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authorPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2023-05-29 17:15:24 +0200
committerPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2023-05-29 17:15:24 +0200
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+
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+<head>
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+ <title>...liner Roma... - 2.</title>
+</head>
+<body>
+
+<div class="prose">
+
+ <h3 class="center">2.</h3>
+
+<p class="intro">
+In einem Abteil der Ringbahn fand man eine angebohrte
+Zinnbüchse, die, wie festgestellt wurde, die Überreste des
+im April eingeäscherten Rennfahrers Zierbold enthielt und
+vermutlich von einem enttäuschten Dieb – –</p>
+
+<p class="clearb">
+„Eintreffe 2 Uhr nachts Lehrter Bahnhof, Henkelchen.“
+Selbstverständlich holen wir sie ab. Du, Gustav wirst ihre
+Koffer tragen. Solche Provinzler fallen immer Kerlen in die
+Hände. „Was für Kerle?“ Alberne Frage! Schwindlern! Kerle,
+die das Gepäck abnehmen und damit verschwinden. Oder die
+Fremden in ein nahes anständiges Hotel bringen wollen und
+sie dann per Auto meilenweit in eine Kaschemme verschleppen,
+wo der Schofför mit unter einer Decke spielt und ihnen noch
+50 Mark abknöpft, ehe sie im Schlafe ausgeraubt und erwürgt
+werden. Man liest es doch täglich.</p>
+
+<p>
+Die Leute an der Haltestelle messen einander mit kalt
+kalkulierenden Blicken, wie internationale Ringkämpfer am
+Start. Und wartend präparieren sie Tricks, die man noch
+soeben durchgehen läßt. Warten vergiftet. Eine rumpelnde
+Bahn nach der andern wächst heran, schrumpft davon, die 46,
+107, nochmals die 107, zum Donnerwetter! dreimal
+hintereinander die 107. Dann die richtige. Spitz strömt das
+Häuflein Nervöser in das Perrontor, wie Wasser in eine
+Gosse, siebt sich durch die Aussteigenden hinein, klemmt
+sich, preßt. Frau Purmann, von würdelosen Paketen umpuffert,
+rudert im dicksten Strudel mit Gesten einer Ertrinkenden,
+aber genau betrachtet: offensiv. Sie schimpft: Anfangs
+weinerlich, weil unbestimmt, allgemein über Empörendes,
+Unerhörtes, dann aber superior scharf über eine ungesicherte
+Hutnadel. Schimpft jedoch nur halblaut, denn Gustav, hinter
+ihr, wäre imstande zu kichern. Der Schaffner flucht
+rückwärts. Zurückbleibende knurren oder bellen dem
+überfüllten Wagen nach. Sozialistisch, wilhelminisch,
+anarchistisch. Daß er seiner grauhaarigen Gönnerin den Arm
+beim Aussteigen bietet, daß er den Hauptteil des
+sehnendehnenden kompromittierenden Gepäckes schleppt,
+versteht sich. Aber seine Grimasse faltet sich zunehmend
+ärgerlich, gleich einem Wurstzipfel. Und er keucht ihr
+hinterdrein durchs Gedränge, wie in einer Polonäse um Säulen
+herum. Schall und Rauch! Die alles zermalmenwollenden Autos
+tuten ohrenbetäubend und verpuffen ranzigen Buttergestank.
+Dabei haben die Schofföre rote, rüde, vergnügte Gesichter! –
+Frivol, unangreifbar, schadenfroh springt der Straßenschlamm
+ohne Unterschied alle Beine an. – Daß um diese Stunde vor
+der Passage ein Spalier von Zeitungsweibern betet:
+Abendzeitung, Ambdeitun.. Maria.. benedeit.. Amd.. eit.., so
+was entgeht Elfchen.</p>
+
+<p>
+Sie rennt vorwärts, streckenweise in einer Art hinkenden
+Galopps, nicht mehr Dame, kaum noch Mensch; schneidet eine
+Diagonale durch die Kurse der Fahrzeuge und Fußgänger, durch
+witzige Zänkereien, wunde Melodien, groteske Ansprachen von
+Händlern und Bettlern. Kopfschüttelnd, andauernd wiederholt:
+„Nur 5 Gramm Kartoffeln und ich wäre glücklich!" – Alle
+Bettler heucheln. Aber einem davon schenkt Elfchen eine
+geborstene Zigarre von Heinz. – Wer nur arbeiten wollte,
+Arbeit ist genug da. Das Wort ist unter friedfertigen
+Bürgern aktuell; es beruhigt das Gewissen und legitimiert
+auskömmlich eine politische Tendenz. Nur Nörgler oder
+Idealisten suchen mehr aus dem Satz
+herauszusophoristorieren. – Trunkenbolde rempeln an,
+Matrosen stechen freche Blicke in fremde Blusenausschnitte.
+Gemeine Bollemädchen beschimpfen sich ordinär vor einem
+Aschinger. – O, daß Elfchen einen langen Schwanz und an
+dessen Quaste ein drittes Auge hätte, um sich aus Distanz
+selber beobachten zu können, wie sie so blind brutal und
+häßlich dahinwütet. So kraxelten die Maikäfer durch meine
+Bleisoldaten. – Schauläden rufen an. Hier Hummer, Langusten,
+Ananas, Gänsebrüste, Blumenkohl, Trauben, indische Vasen mit
+Ingwer und große französische Birnen. So gefällig
+aneinandergehäuft, daß sattgespeiste Künstler es dankbar
+anstaunen, es aufsuchen wie eine Sezession. – Elfchens böse
+Blicke versengen sich an den Wucherpreisen. – Pompöse
+Blumenarrangements locken Ohs und Ahs heraus. Aber sie sind
+lange nicht so geschmackvoll wie in Bayern. – Man weiß, wie
+sparsam Elfchen einkauft. Sie ersteht ein Paar Schnürsenkel
+für eine Mark und spottbillige Schuhwichse und viele
+lieblichgelbe Keks für wenig schmutziges Papiergeld. Die
+Keks für Henkelchen. Man wird gemütlich einig schwatzen,
+ohne auf Widerspruch zu stoßen. Über Augsburg; wie ganz
+anders, unvergleichlich besser man in Augsburg lebte. – Vor
+geschminkten, auffallend behängten Frauenzimmern lacht
+Elfchen herausfordernd laut.</p>
+
+<p>
+Gustav trägt einen der unzähligen revolutionären Teufel in
+sich, der immer heraus will, um im Wahne einer objektiven
+Gerechtigkeit zu protestieren, manifestieren, opponieren.
+Jetzt etwa zu rufen: Alle Straßenmädchen sind zunächst nett!
+Gustav gibt sich Mühe, den Teufel zurückzuhalten. Aber es
+verstimmt, wenn man unterdrückt, was heraus will. – Zu Hause
+wird Elfchen entdecken, daß die Wichse nichts taugt,
+
+<img class="center" src="../Images/02.png" alt="Bild Kapitel 2"/>
+
+daß die Schuhbänder wie Zwirn reißen. Das anspruchslose,
+rührende Henkelchen aber wird die Keks dankbar loben. Und zu
+Weihnachten wird Elfchen einem Kutscher Wichse und
+Schnürsenkel bescheren. Schenken und Geschenke nehmen, das
+ist eine Kunst, die .. still, Teufel! – Alles ist Lug und
+Trug in Berlin. Zwischen „Hauptgewinn“ und „50000 Mark“
+übersieht sich das winzig gedruckte Wort „im Werte von“. Und
+die Wagschalen beim Kaufmann verstecken sich hinter Kisten,
+und die Wurst macht sich mit Wasser und der Kaffee macht
+sich mit Nägeln gewichtig. – Nächsten Sonntag darf Gustav
+bei Purmanns Gänsebraten speisen. – Gerade, als er sich
+verabschieden will, am Haustor, wo steht „Nur für
+Herrschaften“, biegt Herr Binding um die Ecke. Einem
+Phrasenwechsel ist nicht mehr auszuweichen, Herr Binding
+wettert über eine unkomplizierte Neuigkeit, Gustav gerät wie
+immer vor ihm in dürftige Verlegenheit. Herrn Bindings
+nachweisbares Ebenmaß ist mit Purmanns Gold so elegant
+gerahmt. Und wo der Schöne schon zu erkannt ist, um noch
+durch weisheitsdunkle Schweigsamkeit oder gesetzte Haltung
+zu imponieren, da behauptet er sich schmeichelnd oder
+taktlos unverschämt. – Gustavens Wirtin, Frau Grätke,
+schimpft vor ihrem Gemüsekeller unflätig über die Hunde, die
+einen Rübenkorb zur Nachrichtenvermittlung benutzen. Die
+Hökerin geht nie aus, ist schneckenartig mit dem Hause Nr.
+70 verwachsen. Aber durch Fenster, Zeitungen und
+Ladenklatsch fluten ihr die Lokal- und Weltereignisse
+vorüber. Für Frau Grätke ist Schimpfen etwas wie
+Schnupftabak. Andere schimpfen aus andern Gründen; manche,
+weil sie die Großstadt nicht vertragen oder nicht begreifen.
+</p>
+
+<hr class="fin" />
+
+</div>
+</body>
+</html>