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NORDEN
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:centerblock:`\*`
:initial:`S`\ o sehr ich unsere Schaufenster im Westen liebe
mit ihren immer neuen Gruppierungen, Beleuchtungen,
Überraschungen — in der Woche vor Weihnachten wird’s mir zu
üppig hinterm Glase. Immer wieder diese Lebensmittelmassen
(Mittel, die kein Zweck zu heiligen imstande ist. Eher
schänden sie ihn), diese riesigen ‚Freßkörbe‘, in denen
Schnapsflaschen, Würste, Ananas und Trauben mit schimmernden
Schleifen gebunden und auf Tannenstreu gebettet überquellen!
In allen Preislagen wird mit der Ware zugleich seelenvolle
Aufmachung feilgeboten, um den Berlinern, die ‚zu nichts
kommen‘, das reizende Selber-Basteln, -Betten und -Binden zu
ersparen. Immer wieder die Buchläden mit dem kolorierten
Märchenaufguß für die lieben Kleinen. Und die Wälder von
versilberten Tannenzapfen zwischen Nickel- und Eisenwaren,
Fichtennadeln, die aus Schuhen kriechen, Lametta, das auf
Schlupfer schneit. Jahrmarkt-ähnlicher wird es, wo richtige
Buden stehn. Neben Christbaumschmuck aufblasbare Gummiwesen
zum Quieken, rote und grüne Quetsch-Affen. Eine Frau läßt
vor ihrem Verschlag einen künstlichen Piepmatz auf dem
Trottoir die Bewegung des Pickens machen und sagt dazu: ‚Das
neueste von der Leipziger Messe.‘ Und als ich vor diesem
Phänomen eine Weile stehn blieb, wandte sich der
Mitverkäufer persönlich an mich: ‚Noch so einen einpacken,
Herr Chef?‘ Merkwürdige neuzeitliche Nuance der
ehrerbietigen Anrede. Früher hätte er ‚Herr Doktor‘ gesagt.
In München schlechthin ‚Herr Nachbar‘.
Das war, glaub ich, am Leipziger Platz. Je tiefer ich in die
Stadt und nach Norden kam, um so kleinstädtischer und echter
wurde der Weihnachtsmarkt. Und das Angebot in den Auslagen
der Geschäfte war nicht mehr so schrecklich distinguiert. Da
stand dick (es war die Gegend des Rosenthaler Tors) ‚Was wir
bieten‘ und ‚Dreipreis 25, 50 und 95 ch.‘ Und ‚Gänsebrust
das beste Festgeschenk‘. Und die kleinen Gänsebrüste hingen
ohne weitere Tannenzutat wartend aufgereiht. Die Wagen am
Straßenrand waren voll billiger derber Pfefferkuchen.
Wurstbuden unterbrachen den bunten Kram mit warm wehendem
Dampf. Immerhin vermißte ich manches von der rührenden
Kleinwelt des alten Berliner Weihnachtsmarktes. Nirgends
hörte ich das frühere ‚Zehn Pfennig der Taschenkalender‘ von
Kinderstimmen. Zur Zeit, als wir das hörten, erinnerten sich
unsere Eltern an das ‚Einen Dreier das Schäfchen‘ noch
früherer Zeiten. Und wo sind die Knarren und Waldteufel hin?
Aber keine Neuzeit vertreibt die Tannenbäume. Wo immer das
Trottoir sich platzartig erweitert, stehen sie zum Verkauf,
stattliche und rührend dürftige. Auch ganz winzige mit drei
bunten Kerzen. Man erzählt, gestern soll hier in der Nähe
ein Lager mit ein paar hundert Bäumen ausgeplündert worden
sein. Gefühlvolle Räuber! Wie behandelt die
Rechtsgelahrtheit diese Art Diebstahl? Dies Brennholz mit
Imponderabilien? Dies nicht lebensnotwendige Bedürfnis. Auch
in den übelsten Schenken bei bösen pflaumenaugigen Hexen
steht ein Bäumchen auf schmierigem Tischtuch. Das Christkind
kann’s immer noch mit dem Radio aufnehmen.
Durch die Ackerstraße nach dem Wedding zu. Selbst diese
traurige Gegend bekommt etwas vom Weihnachtswald und bunten
Markt ab. Aus dem Hof der riesigen Mietskaserne, dem ersten
Hof — sie hat wohl fünf oder sechs, eine ganze Stadt von
Menschen wohnt darin. Alle Arten Berufe lassen sich erraten
aus den Anschlägen: Apostelamt, Pumpernickelfabrik, Damen-
und Burschenkonfektion, Schlosserei, Lederstanzerei,
Badeanstalt, Drehrolle, Fleischerei . . . Und noch so und
soviel Schneiderinnen, Nähterinnen, Kohlenmänner, die in den
endlosen, grau-rissigen Quer- und Seitengebäuden hausen —
aus dem ersten Hof dieses Musterbeispiels der Wohnverliese
von gestern kommen durch den runden Torweg drei Burschen,
einer mit der Gitarre, die beiden andern mit Kerzen, die sie
im Gang auspusten. Die spielen und singen hier von Hof zu
Hof Weihnachtslieder und halten dabei ihre brennenden Kerzen
in den Händen.
Die Wölbungen dieser Torgänge geben dem Großstadtelend
wenigstens noch ein Gesicht. Sonst ist hier im Norden wie
auch in den proletarischen Teilen von Schöneberg oder
Neukölln den Häusern von außen meist nicht anzusehen,
wieviel Armut sie bergen. Wie die Menschen keine bunten
Lumpen tragen — leiser Trost des Bettlers in
Mittelmeerländern, daß sein Elend ein Gewand hat —, sondern
abgeschabtes Bürgerkleid und verwetzten Soldatenrock aus dem
unerschöpflichen Tuch des Krieges, so haben auch die Gebäude
eine heruntergekommene Bürgerlichkeit. Sie stehn in endloser
Reihe, Fenster an Fenster, kleine Balkone sind vorgeklebt,
auf welchen Topfblumen ein kümmerliches Dasein fristen. Um
eine Vorstellung vom Leben der Bewohner zu bekommen, muß man in
die Höfe vordringen, den traurigen ersten und den
traurigeren zweiten, man muß die blassen Kinder beobachten,
die da herumlungern und auf den Stufen zu den drei, vier und
mehr Eingängen der lichtlosen Quergebäude hocken, rührende
und groteske Geschöpfe, wie Zille sie gemalt und gezeichnet
hat. Manchmal scharen sie sich um einen Leiermann, der hier
noch eher auf Almosen hofft als in bürgerlichen Quartieren,
oder um die Sängerinnen der Heilsarmee mit ihren
rotbebänderten Hüten und militärischen Mänteln, die den
Armen dieser Welt die Reichtümer des Jenseits versprechen.
Wer Gelegenheit hat, die dumpfen Stiegen hinaufzutasten bis
zu den armseligen Wohnküchen mit ihrem Kohldunst und den
Schlafkammern mit dem säuerlichen Säuglingsgeruch, kann
‚lernen‘.
Auch in den Gesichtern derer, die gegen Abend aus den Hallen
der Ringbahnhöfe Wedding und Gesundbrunnen kommen und durch
die Straßen oder an Zäunen und Baustellen entlang ins
Trostlose heimtrotten, steht allerlei geschrieben. Man muß
aber länger hineinsehn, auf den ersten Blick lassen sich
diese Menschen nicht soviel anmerken wie andre Völker, die
einen leichteren, unmittelbareren Weg vom Gefühl zur Geste,
zum Ausdruck haben. Umso mehr Kräfte sammeln vielleicht
diese Zurückhaltenden und Gefaßten für ihren Kampf gegen den
größten Feind der Menschheit von heute.
Humboldthain: nur ein paar größere Buben jagen um den
Spielplatz. Für die kleinen, die man hier im Sommer auf den
Sandhaufen sah, ist es schon zu kalt. Auch von der berühmten
Spielbank der Arbeitslosen ist heute nichts zu sehn, die im
Herbst hier im Grünen auf den Bänken Karten auf rote und
bunte Taschentücher als Spielteppich warf, Zahlen erschallen
ließ und mit kleinen Münzen klapperte. Da gab es
Spielergesichter über kragenlosen Hälsen so ernst und
versunken wie die über den Frackhemden von Monte Carlo. Soll
ich die Ringbahn nehmen, zur Landsberger Allee fahren und in
den Friedrichshain gehn, um spielende Kinder zu sehn? Dort
findet nämlich richtiger Wintersport statt in diesen Tagen.
Dort wird den ‚Kanonenberg‘ hinuntergerodelt, immer zwei und
drei auf einem Handschlitten —
Nein, heut will ich lieber weiter nach Norden ins Freie. In
der Badstraße seh ich zwischen den Häusern einen dünnen Bach
fließen. Das ist die gute Panke. Ich muß an die Stelle in
der Karlstraße denken, wo sie noch heimlicher fließt mitten
zwischen hohen Hinterhausmauern, sie, die einstmals nah
ihrer Mündung in die Spree ein hübsch eingerichtetes
Badehaus gehabt haben soll und jetzt ein recht trübseliges
Wässerchen geworden ist.
Auf einer Trambahn lese ich: Pankow, Niederschönhausen. Ich
springe auf. Und nun fahr ich durch dies seltsame Gemisch
von Großstadt und Gartenstadt, wo es Musterbeispiele von
allem gibt, dazu noch den Schloßpark mit seinen alten Eichen
und den Bürgerpark mit dem stolzen Toreingang, die üblichen
Vorstadtstraßen und halb dörfliche mit den lieben, etwas
eingesunkenen Häuschen derer, die vor bald hundert Jahren
hier aufs Land zogen, dann nahe bei Villen vornehmer alter
Bankierfamilien Baracken, die aus der Kriegszeit stammen,
voll kinderreichem Elend, und weiterhin Kleingartenkolonien.
Und dann in Parkeinsamkeit das Schlößchen von
Niederschönhausen, ganz verlassen und verschlossen, die
hohen Fenster innen von Brettern verstellt. Da wohnte zur
Sommerzeit Friedrichs des Großen Gemahlin, die arme
Elisabeth Christine. Von dieser Vergessenen würde man, glaub
ich, selbst wenn man in das Schloß hineinkönnte, keine Spur
finden.
Auf dem Rückweg kam ich in der Badstraße gerade zurecht, um
im Kinotheater die Revue zu sehn. Eine Revue mit fünf
Tanzmädchen. Um ihre zackig gerahmten Bewegungen war noch
Rest der Eierschale tüchtiger Einstudierung zu spüren. Wie
die Flitterstreifen über sie liefen und auf
Vogelscheuchstangen des Reifrocks von ihnen abstanden,
während sie sangen: ‚Wenn die Sterne wandern — Nachts am
Himmelszelt — Einer sagt’s dem andern — Schön ist’s auf der
Welt!‘ Ach, und die eine im Falterkleid, die am Hintergrund
festsaß ganz wie ein aufgespießter Schmetterling. Und die
südlich bekleidete Busendame, die das Lied sang: ‚Wenn in
Sevilla . . .‘ Und ihr Partner, der sein Spanisches trug wie
ein Lakaienhabit und beim Singen immer auf sie und ihren
Busen zeigte. Und zuletzt die historische Modeschau von Evas
Feigenblatt übers Keuschheitsschloß der Gattinnen alter
Ritter, als welche, laut begleitendem Gesang, gleich so bös
und bitter wurden, bis zu den Hemdhöschen von heute.
Zwischendurch durfte sich ein Soldat in einer Küche recht
zynisch aufführen und Späße machen, die fast der *Gaité
Montparnasse* würdig waren (wir werden Weltstadt!). Zuletzt
aber standen Silbersterne über Apotheoseköpfen, Silbersterne
wie vom Weihnachtsbaum, und die guten Mädchen wurden
himmlische Heerschar, die den Hirten erscheint. Mir war es
noch nicht genug mit dem einen Theater. Ich war noch am
Weinbergweg, wo in alter Zeit Mutter Gräberts berühmtes
Stullentheater geblüht haben soll und noch jetzt eins blüht,
das zwar Lachbühne heißt, in seinem Riesenprogramm von acht
Uhr bis nach Mitternacht aber auch ein ernstes Liederspiel
enthält, und gerade das bekam ich zu sehn. Es hieß
‚Zigeuner‘. Ob nun die schöne Else von Felsing im Jagdgewand
auftrat und an des Zigeuners Sohn wieder gut machte, was man
seiner entführten Mutter angetan, ob der grüne Oberförster
Wolter, Hand an der vorstehenden Flinte, mit strenger
Forderung auftrat, ob die Liebenden flüchteten oder die
Zigeunermusikanten eins sangen, fast die ganze Zeit stand
die alte Minka in der rechten Ecke und rührte die Suppe über
dem Holzfeuer. Dann schloß sich der Vorhang rund um die
Bühne, die auch seitlich vom Zuschauerraum eingefaßt ist. Es
war ein Sonnabend abend. Das Theater war voll dankbarer
Einwohner einer der vielen Kleinstädte von Berlin.
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