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<title>X. Seegespenst.</title>
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<body>
<h4>X.</h4>
<h5>Seegespenst.</h5>
<p>
Ich aber lag am Rande des Schiffes,<br />
Und schaute, träumenden Auges,<br />
Hinab in das spiegelklare Wasser,<br />
Und schaute tiefer und tiefer –<br />
Bis tief, im Meeresgrunde,<br />
Anfangs wie dämmernde Nebel,<br />
Jedoch allmählig farbenbestimmter,<br />
Kirchenkuppel und Thürme sich zeigten<br />
Und endlich, sonnenklar, eine ganze Stadt,<br />
Alterthümlich niederländisch,<br />
Und menschenbelebt.<br />
Bedächtige Männer, schwarzbemäntelt,<br />
Mit weißen Halskrausen und Ehrenketten<br />
Und langen Degen und langen Gesichtern,<br />
Schreiten über den wimmelnden Marktplatz
</p>
<p>
Nach dem treppenhohen Rathhaus',<br />
Wo steinerne Kaiserbilder<br />
Wacht halten mit Zepter und Schwerdt.<br />
Unferne, vor langen Häuser-Reih'n<br />
Mit spiegelblanken Fenstern,<br />
Stehn pyramidisch beschnittene Linden,<br />
Und wandeln seidenrauschende Jungfrau'n,<br />
Ein gülden Band um den schlanken Leib,<br />
Die Blumengesichter sittsam umschlossen<br />
Von schwarzen, sammtnen Mützchen,<br />
Woraus die Lockenfülle hervordringt.<br />
Bunte Gesellen, in spanischer Tracht,<br />
Stolziren vorüber und nicken.<br />
Bejahrte Frauen,<br />
In braunen, verschollnen Gewändern,<br />
Gesangbuch und Rosenkranz in der Hand,<br />
Eilen, trippelnden Schritts,<br />
Nach dem großen Dome,<br />
Getrieben von Glockengeläute<br />
Und rauschendem Orgelton.
</p>
<p>
Mich selbst ergreift des fernen Klangs<br />
Geheimnißvoller Schauer,<br />
Unendliches Sehnen, tiefe Wehmuth<br />
Beschleicht mein Herz,<br />
Mein kaum geheiltes Herz;
</p>
<p>
Mir ist als würden seine Wunden<br />
Von lieben Lippen aufgeküßt,<br />
Und thäten wieder bluten,<br />
Heiße, rothe Tropfen,<br />
Die lang und langsam niederfall'n<br />
Auf ein altes Haus dort unten<br />
In der tiefen Meerstadt,<br />
Auf ein altes, hochgegiebeltes Haus,<br />
Das melancholisch menschenleer ist,<br />
Nur daß am untern Fenster<br />
Ein Mädchen sitzt,<br />
Den Kopf auf den Arm gestützt,<br />
Wie ein armes, vergessenes Kind –<br />
Und ich kenne dich armes, vergessenes Kind!
</p>
<p>
So tief, so tief also<br />
Verstecktest du dich vor mir,<br />
Aus kindischer Laune,<br />
Und konntest nicht mehr herauf,<br />
Und saßest fremd unter fremden Leuten,<br />
Fünfhundert Jahre lang,<br />
Derweilen ich, die Seele voll Gram,<br />
Auf der ganzen Erde dich suchte,<br />
Und immer dich suchte,<br />
Du Immergeliebte,<br />
Du Längstverlorene,
</p>
<p>
Du Endlichgefundene, –<br />
Ich hab' dich gefunden und schaue wieder<br />
Dein süßes Gesicht,<br />
Die klugen, treuen Augen,<br />
Das liebe Lächeln –<br />
Und nimmer will ich dich wieder verlassen,<br />
Und ich komme hinab zu dir,<br />
Und mit ausgebreiteten Armen<br />
Stürz' ich hinab an dein Herz –
</p>
<p>
Aber zur rechten Zeit noch<br />
Ergriff mich beim Fuß der Capitän,<br />
Und zog mich vom Schiffsrand,<br />
Und rief, ärgerlich lachend:<br />
Doktor, sind Sie des Teufels?
</p>
</body>
</html>
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