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<title>V. Der Gesang der Okeaniden.</title>
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<body>
<h4>V.</h4>
<h5>Der Gesang der Okeaniden.</h5>
<p>
Abendlich blasser wird es am Meere,<br />
Und einsam, mit seiner einsamen Seele,<br />
Sitzt dort ein Mann auf dem kahlen Strand,<br />
Und schaut, todtkalten Blickes, hinauf<br />
Nach der weiten, todtkalten Himmelswölbung,<br />
Und schaut auf das weite, wogende Meer,<br />
Und über das weite, wogende Meer,<br />
Wie Lüftesegler, ziehn seine Seufzer,<br />
Und kehren wieder, trübselig,<br />
Und hatten verschlossen gefunden das Herz,<br />
Worin sie ankern wollten –<br />
Und er stöhnt so laut, daß die weißen Möven,<br />
Aufgescheucht aus den sandigen Nestern,<br />
Ihn heerdenweis' umflattern,<br />
Und er spricht zu ihnen die lachenden Worte:
</p>
<p>
Schwarzbeinigte Vögel,<br />
Mit weißen Flügeln Meer-überflatternde,<br />
Mit krummen Schnäbeln Seewasser-saufende,<br />
Und thranigtes Robbenfleisch-fressende,<br />
Eu'r Leben ist bitter wie Eure Nahrung!<br />
Ich aber, der Glückliche, koste nur Süßes!<br />
Ich koste den süßen Duft der Rose,<br />
Der Mondschein-gefütterten Nachtigallbraut;<br />
Ich koste noch süßere Josty-Baisers,<br />
Mit weißer Seligkeit gefüllte;<br />
Und das Allersüßeste kost' ich:<br />
Süße Liebe und süßes Geliebtseyn.
</p>
<p>
Sie liebt mich! Sie liebt mich! die holde Jungfrau!<br />
Jetzt steht sie daheim, am Erker des Hauses,<br />
Und schaut in die Dämm'rung hinaus, auf die Landstraß',<br />
Und horcht, und sehnt sich nach mir – wahrhaftig!<br />
Vergebens späht sie umher und sie seufzet,<br />
Und seufzend steigt sie hinab in den Garten,<br />
Und wandelt in Duft und Mondschein,<br />
Und spricht mit den Blumen, erzählet ihnen:<br />
Wie ich, der Geliebte, so lieblich bin<br />
Und so liebenswürdig – wahrhaftig!<br />
Nachher im Bette, im Schlafe, im Traum,<br />
Umgaukelt sie selig mein theures Bild,<br />
Sogar des Morgens, beim Frühstück,
</p>
<p>
Auf dem glänzenden Butterbrodte,<br />
Sieht sie mein lächelndes Antlitz,<br />
Und sie frißt es auf vor Liebe – wahrhaftig!
</p>
<p>
Also prahlt er und prahlt er,<br />
Und zwischendrein schrillen die Möven,<br />
Wie kaltes, ironisches Kichern;<br />
Die Dämm'rungsnebel steigen herauf;<br />
Aus violettem Gewölk, unheimlich,<br />
Schaut hervor der grasgelbe Mond;<br />
Hochauf rauschen die Meereswogen,<br />
Und tief aus Hochauf rauschendem Meer,<br />
Wehmüthig wie flüsternder Windzug,<br />
Tönt der Gesang der Okeaniden,<br />
Der schönen, mitleidigen Wasserfrau'n,<br />
Vor allen vernehmbar die liebliche Stimme<br />
Der silberfüßigen Peleus-Gattin,<br />
Und sie seufzen und singen:
</p>
<p>
O Thor, du Thor! du prahlender Thor!<br />
Du kummergequälter!<br />
Dahingemordet sind all deine Hoffnungen,<br />
Die tändelnden Kinder des Herzens,<br />
Und ach! dein Herz, dein Niobe-Herz<br />
Versteinert vor Gram!
</p>
<p>
In deinem Haupte wird's Nacht,<br />
Und es zucken hindurch die Blitze des Wahnsinns,<br />
Und du prahlst vor Schmerzen!<br />
O Thor, du Thor! du prahlender Thor!<br />
Halsstarrig bist du wie dein Ahnherr,<br />
Der hohe Titane, der himmlisches Feuer<br />
Den Göttern stahl und den Menschen gab,<br />
Und Geier-gequälet, Felsen-gefesselt,<br />
Olympauftrotzte und trotzte und stöhnte,<br />
Daß wir es hörten im tiefen Meer,<br />
Und zu ihm kamen mit Trostgesang.<br />
O Thor, du Thor! du prahlender Thor!<br />
Du aber bist ohnmächtiger noch,<br />
Und es wäre vernünftig, du ehrtest die Götter,<br />
Und trügest geduldig die Last des Elends,<br />
Und trügest geduldig so lange, so lange,<br />
Bis Atlas selbst die Geduld verliert,<br />
Und die schwere Welt von den Schultern abwirft<br />
In die ewige Nacht.
</p>
<p>
So scholl der Gesang der Okeaniden,<br />
Der schönen, mitleidigen Wasserfrau'n,<br />
Bis lautere Wogen ihn überrauschten –<br />
Hinter die Wolken zog sich der Mond,<br />
Es gähnte die Nacht,<br />
Und ich saß noch lange im Dunkeln und weinte.
</p>
</body>
</html>
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