Parkeinwärts zielt eine Bogenschützin so stilvoll
+wie möglich über den Mummelteich auf die kleine Restflora
+vom ehemaligen Botanischen Garten, der hier war, bevor er
+hinter Steglitz verlegt wurde. Was zwischen Steinchen
+gepflegt blüht, dem dürfen die Kinder sich nicht nähern, sie
+müssen auf den Sandplätzen bleiben oder ihre Roller auf die
+breiteren Wege lenken. Am glücklichsten unter den Kleinen
+sind vielleicht die, denen die herrlichen Sandschutthaufen
+drüben am Plankenzaun bei den freigelegten
+Wasserleitungsröhren als Rutschbahn dienen. Von den
+Erwachsnen interessiert uns am meisten die Gruppe
+Kartenspieler auf der Bank unterm Busch. Ich glaube, es sind
+Arbeitslose, wie wir sie im Friedrichshain gesehen haben.
+Sie vergessen für ein paar Stunden ihren Jammer. Angespannt
+sehen sie auf die Karten in der Hand dessen, der mischt, wie
+Rembrandts Mediziner auf den Leichnam unterm Messer des
+lehrenden Arztes in der Anatomie. Ein Gelähmter hat seinen
+Wagen an die Partie auf der Bank hingerollt und kiebitzt
+hingebungsvoll.
+
+Und nun hinein ins eigentliche Schöneberg. Da ist eine
+Hauptstraße, wo es alles gibt: zwiebelig getürmte Häuser mit
+Aufgängen nur für Herrschaften. Läden mit Duettbrennern und
+Proviantdosen mit verstellbarem Abteil und ähnlich praktisch
+heißendem Bedarf. Wir wollen nicht verweilen. Diese Gegend
+macht ungewöhnlich traurig. Dann lieber über den Kaiser
+Wilhelmsplatz — wie soll er auch sonst heißen? — ins
+sozusagen offiziell traurige Viertel von Schöneberg gehn,
+die ‚Insel‘, wie die Einwohner es nennen: Straßen, die den
+Schienensträngen der Ringbahn benachbart sind. Dort kann man
+morgens und abends zwischen den beiden Bahnhöfen Schöneberg
+und Großgörschenstraße, die nicht miteinander verbunden
+sind, eiliges armes Volk durch den ‚polnischen Korridor‘
+laufen sehen. Hinter den traurigen Fassaden ahnt man die
+sonnenlosen Hinterhöfe, die ‚Rasenanlage‘, in der die Kinder
+nicht graben dürfen, Müllkästen und das ungewollte Duett
+eines Radiolautsprechers im Fenster und einer Drehorgel
+unten, keifende Nachbarinnen und die dünne Stimme des
+Bettelsängers. Das rotverhangene Gestell dort an der Ecke
+der absteigenden Nebenstraße, welches ein Werbebüro der KPD
+birgt, kann hier auf guten Zuspruch rechnen . . . Von
+Tempelhof kommt einen bergigen Weg den Bahnübergang her die
+Tram zwischen Güterbahnhof und Müllabfuhrschuppen gefahren.
+Sie bringt uns schnell ans andere Ende von Schöneberg, an
+die tiefe Mulde des Stadtparks. In dem könnte man im Notfall
+das Lied vom verliebten ‚Schöneberg im Monat Mai‘
+lokalisieren, was in den übrigen Teilen dieses Orts mit dem
+verheißungsvollen Namen kaum möglich ist.
+
+Nördlich vom Stadtpark liegt das rühmlich bekannte
+‚Bayrische Viertel‘. Wieviel davon man zu Berlin, zu
+Schöneberg oder zu Wilmersdorf rechnen soll, weiß ich nicht.
+Es ist nicht so rechtwinkelig und geradlinig angelegt wie
+Berlin W. Und statt uns darüber zu freuen, fluchen wir
+Undankbaren, daß wir uns in all diesem Heilbronn,
+Regensburg, Landshut und Aschaffenburg immer wieder
+verirren. Uns kann man’s nie recht machen. Auch die allerlei
+Brunnen- und Baumanlagen nehmen wir, ohne sie recht zu
+beachten, hin. In einigen Winkeln stoßen wir auf Versuche,
+altdeutsche Stadt nachzumachen, die rührend scheitern. Man
+muß nicht allzu streng mit dem Bayrischen Viertel sein. Als
+es gebaut wurde, gab es noch nicht unser gleich- und
+alleinseligmachendes Laufband.
+
+Durch Wilmersdorf und Friedenau führt die lange Kaiserallee,
+umgeben von Wohnvierteln, die sich aus alten Dörfern und
+Villenkolonien gebildet haben. Von Friedenau wird behauptet,
+daß es, wie auch gewisse Teile von Steglitz und
+Lichterfelde, Zufluchtstätte vieler ehemaliger königlicher
+Beamter und rentenlos gewordener Rentner alten Schlages sei.
+Gestalten mit chronisch entrüstetem Gesichtsausdruck über
+Bärten, die etwas Pensioniertes, etwas von Restbestand
+haben, sollen Geheimräte und Kanzleisekretäre sein; es
+begleiten sie Gattinnen, die oft richtige Federn auf dem Hut
+haben, wie in entschwundenen Zeiten die Damen von Welt es
+hatten. Diese würdigen Matronen wohnen in freundlichen etwas
+unmodernen Gartenhäusern. Man sollte glauben, daß sie in
+ihrem traulichen Heim lieblicher werden müßten, als sie es
+sind. Nun, wir wollen für ihre Kinder hoffen . . .
+
+Wo die Kaiserallee in die Schloßstraße mündet, fängt
+Steglitz an. Es beginnt hochmodern mit einem stolz ragenden
+Filmpalast, an dessen Flanken in strahlenden Röhren das
+Licht flutet, in dessen Innerm strenge Linien und kühne
+Wölbungen Zuschauer- und Bühnenraum umschweifen. Aber
+weiterhin ist das gute Steglitz eine der älteren
+berlinischen Kleinstädte und viele Häuser der Seitenstraßen,
+die zum Stadtpark führen, sind geblieben wie zur Zeit der
+Jahrhundertwende, da man hier Schul- und Studienfreunde
+besuchte, die Sonderlinge waren und zur bessern Erkenntnis
+der Weltstadt die kontrastierende Stille des abgelegenen
+Vororts brauchten. Das älteste hier ist wohl das
+Schloßrestaurant mit dem Theater, ein Gebäude, das bald nach
+1800 von Gilly als Landhaus errichtet worden ist.
+
+Mit der Wannseebahn erreichen wir als nächste Station den
+Botanischen Garten, eine wunderbare Schöpfung von
+Wissenschaft und Geschmack. Da kann man durch die Flora der
+hohen Gebirge in winzigen Alpen und Kordilleren spazieren
+gehn. Die ganzen Karpathen sind in einer halben Minute
+durchstreift. Vom Mittelmeer ist es nicht weit zum Himalaya.
+Hinterm Palmenhaus aber steigt als heimischer Hügel der
+Dahlemer Fichtenberg an. Straßen und Plätze bei dem Garten
+haben hübsche Namen, einen Begonienplatz gibt es, einen
+Asternplatz und eine Malvenstraße.
+
+Schön gelegen wie die botanischen und
+pflanzenphysiologischen Museen am Gartenrand sind auch die
+wissenschaftlichen Institute im nahen Dahlem. Da hat die
+strenge Wissenschaft lauter licht und munter gebaute
+sommerliche Heime der Biologie, Entomologie, Völkerkunde,
+Chemie. Die landwirtschaftliche Hochschule wohnt breit und
+bequem in einer Art Gutshof. Sogar das Geheime Preußische
+Staatsarchiv, das hier haust, hat ländlich frische Farbe und
+ein lustig rotes Dach. Und selbst die Untergrundbahnhöfe in
+und bei Dahlem besitzen sommerliche Anmut. Dieser Vorort ist
+eine der Gegenden, wo die Berliner der kommenden Zeit
+wohnen, ein Menschenschlag, bei dem die Abgehetztheit der
+Väter, die ‚zu nichts kamen‘, weil sie zuviel zu tun hatten,
+in eine freie heitere Beweglichkeit sich umzuwandeln
+scheint. Nun, wir wollen mit Bestimmtheit nichts behaupten,
+aber immerhin hoffen.
+
+Vielleicht haben wir Glück und es begegnet uns eine der
+jungen Dahlemer Berlinerinnen. Sie läßt ihr Auto hier vor
+dem hübschen Café an der Station parken und geht mit uns zu
+Fuß waldeinwärts bis zur Krummen Lanke und dann
+wasserentlang nach Onkel Toms Hütte oder zum alten
+Jagdschloß Grunewald, das einst Kaspar Theyß für den
+Kurfürsten Joachim erbaut hat. Dort machen wir eine Weile
+vor dem kuriosen Steinrelief halt, das drei Personen um
+einen Tisch stehend versammelt, in der Mitte den Fürsten als
+Wirt oder Kellermeister mit aufgekrempelten Ärmeln und
+stattlichem Embonpoint, neben ihm den höfisch gekleideten
+Baumeister, dem sein Gebieter den Humpen kredenzt, während
+die dritte Gestalt einen Krug mit weiterem Trank bereit
+hält. Wir rätseln an den witzigen Versen, die in altem
+Deutsch darunterstehn. Bald aber haben wir genug von alter
+Zeit und sanftem Spazieren, und die gastliche Dahlemerin
+fährt uns im Eiltempo zur neuen Siedlung an der
+Riemeisterstraße, zu alten Lichterfelder Villenstraßen und
+nach Zehlendorf, wo wieder mitten im Neuen und Neueren die
+achteckige Dorfkirche mit dem spitzigen Dach für einen
+Augenblick fesselt, die aus den Zeiten des Großen Friedrich
+stammt. Dann geht es durch Schlachtensee und Nikolassee zum
+Wannsee. Unsern Tee nehmen wir in einem etwas abgelegenen
+Haus am See. Eine kleine Kapelle lockt zu ein wenig Tanz.
+Unsre Begleiterin kann uns an lebenden Beispielen über den
+Anteil des besten Berlin an den neuen Sommermoden belehren.
+Aber auch mit den Segelbooten weiß sie Bescheid. Sie kennt
+den Besitzer der hübschen Jacht, weiß, wem der eifrige Motor
+gehört. Vielleicht haben wir noch Zeit, an den Stölpchensee
+zu fahren und von der Terrasse auf die Paddelboote zu
+schauen, auf die jungen zartkräftigen Knie der Mädchen, die
+tief im Boot liegen, während der Gefährte oder die Gefährtin
+lenkt. Im Vorbeifahren sehn wir bei Schildhorn Volk vom
+Autobus hergebracht, das hier freibadet, Ball spielt und
+Hunde tummelt. Rührend ist das Stückchen dünenzarter Sand am
+Rande des Waldhangs, durch den Stolperwege zwischen
+Kaninchenlöchern führen.
+
+Vielleicht ist unsre Begleiterin Mitglied des Golfklubs und
+nimmt uns, wenn wir es verdienen, mit zu der schönsten
+Sportstätte. Sie zu beschreiben zitiere ich Worte des
+Dichters dieses lebendigsten, gegenwärtigsten Berlin, die
+Worte Wilhelm Speyers in seiner ‚Charlott etwas verrückt‘:
+»Unter den neuen Sportstätten im jungen Leben Berlins war
+keine schöner geworden als der zwischen Wannsee und Potsdam
+gelegene Golfplatz. Rasenflächen und Fichtenwälder mit
+vereinzelten seitwärts gelegenen Bungalos fielen in sanfter
+märkischer Schräge zu einem kleinen See oder zu neuen
+Wäldern und neuen Rasenflächen hinab. Stand man oben auf der
+Terrasse des Klubhauses, so wurden die über weite Räume
+verteilten Spieler und ihre buntbekleideten Caddies in der
+klaren, trockenen und reinen Luft der Mark vor dem Blickfeld
+des Betrachtenden eng zusammengezogen, als seien sie mit
+ihrem erhobenen oder gesenkten Spielgerät kostbar gebildete,
+in schwierigen Verkürzungen dargestellte Figuren eines
+japanischen Holzschnittes. Begleitet nur von den
+bags-tragenden Knaben, doch abgesondert von den andern
+Spielern, hatte der Spielende etwas in seiner Haltung von
+dem frommen, auf sich gestellten Eifer eines Eremiten der
+Thebais.« Von solchen Gestalten nennt uns unsre Protektorin
+einige bei Namen, während wir auf der schönen Gartenterrasse
+sitzen, und so lernen wir Berliner Gesellschaft kennen,
+dieses schwer darzustellende Gebilde, zu dessen Formung
+soviel verschiedene merkwürdige Ehrgeize beigetragen haben,
+daß die zugleich freieste und konventionellste Sozietät
+entstand. Man muß sich sehr zusammennehmen, um sich so gehen
+zu lassen, wie es den großen Berlinern gefällt. Durch unsre
+Athene (Athene ist Schutzgöttin der jungen Berlinerinnen
+mehr als Diana oder Venus, glaub' ich), durch diese unsre
+Athene werden wir auch den kennenlernen, der uns mitnimmt
+zum Polo in die Gartenstadt Frohnau, zum Trabrennen nach
+Mariendorf und auf die Rennbahn Grunewald usw.
+
+Nach alldem wird Athene uns, um ihre Güte vollzumachen, auch
+noch heimfahren, und zwar über die Avus, die berühmte
+Automobil-Verkehrs-und-Übungsstraße. Dort lernen wir, da wir
+in diesem Artikel noch nicht so erfahren sind wie hier jeder
+Junge von zehn Jahren, die verschiedenen berühmten
+Automobilmarken im Vorbeifahren unterscheiden, und von
+manchen wie jenem großen Hispano, diesem eleganten Buick,
+dem schlanken ganz roten, dem kleinen ganz weißen Wagen,
+nennt Athene den Besitzer oder die Dame am Steuer, während
+die kleinen Bäume hinter dem Zaun und die Reklameschilder am
+Straßenrand schräg in unsre rasche Fahrt sinken. Langsamer
+gleiten wir dann durchs nördliche Tor, und hinterm Funkturm
+geht es noch einmal mit achtzig oder mehr Kilometer die
+breite Straße auf den Tiergarten zu.