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author | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2024-11-27 18:15:59 +0100 |
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committer | Patrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc> | 2024-11-27 18:15:59 +0100 |
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-rw-r--r-- | 18-norden.rst | 201 |
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diff --git a/18-norden.rst b/18-norden.rst new file mode 100644 index 0000000..50eb7fd --- /dev/null +++ b/18-norden.rst @@ -0,0 +1,201 @@ +.. include:: global.rst + +NORDEN +====== + +:centerblock:`\*` + + +:initial:`S`\ o sehr ich unsere Schaufenster im Westen liebe +mit ihren immer neuen Gruppierungen, Beleuchtungen, +Überraschungen — in der Woche vor Weihnachten wird’s mir zu +üppig hinterm Glase. Immer wieder diese Lebensmittelmassen +(Mittel, die kein Zweck zu heiligen imstande ist. Eher +schänden sie ihn), diese riesigen ‚Freßkörbe‘, in denen +Schnapsflaschen, Würste, Ananas und Trauben mit schimmernden +Schleifen gebunden und auf Tannenstreu gebettet überquellen! +In allen Preislagen wird mit der Ware zugleich seelenvolle +Aufmachung feilgeboten, um den Berlinern, die ‚zu nichts +kommen‘, das reizende Selber-Basteln, -Betten und -Binden zu +ersparen. Immer wieder die Buchläden mit dem kolorierten +Märchenaufguß für die lieben Kleinen. Und die Wälder von +versilberten Tannenzapfen zwischen Nickel- und Eisenwaren, +Fichtennadeln, die aus Schuhen kriechen, Lametta, das auf +Schlupfer schneit. Jahrmarkt-ähnlicher wird es, wo richtige +Buden stehn. Neben Christbaumschmuck aufblasbare Gummiwesen +zum Quieken, rote und grüne Quetsch-Affen. Eine Frau läßt +vor ihrem Verschlag einen künstlichen Piepmatz auf dem +Trottoir die Bewegung des Pickens machen und sagt dazu: ‚Das +neueste von der Leipziger Messe.‘ Und als ich vor diesem +Phänomen eine Weile stehn blieb, wandte sich der +Mitverkäufer persönlich an mich: ‚Noch so einen einpacken, +Herr Chef?‘ Merkwürdige neuzeitliche Nuance der +ehrerbietigen Anrede. Früher hätte er ‚Herr Doktor‘ gesagt. +In München schlechthin ‚Herr Nachbar‘. + +Das war, glaub ich, am Leipziger Platz. Je tiefer ich in die +Stadt und nach Norden kam, um so kleinstädtischer und echter +wurde der Weihnachtsmarkt. Und das Angebot in den Auslagen +der Geschäfte war nicht mehr so schrecklich distinguiert. Da +stand dick (es war die Gegend des Rosenthaler Tors) ‚Was wir +bieten‘ und ‚Dreipreis 25, 50 und 95 ch.‘ Und ‚Gänsebrust +das beste Festgeschenk‘. Und die kleinen Gänsebrüste hingen +ohne weitere Tannenzutat wartend aufgereiht. Die Wagen am +Straßenrand waren voll billiger derber Pfefferkuchen. +Wurstbuden unterbrachen den bunten Kram mit warm wehendem +Dampf. Immerhin vermißte ich manches von der rührenden +Kleinwelt des alten Berliner Weihnachtsmarktes. Nirgends +hörte ich das frühere ‚Zehn Pfennig der Taschenkalender‘ von +Kinderstimmen. Zur Zeit, als wir das hörten, erinnerten sich +unsere Eltern an das ‚Einen Dreier das Schäfchen‘ noch +früherer Zeiten. Und wo sind die Knarren und Waldteufel hin? +Aber keine Neuzeit vertreibt die Tannenbäume. Wo immer das +Trottoir sich platzartig erweitert, stehen sie zum Verkauf, +stattliche und rührend dürftige. Auch ganz winzige mit drei +bunten Kerzen. Man erzählt, gestern soll hier in der Nähe +ein Lager mit ein paar hundert Bäumen ausgeplündert worden +sein. Gefühlvolle Räuber! Wie behandelt die +Rechtsgelahrtheit diese Art Diebstahl? Dies Brennholz mit +Imponderabilien? Dies nicht lebensnotwendige Bedürfnis. Auch +in den übelsten Schenken bei bösen pflaumenaugigen Hexen +steht ein Bäumchen auf schmierigem Tischtuch. Das Christkind +kann’s immer noch mit dem Radio aufnehmen. + +Durch die Ackerstraße nach dem Wedding zu. Selbst diese +traurige Gegend bekommt etwas vom Weihnachtswald und bunten +Markt ab. Aus dem Hof der riesigen Mietskaserne, dem ersten +Hof — sie hat wohl fünf oder sechs, eine ganze Stadt von +Menschen wohnt darin. Alle Arten Berufe lassen sich erraten +aus den Anschlägen: Apostelamt, Pumpernickelfabrik, Damen- +und Burschenkonfektion, Schlosserei, Lederstanzerei, +Badeanstalt, Drehrolle, Fleischerei . . . Und noch so und +soviel Schneiderinnen, Nähterinnen, Kohlenmänner, die in den +endlosen, grau-rissigen Quer- und Seitengebäuden hausen — +aus dem ersten Hof dieses Musterbeispiels der Wohnverliese +von gestern kommen durch den runden Torweg drei Burschen, +einer mit der Gitarre, die beiden andern mit Kerzen, die sie +im Gang auspusten. Die spielen und singen hier von Hof zu +Hof Weihnachtslieder und halten dabei ihre brennenden Kerzen +in den Händen. + +Die Wölbungen dieser Torgänge geben dem Großstadtelend +wenigstens noch ein Gesicht. Sonst ist hier im Norden wie +auch in den proletarischen Teilen von Schöneberg oder +Neukölln den Häusern von außen meist nicht anzusehen, +wieviel Armut sie bergen. Wie die Menschen keine bunten +Lumpen tragen — leiser Trost des Bettlers in +Mittelmeerländern, daß sein Elend ein Gewand hat —, sondern +abgeschabtes Bürgerkleid und verwetzten Soldatenrock aus dem +unerschöpflichen Tuch des Krieges, so haben auch die Gebäude +eine heruntergekommene Bürgerlichkeit. Sie stehn in endloser +Reihe, Fenster an Fenster, kleine Balkone sind vorgeklebt, +auf welchen Topfblumen ein kümmerliches Dasein fristen. Um +eine Vorstellung vom Leben der Bewohner zu bekommen, muß man in +die Höfe vordringen, den traurigen ersten und den +traurigeren zweiten, man muß die blassen Kinder beobachten, +die da herumlungern und auf den Stufen zu den drei, vier und +mehr Eingängen der lichtlosen Quergebäude hocken, rührende +und groteske Geschöpfe, wie Zille sie gemalt und gezeichnet +hat. Manchmal scharen sie sich um einen Leiermann, der hier +noch eher auf Almosen hofft als in bürgerlichen Quartieren, +oder um die Sängerinnen der Heilsarmee mit ihren +rotbebänderten Hüten und militärischen Mänteln, die den +Armen dieser Welt die Reichtümer des Jenseits versprechen. +Wer Gelegenheit hat, die dumpfen Stiegen hinaufzutasten bis +zu den armseligen Wohnküchen mit ihrem Kohldunst und den +Schlafkammern mit dem säuerlichen Säuglingsgeruch, kann +‚lernen‘. + +Auch in den Gesichtern derer, die gegen Abend aus den Hallen +der Ringbahnhöfe Wedding und Gesundbrunnen kommen und durch +die Straßen oder an Zäunen und Baustellen entlang ins +Trostlose heimtrotten, steht allerlei geschrieben. Man muß +aber länger hineinsehn, auf den ersten Blick lassen sich +diese Menschen nicht soviel anmerken wie andre Völker, die +einen leichteren, unmittelbareren Weg vom Gefühl zur Geste, +zum Ausdruck haben. Umso mehr Kräfte sammeln vielleicht +diese Zurückhaltenden und Gefaßten für ihren Kampf gegen den +größten Feind der Menschheit von heute. + +Humboldthain: nur ein paar größere Buben jagen um den +Spielplatz. Für die kleinen, die man hier im Sommer auf den +Sandhaufen sah, ist es schon zu kalt. Auch von der berühmten +Spielbank der Arbeitslosen ist heute nichts zu sehn, die im +Herbst hier im Grünen auf den Bänken Karten auf rote und +bunte Taschentücher als Spielteppich warf, Zahlen erschallen +ließ und mit kleinen Münzen klapperte. Da gab es +Spielergesichter über kragenlosen Hälsen so ernst und +versunken wie die über den Frackhemden von Monte Carlo. Soll +ich die Ringbahn nehmen, zur Landsberger Allee fahren und in +den Friedrichshain gehn, um spielende Kinder zu sehn? Dort +findet nämlich richtiger Wintersport statt in diesen Tagen. +Dort wird den ‚Kanonenberg‘ hinuntergerodelt, immer zwei und +drei auf einem Handschlitten — + +Nein, heut will ich lieber weiter nach Norden ins Freie. In +der Badstraße seh ich zwischen den Häusern einen dünnen Bach +fließen. Das ist die gute Panke. Ich muß an die Stelle in +der Karlstraße denken, wo sie noch heimlicher fließt mitten +zwischen hohen Hinterhausmauern, sie, die einstmals nah +ihrer Mündung in die Spree ein hübsch eingerichtetes +Badehaus gehabt haben soll und jetzt ein recht trübseliges +Wässerchen geworden ist. + +Auf einer Trambahn lese ich: Pankow, Niederschönhausen. Ich +springe auf. Und nun fahr ich durch dies seltsame Gemisch +von Großstadt und Gartenstadt, wo es Musterbeispiele von +allem gibt, dazu noch den Schloßpark mit seinen alten Eichen +und den Bürgerpark mit dem stolzen Toreingang, die üblichen +Vorstadtstraßen und halb dörfliche mit den lieben, etwas +eingesunkenen Häuschen derer, die vor bald hundert Jahren +hier aufs Land zogen, dann nahe bei Villen vornehmer alter +Bankierfamilien Baracken, die aus der Kriegszeit stammen, +voll kinderreichem Elend, und weiterhin Kleingartenkolonien. +Und dann in Parkeinsamkeit das Schlößchen von +Niederschönhausen, ganz verlassen und verschlossen, die +hohen Fenster innen von Brettern verstellt. Da wohnte zur +Sommerzeit Friedrichs des Großen Gemahlin, die arme +Elisabeth Christine. Von dieser Vergessenen würde man, glaub +ich, selbst wenn man in das Schloß hineinkönnte, keine Spur +finden. + +Auf dem Rückweg kam ich in der Badstraße gerade zurecht, um +im Kinotheater die Revue zu sehn. Eine Revue mit fünf +Tanzmädchen. Um ihre zackig gerahmten Bewegungen war noch +Rest der Eierschale tüchtiger Einstudierung zu spüren. Wie +die Flitterstreifen über sie liefen und auf +Vogelscheuchstangen des Reifrocks von ihnen abstanden, +während sie sangen: ‚Wenn die Sterne wandern — Nachts am +Himmelszelt — Einer sagt’s dem andern — Schön ist’s auf der +Welt!‘ Ach, und die eine im Falterkleid, die am Hintergrund +festsaß ganz wie ein aufgespießter Schmetterling. Und die +südlich bekleidete Busendame, die das Lied sang: ‚Wenn in +Sevilla . . .‘ Und ihr Partner, der sein Spanisches trug wie +ein Lakaienhabit und beim Singen immer auf sie und ihren +Busen zeigte. Und zuletzt die historische Modeschau von Evas +Feigenblatt übers Keuschheitsschloß der Gattinnen alter +Ritter, als welche, laut begleitendem Gesang, gleich so bös +und bitter wurden, bis zu den Hemdhöschen von heute. +Zwischendurch durfte sich ein Soldat in einer Küche recht +zynisch aufführen und Späße machen, die fast der *Gaité +Montparnasse* würdig waren (wir werden Weltstadt!). Zuletzt +aber standen Silbersterne über Apotheoseköpfen, Silbersterne +wie vom Weihnachtsbaum, und die guten Mädchen wurden +himmlische Heerschar, die den Hirten erscheint. Mir war es +noch nicht genug mit dem einen Theater. Ich war noch am +Weinbergweg, wo in alter Zeit Mutter Gräberts berühmtes +Stullentheater geblüht haben soll und noch jetzt eins blüht, +das zwar Lachbühne heißt, in seinem Riesenprogramm von acht +Uhr bis nach Mitternacht aber auch ein ernstes Liederspiel +enthält, und gerade das bekam ich zu sehn. Es hieß +‚Zigeuner‘. Ob nun die schöne Else von Felsing im Jagdgewand +auftrat und an des Zigeuners Sohn wieder gut machte, was man +seiner entführten Mutter angetan, ob der grüne Oberförster +Wolter, Hand an der vorstehenden Flinte, mit strenger +Forderung auftrat, ob die Liebenden flüchteten oder die +Zigeunermusikanten eins sangen, fast die ganze Zeit stand +die alte Minka in der rechten Ecke und rührte die Suppe über +dem Holzfeuer. Dann schloß sich der Vorhang rund um die +Bühne, die auch seitlich vom Zuschauerraum eingefaßt ist. Es +war ein Sonnabend abend. Das Theater war voll dankbarer +Einwohner einer der vielen Kleinstädte von Berlin. |