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committerPatrick Goltzsch <pg (at) in-transit.cc>2022-09-09 22:46:23 +0200
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+
+<div class="poem">
+
+ <h4 class="center vspace5 spaced">GESCHICHTEN</h4>
+
+</div>
+
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+ <title>Der Selbstmord des Zöglings Müller</title>
+</head>
+<body>
+
+<div class="prose">
+
+ <h3 class="center">Der Selbstmord des Zöglings Müller</h3>
+
+<p>
+Ein Herr Ludwig Lenzlicht war Erzieher und Hauslehrer in
+einer Anstalt für psychopathische Kinder. Er wurde immer
+»Herr Kandidat« gerufen. Er war bartlos wie ein
+Schauspieler, auch sprach er so. Meist trug er eine strenge
+scharfe Maske auf dem Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+Dieser Herr Lenzlicht fand zwei Tage nach der Beerdigung des
+Zöglings Martin Müller (der hatte sich vorher mit den
+Strümpfen der Erzieherin Nora Neumann an dem Fensterriegel
+einer Bodenluke erhängt) in einem dunklen Winkel seines
+Pultes ein Schreibheft. Er nahm es heraus. Und sah es an.
+Auf dem Etikett war zu lesen: Dieses Werk widmet Martin
+Müller den neuen Primitiven. Auf der ersten Seite war zu
+lesen: Lieber Lenzlicht, Sie sind der einzige von den
+Imbezillen der Anstalt, dem ich etwas Verständnis für die
+Betrachtungen zutraue, die ich hier niedergeschrieben habe.
+Doch daß auch Sie an meiner Persönlichkeit, ohne deren
+Kulturkraft zu fühlen, wie an einem leeren Gesicht
+vorbeigerannt sind, armer Blinder, wird Ihnen die Lektüre
+beweisen. Vielleicht werden Sie halbhell. (Dann wären Sie
+ein Glücklicher zu nennen.) Ich werde mich jetzt in der
+Dachluke zerstören, ein Einsamer in der Erkenntnis. Mein
+Werk wird dauern. Martin Müller.
+</p>
+
+<p>
+Herr Lenzlicht wunderte sich, als er die Sätze las. Nachher
+dachte er über Größenvorstellungen bei Knaben. Er war nicht
+lustig und nicht traurig, aber er sah finster aus. Das
+Denken war ihm keine Leidenschaft, deshalb las er bald
+weiter.
+</p>
+
+<p>
+Auf den nächsten Seiten waren einige Abhandlungen über den
+Wert der Kunst geschrieben, über ihre Zukunft, über die
+Wechselwirkung der einzelnen Künste, über die Architektur
+des literarischen Stils, über die neuen Primitiven, die, von
+Müller ausgehend, eine siegessichere Revolution in dem
+Kunstleben herbeiführen würden. Die Abhandlungen füllten das
+Heft fast. Herr Lenzlicht las sie ohne regere Anteilnahme,
+oft überblätterte er Seiten.
+</p>
+
+<p>
+Der letzte Aufsatz des Heftes schien ihn mehr zu
+interessieren. Die Augen waren weit, sie klammerten sich an
+die Schriftzeichen. Auch hielt er das Papier wie ein
+Kurzsichtiger; und mit beiden Händen. Manchmal sprach er
+etwas Undeutliches. Oder er lachte, ohne es zu wissen. Oder
+er lachte, wie einer Donnerwetter sagt. Oder er ließ die
+Zunge aus dem Mund hängen. In dem Heft war zu lesen:
+</p>
+
+<p>
+Ich sitze an dem Arbeitstisch und träume, was dem guten
+Lenzlicht bedenklich erscheinen würde: Die Jungen dürfen
+nicht träumen. Und dem Lenzlicht ist schon aufgefallen, daß
+die Haut um meine Augen wie Asche geworden ist. Er sagt
+häufig mit sonderbarer Betonung: ob ich denn schlecht
+schlafe, ich sähe so komisch aus. Einmal wurde ich
+ärgerlich, ich sagte: »Sie auch, Herr Kandidat.« Verlegen
+lächelnd schlug er mich blutig.
+</p>
+
+<p>
+Ich mußte das Schreiben unterbrechen, weil Fräulein Neumann
+hineinkam. Sie hat heute bunte Beine mit Lackschuhen, das
+reizt mich. Ich hatte mir zwar vorgenommen, sie nicht mehr
+zu beachten... Sie hat sich neulich so prüde gezeigt... Sie
+war nachmittags in die Stadt gefahren. Sie kam spät zurück.
+Ich begegnete ihr auf der Treppe. Sie riß sich aber los. Und
+sagte erregt: »Bett ist Bett.« Und ging in ihre Stube. In
+den folgenden Tagen sah ich sie nicht. Der Hausdiener
+Hermann sagte, sie müsse das Zimmer hüten. Ich fragte,
+warum. – Er sagte, sie habe sich verlobt. Er schmunzelte.
+</p>
+
+<p>
+Mir sind die erotischen Unterhaltungen allmählich ein Greuel
+geworden. Immer versuche ich, frei zu werden. Es gelingt
+selten. Ich weiß, daß ein begreifendes Weib mich erlösen
+kann. Hier gibt es das nicht: Fräulein Neumann ist ein
+albernes junges Ding von achtundzwanzig Jahren. Die Köchin
+ist ein unreifes Schwein. Das Stubenmädchen Minna ist
+hochmütig, sie ist ohne Grund unzugänglich. In Betracht käme
+vielleicht die Leiterin, Doktor Mondmilch; aber wenn ich
+einmal versuche, ihr meine Leiden und Schönheiten in ernster
+Unterhaltung verständlich zu machen, sehnsüchtig auf ihre
+Augen schaue, mich ihr gebe... ist sie fremd, macht Notizen,
+hat geheime Unterredungen mit Lenzlicht, verordnet mir
+Beruhigungsmittel. Sie ist sehr brutal, ich glaube zuweilen:
+sie liebt mich heimlich. Sie scheint unglücklich zu sein,
+ich habe sie gern. –
+</p>
+
+<p>
+Gestern konnte ich nicht weiterschreiben, weil der fette
+Idiot Backberg mich zu Tisch rief. Ich sitze neben der
+Russin Recha. Die kneift mich gern in die Beine; sie sagt,
+ich sei zu dick. Den langen Lehkind küßt sie, weil er wie
+ein Skelett aussieht. Überhaupt vertrage ich mich mit den
+Viechern, die man hier zusammengebracht hat, nicht. Täglich
+ist Ärger. Besonders der überaus kleine siebenjährige Max
+Mechenmal – übrigens ein außergewöhnlich unbedeutender
+Mensch – macht mir viel zu schaffen. Er mag mich nicht, weil
+er meine Überlegenheit fühlt; er versucht auf jede Weise,
+mich unmöglich zu machen. Er ist hinterlistig und feig.
+Niemand findet ihn nett. Er tut nichts lieber, als uns
+aufeinander zu hetzen, arge Klatschereien zu verbreiten,
+möglichst viel Schaden anzurichten. Er versteht, sich in dem
+Hintergrund zu halten, in dem geeigneten Augenblick zu
+verschwinden. –
+</p>
+
+<p>
+Einmal schrieb ich, nichts Böses vermutend, in unserem
+geräumigen Bade- und Klosettraum (hier bin ich vor
+Überraschungen sicher) eine längere Arbeit über den
+»Schwindel von dem Genie«. Ich führte etwa aus: Genie ist
+ein Titel, keine Eigenschaft. Das wird nicht bedacht,
+deshalb ist die große Verwirrung. Titel ist Zufallssache,
+zumeist verdächtig. Wer Genie genannt wird, ist darum nicht
+ein genialer Mensch. Geniale Menschen werden diesen Titel,
+der von der Menge verliehen wird, regelmäßig nicht erlangen.
+Die genialsten Menschen aller Zeiten sind gewiß in
+Tollhäusern und Gefängnissen geborsten. Wer von tausend
+Alltagsleuten verstanden wird, geliebt wird... gilt mir
+nicht. –
+</p>
+
+<p>
+Da wurde ich durch das langsame, seelenvolle Geschrei des
+blinden kleinen Kohn, mit dem ich trotz meiner
+antisemitischen Grundsätze innig befreundet bin, erschreckt.
+Ich sprang auf, eilte hinaus. Ich sah, wie Max Mechenmal hin
+und her lief, den kleinen Kohn in die Beine zwickte oder
+ähnliche Bosheiten tat; dabei rief er: »Fange mich.« – Der
+kleine Kohn war bleicher. In seiner Hilflosigkeit. Er hielt
+den Rücken gegen eine Wand. Die dünnen leidenden Hände
+tasteten in der Luft... Ich habe niemals so viel
+konzentrierten Schmerz gesehen, wie auf den verstorbenen
+Augen des kleinen Kohn lag. Ich eilte, ohne mir Zeit zu
+lassen, die Kleider in Ordnung zu bringen, auf Mechenmal zu,
+um ihn für die rohe Gesinnung zu züchtigen. Meine Hose wurde
+durch einen Nagel, der aus der Wand ragte, beschädigt.
+Mechenmal benutzte die Verzögerung, schlüpfte an mir vorbei,
+lief in den Klosettraum, den er hinter sich verriegelte. Ich
+schlug an die Tür. Er sagte: »Besetzt!« Ich war sehr
+ärgerlich. Mir fiel zudem ein, daß ich die Papiere, auf
+denen die Arbeit über den »Schwindel von dem Genie«
+geschrieben war, in der Eile vergessen hatte mitzunehmen.
+Ich rief, er möge sie herausgeben. Er antwortete nicht.
+Später hörte ich, wie er gewaltig kicherte. Und ich wußte:
+Das Manuskript, das ich der neuen Zeitschrift »Das andere A«
+einreichen wollte, werde ich nicht wiedersehen. Traurig ging
+ich fort –
+</p>
+
+<p>
+Ach, der kleine Kohn ist nun leider tot. Er ist an seinen
+Gespenstern gestorben, er hat mir das oft vorausgesagt.
+Seine Gespenster hat er gesehen, der blinde kleine Kohn.
+Manchmal, wenn heller Tag war. Dann fand man ihn zitternd
+und weiß in einem Winkel. Die Beine hatte er so weit
+angezogen, daß die Oberschenkel gegen die eingesunkene Brust
+gepreßt waren. Zwischen den Knien lag der Kopf. Die winzigen
+erschrockenen Fingerchen krampften sich um die Schuhspitzen.
+Wenn man ihn berührte, schrie es aus ihm. Der Schrei war so
+gellend grauenhaft, daß man unwillkürlich losließ, als hätte
+man einen Stoß erhalten. Sooft das geschah, war man ratlos
+wie bei dem ersten Mal. Doktor Mondmilch wurde gerufen. Sie
+streichelte ihn ganz wenig. Die Starrheit löste sich in
+Schluchzen auf. Er bekam Tropfen, wurde in sein Bett gelegt,
+schlief schlimm. Mechenmal rief, daß es bis auf die Straße
+schallte: »Kohn ist wieder verrückt.«
+</p>
+
+<p>
+In der letzten Zeit hatten sich die Anfälle gehäuft,
+besonders nachts. Die Ohnmachten waren tiefer, die
+nachfolgende Ermattung trostloser. Als an einem Abend Doktor
+Mondmilch, einer Einladung des Tier- und Nervenarztes Bruno
+Bibelbauer folgend, für längere Zeit weggegangen war, trat
+die Katastrophe ein. Der kleine Kohn lag bald tot in dem
+Bett. Mechenmal sagte: »Jetzt stört er einen wenigstens
+nicht mehr, wenn man schlafen will.« Der fette Idiot
+Backberg freute sich auf die Beerdigung. Die Köchin heulte;
+und das Stubenmädchen Minna. Nora Neumann hatte sich in ein
+Zimmer eingeschlossen; ich glaube, sie dichtete. Die Russin
+Recha war verschwunden; nachher fand Lenzlicht sie in dem
+Sterbezimmer. Sie saß auf dem Bett, hielt die eine Hand
+Kohns verzückt an ihr Herz, mit der rechten Hand zog sie das
+Lid seines rechten Auges hin und her. Ich hörte, wie sie
+weinte und sagte: das sei so interessant. Lenzlicht
+schimpfte wehmütig.
+</p>
+
+<p>
+Noch jetzt sagt Mechenmal, wenn er von dem kleinen Kohn
+spricht: »Der war ja verrückt.« Ich bestreite das. Jeder
+nicht stupide Mensch hat dann und wann Erlebnisse, die mit
+den althergebrachten, allen zugänglichen Gesichten nicht in
+Einklang zu bringen sind. Manchmal ist man feinfühliger als
+sonst und als die anderen. Wenn man allein ist, die
+bekannten Dinge ruhiger sind... vielleicht, wenn Abend ist,
+bei einer halbhellen Lampe... in der Dämmerstunde in
+einsamen Räumen... in Nächten, die keinen Schlaf tragen. Da
+heben sich aus der Stille Geräusche, die ich niemals gehört
+habe, die ich nicht erklären kann. Ich schrecke auf –
+fürchte mich – will in die heiße Helligkeit zu vielen
+lustigen Menschen – will nicht hören... höre feiner. Die
+Stille reißt auseinander. Alles klafft... und klingt.
+Bewegung kommt in die Gegenstände. Bösartige Schatten
+ängstigen. Alle Formen verlieren ihre Gewohnheit. Ich
+warte... auf ein entsetzliches Wunder, auf Unkörper.
+</p>
+
+<p>
+Ich bin ein entschiedener Feind von Geistern und Gespenstern
+und ähnlichen Dingen. Ich finde diese Erscheinungen wenig
+sinnig und ohne Witz, ich will nichts mit ihnen zu tun
+haben. Und konnte doch nicht hindern, daß mir erst kürzlich
+gegen die Mittagstunde eine antike Frauengestalt mit herben
+Gesichtszügen erschienen ist. Ich war davon unangenehm
+berührt. Um so mehr, als mir später einfiel, daß das
+möglicherweise meine selige Mama gewesen ist.
+</p>
+
+<p>
+Es ist nicht weniger unvernünftig, die Geister zu leugnen,
+als unvernünftig ist, Wunder anzuerkennen. Wenn Gespenster
+alltäglich wären, würden die Philosophen ein Naturgesetz für
+sie konstruieren, damit man sie daraus herleiten könnte. Und
+ohne Aufregung übersehen könnte.
+</p>
+
+<p>
+Ich werde mich weiteren Grübeleien über diese verwirrten
+Dinge entziehen, indem ich mir das Leben nehme. Man wird
+empört sein. Mir die Berechtigung absprechen, über mich zu
+verfügen. Man wird mich für überspannt erklären. Und das
+medizinisch begründen. Um sich zu beruhigen; denn wenn jeder
+so dächte, gäbe es bald ein allgemeines Protestieren gegen
+das Dasein. Das Leben würde boykottiert. Das darf nicht
+geschehen. Wenn man fragt: warum nicht? – wird man ein
+Sophist gescholten. Die Leute sterben nicht gern, das heißt
+Lebensenergie. Sie helfen sich mit Göttern und heiterer
+Weltanschauung. Wenn einem der Jammer doch zu grell wird,
+fährt er in ein besseres Irrenheim.
+</p>
+
+<p>
+Zu dem Entschluß, mich von mir zu befreien, bin ich vor
+langer Zeit gekommen. Der wichtigste Beweggrund war: ich bin
+mir ernsthaft unsympathisch. Ich kann zufällig nicht
+aushalten, über ein ganzes Leben bei mir zu bleiben. Ich
+kenne mich zu genau. Ich habe häufig geweint, daß ich von
+mir nicht loskommen kann. Ich empfinde mich als eine
+häßliche Last. Ich möchte in einem mutigen, ehrlichen,
+reinen Jungen sein. Mein Mensch ist unwahr, unästhetisch,
+plump. Ich weiß, daß der Tod mich gründlich zugrunde richten
+wird; der Gedanke ist für mich Ursache zu lebhafter
+Verzweiflung; ich kann ihn nicht lange denken. Ich verliere
+die Fähigkeit zu atmen. Habe das Gefühl, als presse ein
+Ungeheures von innen. Die Gehirntätigkeit scheint
+ausgeschaltet. Die Hände ballen sich in tierischer Angst.
+Ich weine trocken. Die Institution des Todes ist wohl für
+manche Menschen nicht angebracht; man hätte Mittel und Wege
+finden sollen, den Tod zu umgehen. Aber – das Sterben ist
+eine Bagatelle. Nur darf nicht an den Tod denken, wer sein
+Sterben vorbereitet.
+</p>
+
+</div>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Der Sieger</title>
+</head>
+<body>
+
+<div class="prose">
+
+ <h3 class="center">Der Sieger</h3>
+
+ <h4 class="center">I</h4>
+
+<p>
+Max Mechenmal war selbständiger Geschäftsführer eines
+Zeitungskioskes. Er aß und trank gern gut; er verkehrte viel
+– allerdings vorsichtig – mit Weibern. Da sein Salär häufig
+nicht ausreichte, ließ er sich gelegentlich Geld schenken:
+von Ilka Leipke. Ilka Leipke war eine über die Maßen kleine,
+aber gutgewachsene vornehme Dirne, die so sehr durch
+bizarres Wesen und scheinbar unsinnige Einfälle wie durch
+eigentümlich geschmackvolle Kleidung die meisten Männer und
+Mädchen erregte. Fräulein Leipke liebte den kleinen Max
+Mechenmal. Sie nannte ihn ihren süßen Zwerg. Max Mechenmal
+ärgerte sich zeitlebens, daß er klein war.
+</p>
+
+<p>
+Max Mechenmal entstammte einer leider verarmten Familie. Er
+hatte in einer Anstalt für schwachsinnige Kinder eine
+vorzügliche Erziehung genossen, bis man ihn sehr frühzeitig
+gewaltsam entfernte. Die Gründe sind nicht überliefert; doch
+scheint die Entlassung mehr auf der Verarmung der
+Mechenmalschen Angehörigen zu beruhen als auf seiner
+unzweifelhaften Unausstehlichkeit. Er trieb sich eine Weile
+wohnungslos herum, da sich die Familie nicht mehr um ihn
+kümmerte. Den Lebensunterhalt erwarb er in der Hauptsache
+durch belanglose Diebstähle. Einmal griff ihn die Polizei
+auf. Er wurde in ein Heim für verwahrloste Kinder gebracht.
+In dem Heim wurde er zu einem Schlosser ausgebildet. Er
+verstand, sich bei den Vorgesetzten durch außergewöhnliche
+Geschicklichkeit und Bereitwilligkeit einzuschmeicheln. Im
+geheimen quälte er die jüngeren und schwächeren Kameraden;
+oder er hetzte die Stärkeren gegenseitig auf. Er hatte
+keinen Freund; als er ausgelernt hatte und entlassen wurde,
+waren die anderen froh.
+</p>
+
+<p>
+Die ungewöhnliche Fertigkeit, die Max Mechenmal infolge
+seiner technischen Begabung in dem Anfertigen von Schlüsseln
+und dem Öffnen der schwierigsten Schlösser erlangt hatte,
+hätte er am liebsten benutzt, großartige Einbruchsdiebstähle
+zu begehen; er wäre gern ein berüchtigter Verbrecher
+geworden. Der Erlös der Einbrüche hätte ihn instand gesetzt,
+sich elegant zu kleiden, mit Weibern zu protzen. Die
+krankhaft gesteigerte Furcht, ergriffen zu werden, hinderte
+ihn. Er begnügte sich, Töchter und Mägde der Meister, bei
+denen er arbeitete, zu verführen, gefahrlose
+Gelegenheitsdiebstähle zu verüben. Sein Ehrgeiz war
+unbefriedigt.
+</p>
+
+<p>
+Durch einen Zufall veränderte sich die Lebensrichtung
+Mechenmals. Feierabend war. Müde und mißmutig ging er die
+Straßen. Lichter waren kaum sichtbar, obwohl es heftig
+dunkelte. In einem feinen Parterrezimmer ordnete eine ältere
+Dame die Falten ihres Leibes. Vor einem Keller sangen
+schmutzige kleine Mädchen das Lied von der Lorelei. Wie
+schwarze Tafeln mit hellen Kreuzen waren die Fenster in die
+bleichen, einschlafenden Häuser gegraben. Die Häusermassen
+glichen großen, abenteuerlichen Schiffen, die vor Anker
+liegen oder hinausgleiten in ein fernes winkendes Meer. Der
+kleine Schlosser dachte an die letzten sechs Geliebten.
+Fielen ihm gräßlich umränderte blaue Augen eines häßlichen
+verbuckelten Herrn auf, der ihn lächelnd, mit merklichem
+Behagen, dennoch etwas ängstlich betrachtete. Der Schlosser
+dachte: Nanu – Spaßeshalber blieb er stehen; blickte mit
+pfiffigen Äuglein, die wie blanke schwarze Knöpfe auf seinem
+Gesicht glänzten, den noch kleineren Herrn kokett an. Der
+wurde verlegen; nahm den Hut von dem Kopf; sagte stotternd,
+sein Name sei Kuno Kohn... und er bäte um Entschuldigung...
+Viel mehr war nicht zu verstehen. Der Bucklige barg einen
+Teil des Gesichts hinter dürren Fingern. Er hüstelte. War
+eilig weitergegangen. Der Schlosser dachte: Nanu – Er ging
+seines Wegs.
+</p>
+
+<p>
+Da wurde er an dem Arm gezupft. Er wandte das Gesicht: Der
+Bucklige stand wieder bei ihm, noch etwas ohne Atem von
+raschem Gehen. Kuno Kohn war ganz rot, aber er konnte ohne
+Unterbrechung sagen: »Verzeihen Sie, daß ich Sie noch einmal
+belästige; ich weiß immer erst nachher, was ich sagen
+wollte.« Das redete er übermäßig laut, um die Verlegenheit
+zu überwinden. Dann sagte er: »Vielleicht haben Sie Zeit...
+Vielleicht darf ich Sie einladen, mit mir ein Gasthaus
+aufzusuchen... Oder... Sie haben doch noch nicht zu Abend
+gegessen...« Der Schlosser wendete nichts gegen den
+Vorschlag ein.
+</p>
+
+<p>
+In einer mächtigen Kneipe ließ Kuno Kohn für Max Mechenmal
+Essen und Bier bringen. Er selbst aß nicht, er trank wenig.
+Er sah gern zu, wie es dem Schlosser schmeckte. Streichelte
+ihn später auch wohl manchmal zaghaft an dem Kinn. Dem
+Schlosser gefiel das. Sie sprachen zunächst von dem Elend
+des Daseins, von der Ungerechtigkeit des Schicksals. Als
+Mechenmal das dritte Glas Bier trank, brüstete er sich mit
+seinen Geliebten. Das war dem buckligen Menschen sogar
+unangenehm. Bisher hatte er den Schlosser erzählen lassen.
+Und seine Teilnahme allein dadurch bekundet, daß er
+zustimmend die blauen Augen theatralisch schloß, wodurch für
+Sekunden nur große jämmerliche Schatten sichtbar waren, oder
+mit dem unförmigen Kopf langsam wackelte oder mitleidsvoll
+auf die Schenkel Mechenmals die nervösen Finger drückte.
+Jetzt fing er an, eigene Meinungen zu äußern. Er schimpfte
+auf die Weiber. Mit einer Stimme, die in jedem Augenblick
+aus Erregung überzuschnappen schien. Stellte den Grundsatz
+auf: Wer das Unglück habe, Weib zu sein, möge den Mut haben,
+Hure zu werden. Die Hure sei das Weib in Reinkultur.
+Übrigens sei der Verkehr mit Weibern mehr oder minder
+entwürdigend. Als sie die Kneipe verließen, legte Kuno Kohn
+den harten elenden Knochen, der sein Unterarm war, auf den
+saftigen, muskulösen Unterarm Mechenmals. Ein goldenes
+Armband fiel auf das Handgelenk des Buckligen. Unterwegs
+forderte Kuno Kohn Mechenmal auf, bei ihm die Nacht zu
+verbringen. Der Schlosser ging auf das Anerbieten ein.
+</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn bewohnte in einem Gartenhaus einer westlichen
+Nebenstraße ein großes Zimmer, in dem nichts auffiel. Nur
+das Bett war ungewöhnlich breit, fast prunkhaft. Auf den
+Kissen lagen gelbliche und rote Blumen. Vor einem Fenster
+stand ein Schreibtisch; auf ihm waren einige Bücher,
+vielleicht Beaudelaire, George, Rilke; daneben und
+dazwischen lagen Papierbogen, die anscheinend mit
+vollendeten und unvollendeten Gedichten und Abhandlungen
+beschrieben waren. Auf einem Brett an einer Wand standen
+Bände Goethe, Shakespeare, eine Bibel eine Homerübersetzung.
+Auf Tischen und Stühlen lagen wohl einige Zeitschriften und
+Kleidungsstücke. Irgendwo waren vergilbte stille
+Photographien von alten Leuten und Kindern. Der Schlosser
+sah alles neugierig an.
+</p>
+
+<p>
+Bald saßen sie. Die Unterhaltung, die erst lebhaft war,
+stockte allmählich. Kuno Kohn drehte die Lampe klein. Später
+redete er weich und flehend dem Schlosser zu. Nachher bot er
+ihm das Bett an. Er selbst werde auf dem Sofa schlafen. Der
+Schlosser war einverstanden.
+</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn verschaffte seinem Freund Mechenmal eine
+untergeordnete Stellung bei einem Zeitungsverlag.
+Überraschend schnell arbeitete sich Mechenmal in den neuen
+Beruf ein, erlangte sehr bald genügende kaufmännische
+Kenntnisse. Wechselte Stellungen. Erreichte durch Energie
+und allerhand Gemeinheiten, daß er schon nach einem Jahr und
+wenigen Monaten als selbständiger Geschäftsführer eines
+Zeitungskioskes eine Vertrauensstellung bekleidete.
+</p>
+
+
+<h4 class="center">II</h4>
+
+<p>
+Durch die angenehme Art zu sprechen wie durch sein
+intelligentes Puppengesicht hatte sich der ehemalige
+Schlosser bald eine unverhältnismäßig große Stammkundschaft
+erworben, zu dem größten Teil weiblichen Geschlechts.
+Morgens umstanden seinen Kiosk ein Dutzend Verkäuferinnen
+eines nahen Warenhauses, die absichtlich zu früh gekommen
+waren, um sich über die Zoten und fidelen Glossen des Herrn
+Mechenmal zu freuen. Der Bankbeamte Leopold Lehmann, der
+stets pünktlich um acht Uhr kam, um illustrierte Witzblätter
+und theologische Streitschriften zu kaufen, wurde manchmal
+ungeduldig, weil die lustigen Verkäuferinnen ihn bei dem
+Aussuchen störten. Und der Gymnasiast Theo Tontod, der
+unermüdlich, in der Regel vergeblich, nach der modernen
+Zeitschrift: »Das andere A« fragte, kam oftmals zu spät in
+die Schule. – Gegen Mittag erschien fast täglich die
+Choristin Mabel Meier an dem Arm eines alten Mannes. Sie
+kaufte bunte, pikante Zeitschriften oder gefühlvolle mit
+langen lyrischen Gedichten. Der alte Mann, der immer
+wehleidig blickte, bezahlte seufzend. Sie verhielt sich
+Mechenmal gegenüber zurückhaltend. – Manchmal kam auch Mieze
+Maier, ein Backfisch, und fragte, ob Herr Tontod dort
+gewesen sei. Einmal blieb Mieze Maier länger; von der Zeit
+an häufiger. – Zu unbestimmten Stunden war ein dickes
+gemütliches Dienstmädchen des Kaufmanns Konrad Krause an dem
+Kiosk. Und sagte zu Mechenmal, er sei hübsch; er habe
+leidenschaftlich schwarze Augen und einen Knutschmund; ob er
+Sonntags nicht Laune habe, tanzen zu gehen; es liebe ihn
+sehr. Mechenmal antwortete, er werde die Neigung von
+Fräulein Frida gelegentlich erwidern. Das Dienstmädchen
+erinnerte ihn peinlich oft an sein Versprechen. – An jedem
+Dienstagnachmittag forderte ein sonderbarer Herr Simon, der
+in einem offenen Sanatorium wohnte und stets von einem
+Wärter begleitet wurde, Zeitschriften für Bestattungswesen;
+wenn nicht genügend vorhanden waren, entfernte er sich sehr
+ungehalten und auf die Krematorien schimpfend. – Auch Kuno
+Kohn kam mehrmals in jeder Woche; seltener, um zu kaufen,
+hauptsächlich um seinen Freund zu besuchen und für die
+Abende Zusammenkünfte zu verabreden. – Studenten, Damen,
+Offiziere, Arbeiter kauften ihre Zeitungen. Nur Ilka Leipke
+war trotz wiederholter Aufforderungen Mechenmals nicht zu
+bewegen, zu dem Kiosk zu kommen.
+</p>
+
+<p>
+Das war eine Laune von Ilka Leipke. Sie hatte ja viel Zeit
+und klagte dem Geliebten manches Mal, die Tage seien noch
+langweiliger als die Nächte. Auch liebte Ilka Leipke ihren
+süßen Zwerg nicht etwa weniger als in den ersten Zeiten
+ihrer Bekanntschaft. Obwohl Mechenmal sie immer herrischer
+behandelte, immer gemeiner zu ihr wurde. Zuletzt machte ihm
+Freude, wenn sie weinte; er war niemals zufrieden, ehe er
+sie dazu gebracht hatte. Dann vergnügte er sich, sie wieder
+zu trösten. Hinterher war er allerdings sehr gut zu ihr, er
+liebte sie im Grunde. Er ließ sich von Ilka Leipke sanft
+streicheln und küssen. Er war ein bißchen größer als sie,
+aber sie hatte ihn auf ihrem Jungenleib wie ein Kind. Sie
+erzählten einander. Sie lachten. Sie küßten. Viele Male
+untersuchten sie die Geschichte ihrer Begegnung. Sie
+entdeckten tausend neue Einzelheiten oder logen sich solche
+vor, weil dies schön war. Das Fräulein suchte aus einem
+Kästchen, in dem kleine Sachen lagen, einen
+Zeitungsausschnitt hervor, auf dem zu lesen war:
+</p>
+
+<p class="border indentrl w25">
+ <span class="center larger dispblock">Heiratsgesuch.</span><br />
+Ein junger, etwas kleiner, sehr hübscher Mann, des
+Alleinseins müde, erstrebt gleichartige Dame zwecks
+ehrenwerter Heirat. Auf größeres Vermögen wird gesehen.<br />
+Freundliche Offerten nimmt entgegen Max Mechenmal.
+</p>
+
+<p>
+Oder Herr Mechenmal nahm aus der Brieftasche ein blaues
+Briefchen mit lilaroten Tupfen, das er schmunzelnd dem
+Fräulein hinhielt. Fräulein Leipke las dann wohl mit leiser,
+verliebter Stimme:
+</p>
+
+<p class="txtindent">
+ <span class="center dispblock">Sehr geehrter Herr!</span>
+Soeben Ihr Heiratsgesuch gelesen. Mit Vermögen kann ich zu
+meinem Bedauern nicht aufwarten. Ich meinerseits würde
+dagegen gern auf das Heiraten Verzicht leisten, das ich noch
+nicht nötig habe. Ich bin von Beruf Weib (Berufsweib). Auch
+meine Statur ist klein (aber oho!). Ich bin der Kavaliere
+müde, suche mich deshalb nebenbei mit einem regulären Mann
+in Verbindung zu setzen. Sollte Ihnen mein Erbieten genehm
+sein, senden Sie mir bitte Ihre Photographie. Ich verbleibe
+Ihre ergebene<br />
+ <span class="fright">Ilka Leipke.</span><br />
+</p>
+
+<p class="clear">
+Wenn sie sich genug angefaßt und geküßt hatten, erfanden sie
+Spiele. Ilka Leipke machte sehr talentvoll dem selig
+kichernden Mechenmal vor, wie sich ihre Freundinnen in
+entsprechender Lage verhalten würden. Sie krümmte sich in
+den überraschendsten Stellungen. Verbog das Gesicht zu den
+komischsten Grimassen... Mechenmal konnte stundenlang
+erdachte Namen hersagen, mit denen er bestimmte Teile ihres
+Körpers in Gegenwart anderer bezeichnen wollte, ohne daß
+diese merken sollten, was er meinte. – So vergingen die
+Abende und Nächte, in denen Ilka Leipke sich für ihren
+Freund freigemacht hatte. Oft fehlte dem Mechenmal die Zeit,
+nach Hause zu gehen. Dann stand sie auf, wenn er noch
+schlief. Kochte Kaffee. Holte in Morgenschuhen und nur mit
+einem alten Theatermantel bedeckt von einem Bäcker Backwerk.
+Legte eine weiße Decke auf den Tisch. Ordnete alles
+appetitlich. Machte einige Brote zurecht – zum Mitnehmen.
+Verschwand wieder in ihrem Bett, wo sie bis in den
+Nachmittag hinein schlief. Mechenmal aber eilte etwas
+abgespannt und müde, doch in gehobener Stimmung zu seinem
+Kiosk.
+</p>
+
+<h4 class="center">III</h4>
+
+<p>
+Später Abend kroch wie eine Spinne über die Stadt. In dem
+Schein der Kohnschen Lampe war der etwas über den Tisch
+gebeugte Oberkörper Kuno Kohns. Auf dem Sofa lag, den
+Lampenkreis durchbrechend und aus ihm herausgelehnt, der
+halbfinstere Max Mechenmal. Fenster blinkten in üppigem,
+fließendem Schwarz. Aufgeschwollen und verschwommen ragten
+einige Gegenstände aus der Dunkelheit. Das offene Bett
+leuchtete weiß. Kohns Hände hielten beschriebenes Papier.
+Seine Stimme tönte leise, schwärmerisch, in singendem
+Pathos. Er wurde oft heiser und hustete, wie einer, der viel
+gelesen hat. Zu hören war: »Die alten, prächtigen
+Geschichten von Gott sind totgeschlagen. Wir dürfen ihnen
+nicht mehr glauben. Aber die Erkenntnis des Elends, glauben
+zu müssen, bedrängt uns – die Sehnsucht nach neuem,
+stärkerem Glauben. Wir suchen. Wir können nirgends finden.
+Wir grämen uns, weil wir hilflos verlassen sind. Komme doch
+einer, lehre uns Ungläubige, Gottsüchtige.« Kohn war
+erwartungsvoll still. Mechenmal hatte sich während des
+Vorlesens insgeheim amüsiert. Jetzt platzte er vernehmlich.
+Er sagte dann: »Nimm mir das nicht übel, Kohnchen. Aber du
+hast doch komische Einfälle. Das ist doch verrückt.« Kohn
+sagte: »Du hast kein Gefühl. Du bist ein oberflächliches
+Wesen. Im übrigen ist sicher, daß auch du psychopathisch
+bist.« Max Mechenmal sagte: »Was heißt das?« Kuno Kohn
+sagte: »Das wirst du schon noch merken.« Max Mechenmal sagte
+nur: »Ach so.« Er ärgerte sich, daß ihn Kuno Kohn
+oberflächlich genannt hatte. Er dachte an Ilka Leipke.
+</p>
+
+<p>
+Da sagte Kuno Kohn: »Der Tod ist ein unerträglicher Gedanke.
+Für uns Gottlose. Wir sind verdammt, ihn in hundert Nächten
+vorzuerleben. Und finden keinen Weg über ihn...« Er schwieg
+schwer. Mechenmal wollte seinem Freund Kohn beweisen, daß er
+sogar über abseitige Probleme sich äußern könne. Er
+überlegte. Und sagte: »Ich habe eine andere Auffassung,
+Kunlein Kohnchen. Allerdings ist das Gefühlssache. Auch ich
+zähle mich Gott sei Dank zu den Gottlosen. Gott ist Quatsch.
+Darüber ein Wort zu verlieren ist eines denkenden Menschen
+unwürdig. Aber ich, höre, habe Gott nicht nötig – nicht zu
+dem Leben, nicht zu dem Sterben. Tod ohne Gott ist
+wunderschön. Er ist mein Wunsch. Ich denke mir herrlich,
+einfach tot zu sein. Ohne Himmel. Ohne Wiedergeburt. Radikal
+tot. Ich freue mich darauf. Das Leben ist für mich zu
+anstrengend. Ist zu aufregend...«
+</p>
+
+<p>
+Er wollte weiterreden. An die Türe wurde geklopft. Kohn
+öffnete. Ilka Leipke trat hastig hinein. Sie sagte: »Guten
+Abend, Herr Kohn. Entschuldigen Sie, daß ich störe.« Sie
+schrie zu Mechenmal: »Hier also ertappe ich dich. So
+verlässest du mich. Du benutzest nur meinen Leib. Meine
+Seele hast du niemals gefaßt.« Sie weinte. Sie schluchzte.
+Mechenmal versuchte, sie zu beruhigen. Das erregte sie noch
+mehr. Sie rief: »Mit einem krummen Kohn mich zu betrügen...
+Ich werde Sie bei der Polizei anzeigen, Herr Kohn. Schämen
+Sie sich – ihr Schweine...« Sie hatte einen Weinkrampf. Kuno
+Kohn war unfähig, etwas zu erwidern. Mechenmal riß sie von
+dem Boden, auf den sie sich schreiend geworfen hatte. Er
+sagte mit veränderter harter Stimme, ihr Benehmen sei
+ungehörig. Sie habe keinen Grund zu Eifersucht. Er sei sein
+freier Herr. Da sah Ilka Leipke den buckligen Kohn demütig
+wie ein geschlagenes Hündchen an. War ganz still. Folgte dem
+erbosten Mechenmal hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Als Kohn allein war, wurde er allmählich wütend. Er dachte:
+Solch freche Person... Und in Zwischenräumen: Wie sich die
+Kuh aufgeregt hat. Wie eifersüchtig sie auf mich ist. Eins
+der seltenen Weiber, die mir behagen... und wählt das
+Tierchen Mechenmal. Das ist scheußlich –
+</p>
+
+<p>
+In der Frühe des nächsten Tages stand Kuno Kohn, zitternd
+wie ein Schauspieler, der Lampenfieber hat, in dem Salon des
+Fräulein Leipke. Fräulein Leipke las, als die Zofe die Karte
+Kuno Kohns brachte, gerade die verbotene Broschüre: »Der
+Selbstmord einer schicken Dame. Oder wie eine schicke Dame
+Selbstmord begeht.« Sie hatte verweinte Augen. Als sie die
+ganze Broschüre gelesen hatte, puderte sie sich frisch.
+Endlich erschien sie, nur durch ein seidenes Morgenkleid
+verhüllt, in dem Salon. Kuno Kohn war rot bis an die Ohren.
+Er sagte stöhnend, er sei gekommen, den gestrigen Auftritt
+zu entschuldigen. Fräulein Leipke tue ihm unrecht, sie kenne
+ihn zu flüchtig. Er habe immerhin innere Werte. Dann sprach
+er lobend von seinem Freund, dem guten Mechenmal; ließ aber
+durchblicken, daß diesem leider ein ausgebildetes
+Gefühlsleben mangele. Fräulein Leipke sah ihn mit lockenden
+Augen an. Er brachte das Gespräch auf die Kunst. Dann
+brachte sie das Gespräch auf ihre Beine; sie sagte
+freimütig, sie habe ihre Beine selbst gern. Sie hatte das
+Morgenkleid etwas zurückgeschlagen. Kuno Kohn hob es mit
+scheuen Händen vorsichtig höher –
+</p>
+
+<p>
+Als Abend geworden war, saß Kuno Kohn verträumt in seinem
+Zimmer. Er schaute aus dem offenen Fensterloch. Vor ihm fiel
+die graue Innenwand des Hauses hinunter, in kurzem Abstand.
+Mit vielen stillen Fenstern. Himmel war nicht, nur
+schimmernde Abendluft. Und wenig weicher Wind, der fast
+nicht zu fühlen war. Die Wand mit den Fenstern glich einem
+schönen, traurigen Bild. War gar nicht langweilig, darüber
+wunderte sich Kuno Kohn. Er stierte immer tief in die Wand.
+Lieb sah sie aus. Zutraulich. Voll von Einsamkeit. Er dachte
+heimlich: Das macht der Wind, der um die Wand ist. Er sang
+innen: Komm, Geli...iebte – Klingeln erschreckte ihn.
+</p>
+
+<p>
+Der Postbote brachte einen Brief von dem Klub Clou. Der Klub
+Clou forderte Herrn Kohn auf, als Gast des Klubs an einem
+bestimmten Abend aus seinen Werken vorzulesen.
+</p>
+
+<h4 class="center">IV</h4>
+
+<p>
+Acht Tage vor dem Vortragsabend war auf den Anschlagsäulen
+der Stadt ein Plakat. Auf ihm konnte man lesen:
+</p>
+
+<p class="border indentrl w18">
+<span class="center larger dispblock">Voranzeige.</span><br />
+
+Kuno Kohn wird in dem Klub Clou aus
+eigenen Werken vorlesen. Junge Mädchen
+und Rechtsanwälte höflichst verbeten.
+</p>
+
+<p>
+Je näher der Abend der Vorlesung herannahte, desto
+aufgeregter wurde Kuno Kohn. Zwei Stunden vorher ließ er
+sich rasieren. Als der Mann fragte, ob der Herr Puder
+beliebe, sagte Kohn kopfschüttelnd: »Ja –« Eine Stunde
+vorher verlangte Kohn in einem Polizeibureau zehn
+Fünfpfennigmarken und eine Zehnpfennigkarte.
+</p>
+
+<p>
+Als Kohn das Podium betrat, war er ruhiger, als er erwartet
+hatte. Zuerst versprach er sich manchmal. Aber seine Stimme
+wurde allmählich fest und deutlich. Der kleine Saal war
+wenig besucht; doch waren einige Kritiker der großen,
+maßgebenden Presse erschienen. Einer erklärte an dem
+nächsten Tage in der verbreiteten »Alte Bürgerzeitung«: Die
+Dichtungen, die der um seines Gebrestes willen
+bedauernswerte Dichter Kohn in einem dürftig besuchten Saal
+zu Gehör gebracht habe, seien zwar noch nicht reif für die
+Öffentlichkeit; hingegen könne man später einmal, wenn der
+Kohn sich geklärt habe, einiges von seiner Muse erwarten. –
+Ein anderer verkündete in der »Zeitung für erhellte Bürger«:
+Der Gesamteindruck sei ein erfreulicher, doch seien die
+Dichtungen nicht gleichmäßig gelungen. Auch habe der Dichter
+nicht gut vorgelesen. Jedoch sei die erste Zeile des ersten
+Verses des Gedichtes »Der Komiker« von einer erschütternden
+Prägnanz in Ausdruck und Gefühl.
+</p>
+
+<p>
+Nach der Vorlesung dankte der Vorsitzende des Klubs, der
+begabte Doktor Bryller, dem Dichter, den er ein kommendes
+Genie nannte. Eins der wenigen, die er persönlich kenne.
+Ilka Leipke hatte sich trotz des Verbotes der jungen Mädchen
+den Zutritt auf irgendeine Weise verschafft. Auch Mechenmal,
+der zuerst gesagt hatte, er werde nicht kommen, war
+erschienen. In der Pause hatte er aber erklärt, er habe
+Hunger. Und er gehe jetzt. Ob sie noch nicht genug von dem
+Unsinn habe. Wenn sie nicht mitkommen wolle, möge sie
+dableiben. Sie scheine sich plötzlich für Kohns Buckel zu
+interessieren. Er wünsche viel Glück. Und ob er den Kuppler
+spielen solle. Er ging wirklich. Ilka Leipke weinte ein
+bißchen für sich, blieb bis zuletzt. Sie klatschte
+begeistert. Sie hatte Kohn an diesem Abend lieb. Nahm ihn in
+sonderbarer Stimmung in ihre Wohnung.
+</p>
+
+<p>
+Gegen Morgen hüpfte ein kleiner buckliger Herr wie ein
+Ballettänzer auf grauen unsicheren Straßen...
+</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn vermied von nun an Begegnungen mit Mechenmal. Er
+lud ihn nicht mehr ein. Zeitungen kaufte er in einem anderen
+Kiosk. Dem Mechenmal war das ganz recht. Seine Geliebte
+hatte ihm mit aufreizendem Lächeln erzählt, daß sie eine
+schöne Nacht mit dem Buckligen in ihrem Schlafzimmer verlebt
+habe. Der Buckel sei ihr nicht unangenehm gewesen, er sei
+nicht so groß und häßlich, wie er bei oberflächlicher
+Betrachtungsweise erscheine. Man könne sich sehr an einen
+Buckel gewöhnen. –
+</p>
+
+<p>
+Mechenmal war wütend auf Kohn. Zu Ilka Leipke wurde er
+zärtlicher und nachgiebiger. Er zeigte ihr seine Eifersucht
+nicht, erwähnte nie den Namen des Nebenbuhlers. Ilka Leipke
+war glücklich. Sie dachte an die betrunkene Nacht mit Kohn
+nicht mehr. Kohn war ihr jetzt nicht weniger zuwider als
+früher, sie wies weitere Bemühungen des Dichters
+gleichgültig zurück. Mechenmal gegenüber tat sie, als sei
+sie noch immer sehr verliebt in Kohn. Einmal aber konnte sie
+einen unanständigen Witz über Kohn und seinen Buckel nicht
+unterdrücken. Mechenmal lachte herzlich.
+</p>
+
+<p>
+Kohn war traurig an ein Meer gefahren. Ein Verleger hatte
+ein unerwartet günstiges Angebot gemacht und Vorschuß
+gezahlt. Mechenmal fand zufällig ein Gedicht, das Kohn von
+dem Meer an Ilka Leipke geschickt hatte. Er las:
+</p>
+
+<p class="spaced">
+Lied der Sehnsucht.
+</p>
+
+<p class="stanza">
+Die Falten des Meeres platzen wie Peitschen auf meiner Haut.<br />
+Und die Sterne des Meeres reißen mich auf.
+</p>
+
+<p class="stanza">
+Von schreienden Wunden ist der Abend des Meeres Einsamen.<br />
+Aber die Liebenden finden den guten verträumten Tod.
+</p>
+
+<p class="stanza">
+Sei bald da, Schmerzäugige. Das Meer tut so weh.<br />
+Sei bald da, Liebleidende. Das Meer erschlägt mich so.
+</p>
+
+<p class="stanza">
+Deine Hände sind kühle Heilige. Hüll mich mit ihnen. Das Meer brennt auf mir.<br />
+Hilf doch... Hilf doch... Deck mich. Rette mich. Heil mich, Freundin.
+</p>
+
+<p class="stanza">
+Mutter – du...
+</p>
+
+<p>
+Er zerriß es. Ilka Leipke war entrüstet. Sie sagte,
+Mechenmal sei grob. Der Kleine hatte sie bald durch
+Liebkosungen besänftigt. Später setzte er sich an den
+Schreibtisch des Fräulein. Er nahm einen ihrer Briefbogen
+und schrieb:
+</p>
+
+<p class="txtindent">
+ <span class="center dispblock">An Kuno Kohn.</span>
+Fräulein Leipke, meine Braut, läßt dir hierdurch sagen, daß
+sie auf weitere Gedichte gern verzichte; sie erfüllen ihren
+Zweck bei weitem nicht. Meine Braut hat mir alles erzählt.
+Sei versichert, daß deine Liebesbewerbungen auf uns
+lächerlich wirken.<br />
+ <span class="fright">Max Mechenmal.</span><br />
+</p>
+
+<p class="clear">
+Als Mechenmal den Brief in den Postkasten gesteckt hatte,
+wurde er unruhig. Er fürchtete, unvorsichtig gehandelt zu
+haben.</p>
+
+<p>
+Kohn kam sofort zurück. Er lief zu Ilka Leipke. Zeigte den
+Brief. Fragte heulend, ob sie die Nacht mit ihm vergessen
+habe. Sie sagte: »Ja.« Er jammerte. Er weinte unverständlich
+von Seele und Selbstmord. Ilka Leipke wies ihn hinaus. Seine
+Schwachheit war ihr lästig; sie hatte schon als Kind nicht
+mit ansehen können, wenn jemand weinte.
+</p>
+
+<p>
+Aber sie ärgerte sich über Mechenmal. Sie fing an, ihn
+wieder mit Kohn zu necken. Behauptete, Kohn sei häufig ihr
+Gast; und sie finde ihn immer noch nett. Mechenmal hielt
+ihre Erzählungen für wahr. Er haßte den Kohn jetzt.
+</p>
+
+<p>
+Er überlegte, wie er den Buckligen beseitigen könne, ohne
+daß er als der Beseitiger hervortrete. Nach nicht viel Zeit
+hatte er wohl das Rezept gefunden. An einem Sonntag starb
+Kohn. Plötzlich, aber ohne auffallende Nebenumstände. Sein
+Leichnam wurde anstandslos für die Beerdigung freigegeben.
+In der Zeitschrift »Das andere A« widmete Theo Tontod dem
+Dichter einen kürzeren Nachruf. Und der Klub Clou schickte
+einen Kranz. Ilka Leipke ließ sich nicht nehmen, die Leiche
+vor der Bestattung noch einmal zu betrachten. Der Sarg wurde
+bereitwillig geöffnet. In ihm lag Kohn infolge des Buckels
+etwas schief. Die Gesichtszüge waren fratzenhaft gezerrt.
+Die Hände waren geballte Klumpen. An der Nase klebte
+geronnenes Blut, hing über den geöffneten Mund. Ilka Leipke
+überwand den Ekel. Sie ließ Benzin kommen, nahm ein seidenes
+Tüchlein aus der zierlichen Handtasche, tauchte es in die
+Benzinflasche. Säuberte mit dem Tüchlein die tote Nase. Dann
+ging sie hinweg. Beruhigt und etwas weinend. Zufrieden mit
+ihrer Güte.
+</p>
+
+<p>
+Als Mechenmal von dem Tod Kohns hörte, wurde er sehr
+ängstlich. Er konnte sich in der Stube nicht ertragen. Und
+ging eiligst aus dem Haus, nicht ohne vorher eine Zigarre in
+Brand gesteckt zu haben. Kirchenglocken klangen von dem
+sonnigen Himmel. Mechenmal war kalt und bleich. Er dachte
+immerzu: Wenn es nur nicht herauskommt. Oder er überlegte,
+wohin er fliehen könne. Er dachte an Gerichtsverhandlung, an
+Verteidiger, an Zuchthaus, Ketten, Kassiber, Henker. Daß er
+als letzte Gnade erbitten würde, noch einmal mit Ilka Leipke
+schlafen zu dürfen. Er lief durch die Straßen, als suche er
+einen einzuholen. Wenn er daran dachte, daß er nicht
+auffallen dürfe, ging er plötzlich zu langsam. Ihm schien,
+als beobachteten ihn alle Leute.
+</p>
+
+<p>
+In einem Garten rangen zwei etwa fünfzehnjährige Mädchen.
+Als sie Mechenmal sahen, setzten sie sich flink auf eine
+Bank. So ließen sie ihn näher kommen. Als er dicht genug
+war, lachten sie ihn an; eine zappelte mit den Beinen. Er
+eilte vorüber. Da schrie eine hinter ihm her: »Sieh doch,
+wie rasch der Mann geht.« Und die andere schrie, ebenso
+ratlos: »Na ja. Er raucht.« Sie sahen ihm noch nach. Dann
+rangen sie wieder.
+</p>
+
+<p>
+Mechenmal beruhigte sich allmählich. Er dachte: Man kann mir
+nichts beweisen. Ich leugne alles. Hoho! Wer kann mir etwas
+beweisen... Selbst wenn sie überhaupt etwas merken! – Er
+warf die Zigarre weg. Er fühlte sich sicherer. Er pfiff vor
+sich hin bei dem Gedanken, daß Kohn sich nicht mehr rühren
+könne. Daß er, Max Mechenmal, die Schwierigkeit Kohn so
+gründlich überwunden habe. Er dachte daran, daß er das Leben
+richtig anpacke. Daß ihm alles glücke. Er hatte gewaltiges
+Zutrauen zu sich. Er dachte: Nur keine Sentimentalitäten. Um
+anständig leben zu können, muß man ein Schuft sein.
+</p>
+
+<p>
+Er ging ganz lustig nach Hause.
+</p>
+
+</div>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Café Klößchen</title>
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+
+<div class="prose">
+
+ <h3 class="center">Café Klößchen</h3>
+
+ <h4 class="center">I</h4>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein war aus der Provinz in die Stadt gekommen,
+weil sie Schauspielerin werden wollte. Zu Haus empfand sie
+alles spießig, eng, verblödend. Die Herren waren dumm. Der
+Himmel, das Küssen, die Freundinnen, die Sonntagnachmittage
+wurden unerträglich. Am liebsten weinte sie. Schauspielerin
+sein bedeutete ihr: klug sein, frei sein, glückselig sein.
+Wie das ist, wußte sie nicht. Ob sie Talent habe, prüfte sie
+nicht.
+</p>
+
+<p>
+Sie schwärmte für den Vetter Schulz, weil er in der Stadt
+wohnte und Gedichte machte. Als der Vetter einmal schrieb,
+er habe die Juristerei satt, er werde als Schriftsteller
+seinen Neigungen leben, teilte sie den erschrockenen Eltern
+mit, das verbauerte Leben wachse ihr aus dem Halse heraus;
+sie werde als Schauspielerin ihren Idealen nachgehen. Man
+versuchte auf jede Art, sie von diesem Vorhaben abzubringen.
+Es gelang nicht. Sie wurde bestimmter, drohend. Man gab
+unwillig nach, fuhr mit ihr in die Stadt, mietete ein
+kleines Zimmer in einem großen Pensionat, meldete sie in
+einer billigen Theaterschule an. Der Vetter Schulz wurde
+gebeten, sich ihrer anzunehmen.
+</p>
+
+<p>
+Herr Schulz war häufig mit Cousine Liblichlein zusammen. Er
+führte sie in Kabaretts; las Gedichte vor; zeigte seine
+Bohemebude; bestellte sie in das Literatencafé Klößchen;
+ging mit ihr Hand in Hand stundenlang durch die nächtlichen
+Straßen; betastete sie; küßte sie. Fräulein Liblichlein war
+von allem Neuen angenehm betäubt; bald fiel ihr ein, daß sie
+sich das meiste schöner vorgestellt hatte. Verdrießlich war
+ihr schon anfangs, daß der Direktor der Theaterschule, die
+Kollegen, die Literaten des Café Klößchen – alle Männer, mit
+denen sie häufiger zusammentraf, ein Vergnügen darin fanden,
+sie anzufassen, ihre Hände zu streicheln, die Knie an ihre
+Knie zu drücken, sie unverschämt anzusehen. Sogar die
+Berührungen des Schulz wurden ihr lästig.
+</p>
+
+<p>
+Um ihn nicht zu kränken, auch um nicht kleinstädtisch zu
+wirken, gab sie ihm das selten zu verstehen. Aber einmal
+schlug sie ihm heftig auf das Gesicht. Sie waren in seinem
+Zimmer, er hatte ihr gerade die letzten Zeilen seines
+Gedichtes »Müdigkeit« erklärt. Die waren:
+</p>
+
+<div class="center">
+<div class="left dispinlblock">
+Der Abend steht vor meinem Fenster, grauer Mann!<br />
+Am besten ist wohl, wenn wir schlafen gehen –</div>
+</div>
+
+<p>
+Danach hatte er versucht, ihr die Bluse abzuziehen. Der
+Schulz war über den Schlag recht bestürzt. Er sagte, fast
+weinend, sie müsse gemerkt haben, daß er sie liebe. Außerdem
+sei er ihr Vetter. Sie sagte, das Öffnen der Bluse behage
+ihr nicht. Zudem habe er einen Knopf abgerissen. Er sagte,
+er halte das nicht mehr aus. Wenn man einen liebe, müsse man
+sich ihm hingeben. Er werde bei Kokotten Vergessen suchen.
+Sie wußte keine Antwort. Er dachte stöhnend: O, o. Sie saß
+betrübt neben ihm.
+</p>
+
+<p>
+In den nächsten Tagen ließ er sich nicht sehen. Als er
+wiederkam, war er bleich und grau. Die blutleeren roten
+Augen lagen tränend in schmierigen Schatten. Die Stimme
+hatte nur einen Singsangton, der klang maniriert
+melancholisch. Schulz sprach kläglich schwärmend von
+Verzweiflung, Hurerei, Zerrissensein. Daß er der
+Lebensfreude überdrüssig sei. Daß er seinen Tod bald
+eingeholt haben werde. Er vermied Zärtlichkeiten, aber er
+seufzte oft schmerzlich. Kokettierte theatralisch mit einer
+Sehnsucht nach dem Sterben. Führte die Freundin in
+leichenreiche Trauerspiele, in düstere Kinodramen, in ernste
+Konzerte in verdunkelten Sälen.
+</p>
+
+<p>
+Eine Woche war vielleicht vergangen. Eine Dame hatte
+gesungen. Die Hände der Zuhörer knallten laut und lange.
+Gottschalk Schulz faßte leidenschaftlich einige Finger Lisel
+Liblichleins, legte sie gütig auf einen Schenkel seiner
+Beine, sagte: »Ist es nicht eigenartig, wie der Gesang einer
+Dame einem an die Seele greift!« Dann fing er wieder an,
+bittend und weinerlich von Liebe und Hingebung zu reden.
+Lisel Liblichlein sagte, dies sei ihr langweilig oder
+ekelhaft. Aus Mitleid – und weil sie hinaufgehen wollte –
+erklärte sie schließlich in der Haustür, mit der Liebe sei
+sie einverstanden, wenn er auf die Hingebung verzichte.
+Schulz drückte sie glücklich an sich. Er stand noch lange
+träumend da. Er sang: »O Tränen. O Güte. O Gott. O
+Schönheit. O Liebe. O Liebe. O Liebe...« Er stürzte durch
+die Straßen. In dem Klößchen war er verschwunden.
+</p>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein aber saß in ihrem kleinen Zimmer
+unbeholfen lächelnd bei einem rötlichen Talglicht. Sie
+begriff diese Menschen der Stadt nicht, die schienen ihr
+seltsame, gefährliche Tiere. Sie fühlte sich verlassen und
+einsamer als früher. Sie dachte sehnsüchtig an die harmlose
+Heimat: an den luftigen Himmel, an die lächerlichen jungen
+Herren, an die Tennisturniere, an die wehmütigen
+Sonntagnachmittage... sie knöpfte die Strumpfhalter ab,
+legte das Leibchen auf einen Stuhl. Sie war trostlos.
+</p>
+
+<h4 class="center">II</h4>
+
+<p>
+In einem durchsichtigen Sommerabend war das leuchtende Café
+Klößchen. Stadthimmel aus dunkelblauer Seide, auf dem weißer
+Mond und viele kleine Sterne lagen, umhüllte es. In einem
+Hintergrund saß, lange Zeit, bevor er plötzlich starb,
+einsam und rauchend bei einem winzigen Tisch, auf dem etwas
+stand, der bucklige Dichter Kuno Kohn. Um andere Tische
+hockten Leute. Dazwischen bewegten sich Männer mit gelben
+und roten Schädeln; Weiber; Literaten; Schauspieler. Überall
+huschten schattige Kellner.
+</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn war ohne viel Gedanken. Er summte für sich: »Ein
+Nebel hat die Welt so weich zerstört.« – Da begrüßte ihn der
+Dichter Gottschalk Schulz, ein Jurist, der durch alle
+Examina, denen er sich unterzogen hatte, mühevoll gefallen
+war. Mit ihm kam ein schönes Fräulein. Die beiden setzten
+sich zu Kohn. Schulz und Kohn waren Mitarbeiter der von dem
+kleinen begeisterten Lutz Laus für die Hebung der
+Unsittlichkeit angefertigten Monatsschrift: »Der Dackel«.
+Schulz erzählte dem Kohn, daß der Dackel-Laus demnächst eine
+gottlose Religion auf neojuristischer Grundlage erfinden
+werde, zwecks Organisation eine konstituierende Versammlung
+in einem nahen Kintopp einberufen wolle. Kohn hörte
+kopfschüttelnd zu. Das schöne Fräulein aß Kuchen. Kohn sagte
+traurig: »Laus ist ein Großer und Rührender. Aber gläubig
+kann uns kein Jesus mehr machen. Wir sterben mit jedem Tage
+tiefer in den öden ewigen Tod ein. Wir sind hoffnungslos
+zerrüttet. Unser Leben wird ein sinnloses Schau-Spiel
+bleiben.« Das essende Fräulein sah mit fröhlichem,
+deutlichem Gesicht aus rotbraunen Augen verständnislos
+hinüber. Schulz war in trübselige Gedanken versunken. Das
+Fräulein sagte, auch ihr ganzes Leben sei das Schauspiel. So
+sinnlos könne sie dies nicht finden. In der Theaterschule,
+in der sie sich auf die Bühnenlaufbahn als sentimentale
+Liebhaberin vorbereite, werde Tüchtiges geleistet. Herr Kohn
+möge einmal hinkommen, um sich davon zu überzeugen. Kuno
+Kohn blickte das Fräulein eine Weile innig an. Er dachte:
+»Solch kleines dummes Fräulein...« Er ging aber bald weg.
+</p>
+
+<p>
+Draußen hielt ihn plötzlich der Lyriker Roland Rufus Müller
+erregt an einem Arm fest, er rief: »Haben Sie die Kritik
+eines gewissen Bruno Bibelbauer in der medizinischen
+Monatsschrift gelesen, in der behauptet wird, meine Paranoia
+bestehe darin, daß ich mir einbilde, Paralyse zu haben! Alle
+Menschen sehen mich merkwürdig an, ich bin berühmt. Mein
+Verleger gibt mir viel Vorschuß. Aber – ach, ich darf es
+nicht sagen – ich bin unheilbar.« Er lief schleunigst in ein
+besseres Weinrestaurant.
+</p>
+
+<p>
+Ein Pferd humpelte wie ein alter Mensch vor einem Wagen. Der
+bucklige Kohn lehnte lässig an einer katholischen Kirche,
+überlegte das Dasein. Er sagte sich: »Wie drollig ist
+dennoch das Dasein. Und da lehnt man nun; irgendwo;
+irgendwie; ohne Beziehung; ganz belanglos; könnte ebenso
+gut, ebenso schlecht weiterschreiten; irgendwohin. Das macht
+mich unglücklich.« – Vor ihm war ein kleiner lautloser
+Hurenhund stehengeblieben, hatte mit glimmenden Augen
+demütig zugehört.
+</p>
+
+<p>
+Eine feurige gläserne Brautkutsche hüpfte vorbei. Innen, in
+einer Ecke, sah er das bleiche geschlossene Gesicht eines
+Bräutigams. Eine leere Droschke kam, der Kohn ging
+hinterher. Er sagte leise: »Ein Sucher ohne Ziel... Ein
+Haltloser... Unbekannt mit allem... Man hat eine furchtbare
+Sehnsucht. O wüßte man wonach.«
+</p>
+
+<p>
+Die Straßen schimmerten schon weißlich, als er die Tür des
+Hauses, in dem er wohnte, öffnete. In seinem Zimmer sah er
+die Bilder von lauter gestorbenen Menschen, die an einer
+Wand befestigt waren, schweigsam und feierlich traurig an.
+Dann begann er, die Kleidungsstücke von dem Buckel zu
+nehmen. Als er nur noch mit Unterhosen, Hemd, Socken bedeckt
+war, sagte er murmelnd und seufzend: »Allmählich wird man
+wahnsinnig –«
+</p>
+
+<p>
+In dem Bett nahm das Denken ab. Ihm fielen für das
+Einschlafen die rotbraunen Fräuleinaugen aus dem Café
+Klößchen ein...
+</p>
+
+<p>
+Diese Augen leuchteten auch in den folgenden Tagen sonderbar
+oft in seinem Hirn. Das wunderte ihn. Erschreckte ihn. Sein
+Verhältnis zu Frauen war eigenartig. Im allgemeinen hatte er
+sogar einen Widerwillen gegen sie, es trieb ihn zu Knaben.
+Aber in gewissen Sommermonaten, wenn er zu innerst
+zerbrochen und unselig war, verliebte er sich häufig in ein
+junges kindhaftes Weib. Da er infolge seines Buckels zumeist
+abgewiesen, oft sogar verhöhnt wurde, war die Erinnerung an
+diese Frauen und Mädchen entsetzlich. Er nahm sich daher zu
+diesen Zeiten in acht. Ging zu Dirnen, wenn er Gefahr
+fühlte.
+</p>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein hatte ihn überrumpelt, ohne eine Ahnung
+davon zu haben. Vergeblich dachte er an die Qualen der
+Mißerfolge. Vergeblich stellte er sich vor, daß Lisel
+Liblichlein eins der vielen, zierlichen, in wundervolle
+Unwissenheit und glücksuchende Sehnsucht verwirrten
+Geschöpfe sei, die überall auf der Erde, einander sehr
+ähnlich, zu finden sind... In einem weichen Abend voller
+grünlichgelber Laternen, voller Regenschirme und
+Straßenschmutz stand ein kleiner buckliger Mensch ängstlich
+wartend neben dem Hausschild einer Theaterschule.
+</p>
+
+<h4 class="center">III</h4>
+
+<p>
+Manchmal kam ein Wind, ein giftiger heißer Hund. Wie zähes,
+glühendes Öl lag die Sonne auf den Häusern und auf den
+Straßen und auf den Leuten. Kleine geschlechtslose
+Menschlein mit schrägen Beinen hopsten sinnlos um den
+vergitterten Vorgarten des Café Klößchen. Innen prügelten
+sich Kuno Kohn und Gottschalk Schulz. Andere sahen zufällig
+zu. Lisel Liblichlein saß ernsthaft in einer Ecke.
+</p>
+
+<p>
+Die Veranlassung war gewesen: Herr Kohn hatte Fräulein
+Liblichlein mehrmals von der Theaterschule nach Hause
+begleitet. Als Schulz davon erfuhr, wurde er grundlos
+eifersüchtig. Er fing an, über den Kohn Schlechtes zu reden.
+Lisel Liblichlein, die den Vetter durchschaute, verteidigte
+den Buckligen. Darüber ärgerte sich der Schulz noch mehr. Er
+erklärte überzeugend, er werde sich erschießen. Das
+unterließ er, drohte aber, er werde auch sie erschießen. Da
+verbat sie sich seine Gesellschaft. – Lisel Liblichlein
+mußte einen Menschen haben, mit dem sie sich über ihre
+wichtig empfundenen Alltäglichkeiten aussprechen konnte. Sie
+wählte nach dem Zank mit Schulz aus irgendeinem ungeklärten
+Instinkt den Kohn. So kam es, daß sie ihn an dem Mittag des
+Prügeltages in das Klößchen bestellt hatte, um vielleicht
+über die Wahl eines Kleides oder über die Auffassung einer
+Rolle oder über ein kleines Geschehnis mit ihm zu beraten.
+Kohn war soeben gekommen, wollte sich gerade über die
+Wünsche des Fräulein informieren, als Gottschalk Schulz
+hineinfiel, mit rotgeschwollenem Gesicht vor ihm war, ihn
+einen gewissenlosen Mädchenverführer nannte. Kohn versuchte
+den Schulz von unten zu ohrfeigen. Dann schlug jeder wütend
+und schweigend auf den anderen. Das Schild des
+Abortpächters, auf dem vorher zu lesen war: »Mein Institut
+ist jetzt hier, Eingang dort« – lag zerschmettert auf dem
+Boden. Plötzlich stieß die Hand des Schulz wuchtig auf den
+Buckel Kohns. Die Hand hatte ein blutiges Loch, auch der
+Buckel war beschädigt. Schulz rief leichenbleich: »Der
+Buckel ist lebensgefährlich.« Danach ließ er sich von einem
+Oberkellner nach einer Unfallstation begleiten. Lisel
+Liblichlein würdigte er keines Blickes.
+</p>
+
+<p>
+Kohn achtete nicht sehr auf den geschundenen Buckel. Er
+setzte sich wieder zu Lisel Liblichlein an den Tisch,
+bestellte Tee mit Zitrone. Sie sah, wie immer deutlicher
+Blut durch seinen fadenscheinigen Gehrock sickerte. Sie
+machte ihn auf den blutenden Gehrock aufmerksam, er
+erschrak. Sie sagte, ob sie die Wunde verbinden solle – Er
+sagte bitter, einen Buckel anzufassen, werde ihr nicht
+angenehm sein. Sie sagte mitleidig errötend, ein Buckel sei
+menschlich – Sie sagte, er möge zu ihr kommen. Der Buckel
+müßte gesäubert und gekühlt werden. Dann wolle sie einen
+Verband machen. Er könne den Nachmittag bei ihr
+verbringen...
+</p>
+
+<p>
+Kohn ging freudig zögernd auf ihren Vorschlag ein. Sie saßen
+bis in die Nacht in der kleinen Stube Lisel Liblichleins.
+Unterhielten sich über Seele, Buckel, Liebe. –
+</p>
+
+<p>
+Schriftsteller Schulz war von diesem Tage an verschollen.
+Zuletzt hatte ihn ein Bekannter an dem Abend vor dem
+Schaufenster eines Schuhwarengeschäftes gesehen. Er soll
+jeden Stiefel einzeln trübsinnig betrachtet haben. »Heiße
+Helden« – eine Zeitschrift für romantische Decadence –
+erhielt bald danach einen Eilbrief, in dem Schulz mitteilte,
+daß er im Begriff sei, sich aus seelischen Gründen das Leben
+zu nehmen. Einige hielten diese Mitteilung für nicht mehr
+neue Reklame. Die meisten waren begeistert. Die Zeitungen
+brachten aufregende Notizen. Ein Schulz-Leichen-Suchefonds
+wurde gegründet. Ein Fabrikbesitzer stiftete einen
+gediegenen Sarkophag.
+</p>
+
+<p>
+Man durchforschte Wälder und Wiesen. Stocherte mit langen
+Stangen in allen Seen. Man fand keine Spur von Schulz.
+Wollte das Suchen schon aufgeben, als man ihn ganz entstellt
+in einem mittelmäßigen Hotel eines entlegenen Vorortes
+entdeckte. Er hatte sich an einem windigen Teich eine
+schwere Influenza zugezogen, die ihn wochenlang an ein Bett
+fesselte. Man traf ihn auf der knarrenden Hoteltreppe, wie
+er, in viele Decken und Tücher gehüllt, noch einmal seine
+Selbstmordabsichten versuchsweise verwirklichen wollte.
+Unschwer brachte man ihn davon ab, führte ihn triumphierend
+in die Stadt zurück. Der Sarkophag wurde versetzt. Aus dem
+Erlös und von dem Rest des Schulz-Leichen-Suchefonds wurde
+ein Bohemefest veranstaltet – – –
+</p>
+
+<p>
+Gottschalk Schulz selbst thronte als Faust weltschmerzlich
+in einem Winkel. Der begabte Doktor Berthold Bryller
+erschien als: Einer der Literaten, die fett werden. Lutz
+Laus verhielt sich in päpstlichem Ornat. Der Gymnasiast
+Spinoza Spaß – der Klößchenclown – hatte ein Siegfriedkostüm
+um den Leib gehängt, sich einen Goethekopf frisiert. Der
+Lyriker Müller lag bald als grüne betrunkene Leiche. Kuno
+Kohn, der sich mit Schulz formell wieder ausgesöhnt hatte,
+kam, wie er war. Mit ihm auch Lisel Liblichlein, sie trug
+ein ländliches Kleid. Die anderen liefen als Chinesen,
+Schimpansen, Götter, Nachtwächter, Leute von Welt
+quietschend und quer durcheinander. Das ganze Klößchen war
+vorhanden.
+</p>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein tanzte in dieser bunten, kreischenden
+Nacht nur mit dem buckligen Dichter. Manche sahen dem
+seltsamen Paar zu, aber es ließ sich nicht lachen. Der
+Buckel Kohns stieß hart und rücksichtslos wie eine
+Tischkante gegen die weichen anderen. Es schien, als wäre
+ihm eine Lust, immer wieder den Buckel in einen Tanzenden zu
+stechen. Niemals versäumte er, mit Fistelstimme, unverschämt
+höflich, »pardon« zu sagen, wenn ein verrücktes Weib
+hochschrie oder einer aus Seligkeit »verflucht...« knurrte.
+Lisel Liblichlein hielt den Dichter mit der einen Hand unten
+an dem Buckel wie an einem Henkel, mit der anderen Hand
+preßte sie den eckigen Kopf Kohns sanft in ihre Brust. So
+tanzten sie durch viele besessene Stunden.
+
+Kohns Buckel wurde immer schmerzhafter für die anderen
+Tänzer. Man wagte Empörung zu äußern. Die Festleitung teilte
+dem Kohn mit, daß er ersucht werde, das Tanzen einzustellen.
+Mit einem derartigen Buckel dürfe man nicht tanzen. Kohn
+widersprach nicht. Lisel Liblichlein sah, daß sein Gesicht
+grau wurde.
+</p>
+
+<p>
+Sie führte ihn in eine versteckte Nische. Da sagte sie: »Von
+nun an sage ich ‚du‘ zu dir.» Kuno Kohn antwortete nicht,
+aber er empfing ihre mitleidende Seele wie ein Geschenk in
+seine wasserblauen Troubadouraugen. Sie sagte zitternd, daß
+sie ihn mit einem mal so lieb habe, sei ihr
+unverständlich... Sie wolle seine arme Hand niemals mehr
+loslassen... Sie habe nicht gewußt, daß man so maßlos
+glücklich sein könne... Kuno Kohn lud sie ein, ihn an dem
+nächsten Abend zu besuchen. Sie sagte gern zu.
+</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn und Lisel Liblichlein waren wohl die ersten, die
+das taumelnde Fest verließen. Sie gingen flüsternd in den
+himmelhellen, von Mondlicht leuchtenden Straßen. Der
+verliebte Dichter warf abenteuerliche Schatten mit riesigen
+Höckern auf das Pflaster.
+</p>
+
+<p>
+Bei dem Abschied senkte Lisel Liblichlein den Kopf zu Kohn
+nieder. Sie küßte mehrmals seinen Mund. So trennten sich
+Kuno Kohn und Lisel Liblichlein... Er sagte, er freue sich,
+daß sie ihn an dem nächsten Abend besuchen werde. Sie sagte
+ganz leise: »Ich... ach... auch...«
+</p>
+
+<p>
+Die Häuser standen wohlgeordnet wie Bücher in Regalen auf
+den gepflegten Straßen. Der Mond hatte hellblauen Staub auf
+sie geschüttet. Wenige Fenster waren wach, die funkelten
+friedlich wie einsame Menschenaugen, hatten immer denselben
+goldfarbenen Blick. Kuno Kohn ging nachdenklich heim. Der
+Körper war gefährlich nach vorn geneigt. Die Hände lagen
+fest auf dem Ende des Rückens. Der Kopf war weit
+heruntergefallen. Zu oberst ragte der Buckel, ein
+abenteuerlicher spitzer Stein. Kuno Kohn war in dieser
+Stunde kein Mensch mehr, er hatte seine eigene Form.
+</p>
+
+<p>
+Er dachte: »Ich will vermeiden, glücklich zu werden. Das
+bedeutete: Die Sehnsucht über alle Erfüllung hinaus, die
+mein köstlichster Inhalt ist, aufgeben. Den heiligen Buckel,
+mit dem ein freundliches Geschick mich geweiht hat, durch
+den ich das Dasein viel, viel tiefer, unseliger, herrlicher
+gespürt habe, als die Menschen es spüren, zu einer lästigen
+Äußerlichkeit degradieren. – Ich will aus Lisel Liblichlein
+ihr höheres Wesen herausbilden. Ich will sie heillos
+unglücklich machen...«
+</p>
+
+<p>
+Während der Dichter Kohn dies dachte, erstach sich der
+Dichter Schulz endgültig mit einem Salatmesser. Er hatte
+Kuno Kohn und Lisel Liblichlein bei ihrer vertrauten
+Unterhaltung in der Nische beobachtet. Hatte gesehen, wie
+sie zusammen weggingen. Er bemühte sich, seinen Jammer zu
+besaufen und zu befressen, es half nicht. Nachdem er einige
+Stunden gegessen und getrunken hatte, war er geisteskrank.
+Er sang: »Der Tod ist eine ernsthafte Angelegenheit... Der
+Tod läßt nicht mit sich spaßen... Der Tod ist ein dringendes
+Bedürfnis...« Dann pikte er sich zaghaft und zögernd das
+erste beste Messer in die linke Brust. Blut und blutige
+Salatreste spritzten umher. Diesmal war der
+Selbstmordversuch von Erfolg gekrönt.
+</p>
+
+<h4 class="center">IV</h4>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein erschien an dem nächsten Abend früher als
+verabredet war. Kuno Kohn öffnete die Tür, Blumen in der
+Hand haltend. Er freute sich sichtbar, er sagte, er habe
+kaum gehofft, daß sie kommen werde. Sie legte die Arme um
+seinen knochigen Körper, preßte ihn an ihren Leib mit
+saugendem Druck, sagte: »Du buckelliebes Dummchen... ich hab
+dich doch gern –«
+</p>
+
+<p>
+Einige einfache Abendgerichte wurden gegessen. Sie
+streichelte ihn, wenn ihr etwas gut schmeckte. Sie sagte,
+sie wolle bis nach Mitternacht bei ihm bleiben. Dann könnte
+sie mit ihm den Beginn ihres achtzehnten Geburtstages
+feiern...
+</p>
+
+<p>
+Aus einer Kirchenuhr kam der neue Tag. Die ersten lauten
+Atemzüge drangen wie gestöhnte Gebete in das verhangene
+Kohnsche Zimmer. Da war Lisel Liblichleins junger
+Seelenkörper ein Tempel geworden, sie hatte sich dem
+buckligen Priester mit rührender Selbstverständlichkeit
+unter Schmerzen geopfert. Hatte gesagt: »Bist du jetzt froh
+–« Lag aufgelöst in Traum und Ergriffenheit. Die dünne Haut
+der Lider hüllte sie ein.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich rannte ein Entsetzen über den Körper. Hatte sie
+den Schrecken in dem Gesicht wie Krallen. Waren aufgerissene
+schreiende Augen über dem Buckligen. Sagte Lisel Liblichlein
+tonlos: »Dies – war – das Glück – – –« Kuno Kohn weinte.
+</p>
+
+<p>
+Sie sagte: »Kuno, Kuno, Kuno, Kuno, Kuno, Kuno... Was fange
+ich mit dem übrigen Leben an?« Kuno Kohn seufzte. Er sah
+ernst und gütig in ihre elenden Augen. Er sagte: »Armes
+Lisel! Das Gefühl der vollkommenen Hilflosigkeit, daß dich
+überfallen hat, habe ich häufig. Der einzige Trost ist:
+traurig sein. Wenn die Traurigkeit in Verzweiflung ausartet,
+soll man grotesk werden. Man soll spaßeshalber weiterleben.
+Soll versuchen, in der Erkenntnis, daß das Dasein aus lauter
+brutalen hundsgemeinen Scherzen besteht, Erhebung zu
+finden.« – Er wischte Schweiß von Buckel und Stirn.
+</p>
+
+<p>
+Lisel Liblichlein sagte: »Warum du eine lange Rede hältst,
+weiß ich nicht. Was du gesagt hast, verstehe ich nicht. Daß
+du mir das Glück genommen hast, war lieblos, Kohn.« – Die
+Worte fielen wie Papier.
+</p>
+
+<p>
+Sie sagte, sie wolle gehen. Er möge sich ankleiden. Der
+nackte Buckel sei ihr peinlich...
+</p>
+
+<p>
+Kuno Kohn und Lisel Liblichlein sprachen kein Wort mehr, bis
+sie sich vor der Tür des Hauses, in dem das Pensionat war,
+für immer trennten. Er sah in ihr Gesicht, hielt ihre Hand,
+sagte: »Lebe wohl –« Sie sagte leise: »Lebe wohl –«
+</p>
+
+<p>
+Kohn duckte sich in seinen Buckel. Lief niedergebrochen
+davon. Tränen verschmierten das Gesicht. Er fühlte die
+nachschauenden betrübten Blicke auf seinem Rücken. Da rannte
+er um die nächste Häuserecke. Er blieb stehen, trocknete die
+Augen mit einem Tuch, eilte weinend weiter.
+</p>
+
+<p>
+Wie Krankheit kroch schleimiger Nebel in der erblindenden
+Stadt. Laternen waren düstere Sumpfblumen, die auf
+schwärzlich glimmenden Stielen flackerten. Dinge und Wesen
+hatten nur fröstelnden Schatten und verwischte Bewegung. Wie
+ein Ungetüm torkelte ein Nachtomnibus an Kohn vorüber. Der
+Dichter rief: »Jetzt ist man wieder ganz einsam.« – Da
+begegnete ihm eine große Bucklige mit langen Spinnenbeinen
+in gespenstig durchscheinendem Rock. Der Oberkörper glich
+einer Kugel, die auf einem hohen Tischchen liegt. Sie sah
+ihn mitleidig lockend an, mit verliebtem Lächeln, das durch
+den Nebel zu einer tollen Grimasse gezerrt wurde. Kohn war
+sogleich in dem Grau verschwunden. Sie ächzte, dann trug sie
+sich weiter.
+</p>
+
+<p>
+Lahmer Tag hinkte heran. Zertrümmerte mit eiserner Krücke
+die Reste der Nacht. Das halb ausgelöschte Café Klößchen lag
+in dem lautlosen Morgen, eine glänzende Scherbe. In einem
+Hintergrund saß der letzte Gast. Kuno Kohn hatte den Kopf in
+den bebenden Buckel gesenkt. Die dürren Finger einer Hand
+bedeckten Stirn und Gesicht. Der ganze Körper schrie
+lautlos.
+</p>
+
+</div>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Zwei Bruchstücke aus der ersten Fassung der Geschichte: Café Klößchen</title>
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+<div class="prose">
+
+ <h3 class="center">Zwei Bruchstücke aus der ersten Fassung der Geschichte:<br />Café Klößchen</h3>
+
+ <h4 id="prim" class="center">I</h4>
+
+ <span class="center dispblock">Im Café Klößchen</span>
+
+<p>
+In der Nähe Kohns sprachen im Kreis wenig bekannte Kritiker,
+Maler, Dichter und ein paar. Zumeist Mitarbeiter der neuen
+Zeitschrift: »Das andere A« und der unregelmäßig von dem
+kleinen begeisterten Lutz Laus für die Hebung der
+Unsittlichkeit angefertigten Monatsschrift: »Der Dackel«.
+Bei ihnen saß ein schönes fressendes Fräulein.
+</p>
+
+<p>
+Man stritt sich gerade um den literarischen Unwert des Herrn
+Kohn. Der Dichter Gottschalk Schulz, ein Jurist, erklärte,
+ihm sei unbegreiflich, daß Herr Doktor Bryller den Kohn
+lobe. Kohn schildere alles anders. Kohn sei ein Lügner. Kohn
+sei grotesk. – Der begabte Doktor Berthold Bryller sagte
+darauf: »Grotesk sein, sei kein Nachteil. Groteske sei
+immerhin eine Brücke zu einem Weg.« Und ein
+Witzblattredakteur, der eigentlich nicht hierher gehörte,
+schrie schüchtern: »Auch ich schätze alles, was grotesk und
+originell ist und über den stumpfsinnigen deutschen
+Tintensumpf hinausstrebt.« – Aber Lutz Laus rief: »Ich
+schätze gar nichts. Ich teile diese Knaben ein in Burschen,
+welche schreiben, weil ihnen nichts einfällt, und in
+Gesindel, welches schmiert, weil ihm so zumute ist.« –
+Spinoza Spaß, ein Gymnasiast, der dämlich an einem Stuhle
+hing, freute sich langsam. Er blickte boshaft zu dem
+einsamen Kohn. Und sagte, weiches Gemüt und heimatlichen
+Akzent durch Berlinern etwas verbergend: »Nehmen Se jrotesk,
+det hebt Ihnen.« – Alle lachten.
+</p>
+
+<p>
+Kohn sah das Fräulein eine Weile innig an, zu den anderen
+schmiß er nur verächtliche Blicke. Er stand bald auf und
+ging weg.
+</p>
+
+<h4 id="sec" class="center">II</h4>
+
+<span class="center dispblock">Der Dackel-Laus</span>
+
+<p>
+An einem weichen Abend voller grünlichgelber Laternen,
+voller Regenschirme und Straßenschmutz erregte der
+Dackel-Laus gewaltiges Aufsehen in dem Café Klößchen. Er
+ließ Zettel verteilen, auf denen für eine neue, von ihm
+erfundene gottlose Religion auf neojuristischer Grundlage
+Propaganda gemacht wurde. Ferner war für den nächsten Abend
+eine konstituierende Versammlung in einen nahen Kintopp
+einberufen.
+</p>
+
+<p>
+Das ganze Café Klößchen erschien. Sogar Kuno Kohn, der
+eigentlich der Klößchenclique nicht angehörte, mit den
+meisten Literaten dieser Gruppe verfeindet war, kam in den
+Kintopp. Gottschalk Schulz rief leise: »Das ist ein
+ekelhafter Kerl. Das ist ein sogenannter grotesker Kohn.«
+Lisel Liblichlein sagte: »Wer –« Schulz sagte: »Der kleine
+Bucklige, der dort kommt.« Sie sah den Buckligen. Und sagte:
+»Ach –« R. R. Müller, der neben ihr saß, flüsterte ihr
+vertraulich zu: »Dieser Kohn ist gefährlich.« Sie sagte:
+»Wieso –«
+</p>
+
+<p>
+Da sang eine Dame. Als die Dame nicht mehr sang, faßte
+Gottschalk Schulz die Hand des Fräulein Liblichlein. Auch
+den anderen war infolge des Gesanges feierlich zumute.
+Einige hatten Tränen in den Augen.
+</p>
+
+<p>
+Nun trat Lutz Laus selbst auf einen Stuhl. Er war ganz
+schwarz gekleidet, aber das Gesicht war purpurrot, und die
+Hände steckten in giftgrünen Lappen. Die Pupillen glänzten
+wie gelbes Glas. Es war unsagbar still. Und er verkündete
+seine Religion. Er sagte, diese Religion sei die Religion
+der gehobenen Pessimisten. Diese Religion habe keinen Gott,
+aber einen Papst. Der Papst sei er. Zugleich mache er die
+Mitteilung, daß er in Anlehnung an die katholische Kirche
+das Dogma von der Lausischen Unfehlbarkeit festzustellen
+bitte. Und er verriet, daß er in kurzer Zeit in einem
+Bürgerlichen Gebetbuch (Laus: BGB.) in 2385 Aphorismen die
+grundlegenden Sätze seiner Religion zusammenstellen werde. –
+</p>
+
+<p>
+Nach der Versammlung ging man haufenweise in das Café
+Klößchen.
+</p>
+
+</div>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Die Jungfrau</title>
+</head>
+<body>
+
+<div class="prose">
+
+ <h3 class="center">Die Jungfrau</h3>
+
+<p>
+Maria Mondmilch war das einzige Kind des Kunsthistorikers
+Doktor Maximilian Mondmilch und der schönen Frau Marga
+Mondmilch. Frau Mondmilch soll früher Wassermädchen in dem
+Kaffeehaus gewesen sein, in welchem Herr Mondmilch – der
+damals Student war – Tee trank und Zeitungen las und
+rauchte. Nach der Geburt des Kindes hatte sie den Ehegatten
+heimlich verlassen, um vermutlich mit einem Sektkellner
+einige Wochen zu verbringen. Danach trieb sie sich – häufig
+abwechselnd – mit sehr verschiedenen Männern sehr
+verschiedener Gesellschaftsklassen herum. Sie kam erst
+zurück, als sie erfuhr, daß der unheilbare Doktor in eine
+Anstalt für Gehirnkranke gebracht worden sei. Sie pflegte
+den todkranken Menschen sorgfältig bis zu seinem nahen Ende.
+Sodann verheiratete sie sich mit einem herrschaftlichen
+Kutscher, der sie abgöttisch liebte.
+</p>
+
+<p>
+Die Krankheit des Doktor Mondmilch war erst erkannt worden,
+als er ein mit schlimmen Strafen bedrohtes Verbrechen an der
+achtjährigen Tochter verüben wollte. Glücklicherweise konnte
+die Untat in dem letzten Augenblick verhindert werden. Das
+in dem Herzen und in dem Hirn erschreckte Kind wurde – dem
+Bruder des Verrückten – dem Exzellenz Moriz von Mondmilch,
+einem erstklassigen Verwaltungsbeamten, in Pflege gegeben.
+Das letzte Wort des sterbenden Kunsthistorikers war:
+»Maria.«
+</p>
+
+<p>
+Zwischen dem Onkel und der Nichte entwickelte sich eine
+sonderbare Zuneigung. Nichts geschah, was den Gesetzen
+widersprochen hätte. Die Leidenschaft zwischen dem Kind und
+dem alten Mann erregte die Eifersucht der alten Frau Minna
+von Mondmilch. Durch die zu lästig gewordenen ehelichen
+Zwistigkeiten fühlte sich der verärgerte Beamte einige Jahre
+darauf genötigt, in eine Trennung von dem Pflegekind
+einzuwilligen. Er mußte auch auf die ältlich gewordenen
+Töchter Rücksicht nehmen. Der Abschied war schwer. Exzellenz
+Moriz von Mondmilch fiel in Weinkrämpfe.
+</p>
+
+<p>
+Maria Mondmilch kam in eine große Stadt. Man zahlte den
+fremden Leuten, bei denen sie eingemietet worden war,
+monatlich viel Geld. Sonst kümmerte man sich nicht um Maria
+Mondmilch. Mit dem edlen Onkel wechselte sie geheime Briefe
+voll ausschweifender Liebessehnsucht und abenteuerlicher
+Hoffnungen. Das Bewußtsein, ständig Gefährliches verbergen
+zu müssen, gab ihr etwas Feierliches und eine unerklärliche
+Überlegenheit. Die Briefe des Onkels bewahrte Maria
+Mondmilch unter besonders sakralen Formalitäten auf. Ein
+Teil der Briefe kam abhanden und wurde das Beweismaterial
+für den berühmten Scheidungsprozeß, der das ganze Land
+erregte.
+</p>
+
+<p>
+Maria Mondmilch war in der großen Stadt Schülerin eines
+Mädchengymnasiums. Sie gehörte nicht zu den besten.
+Zeitweise arbeitete sie fleißig. Man beschuldigte sie,
+allerhand Schweinereien – die vorkamen – angestiftet zu
+haben. Als bekannt wurde, daß der Leiter der Anstalt ihr
+abends in einer argen Straße begegnet war, erwartete man
+ihre Relegierung. In der Verhandlung gegen einen
+Literaturprofessor des Gymnasiums, der, trotzdem er dringend
+verdächtigt war, etliche Sittlichkeitsverbrechen begangen zu
+haben, freigesprochen werden mußte, war sie die wichtigste
+Zeugin.
+</p>
+
+<p>
+Das junge Mädchen weilte in der Nacht am liebsten in den
+berüchtigten Vierteln. Maria Mondmilch ließ sich von allem
+möglichen Gesindel ansprechen, den meisten Männern entlief
+sie wieder. Sie war noch nicht fünfzehn Jahre alt, als sie
+sich von einem Händler, dessen Bekanntschaft sie in einem
+schmutzigen Abend in einer üblen Gasse auf einer Brücke
+unter einer halb verfallenen altertümlichen Petroleumlaterne
+gemacht hatte, in unanständigen Stellungen nackt
+photographieren ließ. Als Sechzehnjährige verlebte sie die
+Weihnachtsferien mit einem bildschönen, aber wildfremden
+Elektrotechniker – namens Hans Hampelmann – in einem
+verrufenen Hotel anscheinend wie Frau und Mann. Daß sie nach
+Absolvierung des Gymnasiums sich entschloß, Medizin zu
+studieren, ist unschwer aus erotischen Bedürfnissen zu
+erklären.
+</p>
+
+<p>
+Der hungrige Schauspieler Schwertschwanz – ein intelligent
+und verludert aussehender Mensch, der nach billiger
+Schokolade stank – lief planlos sehnsüchtig die abendlich
+funkelnden und lärmenden Straßen der Stadt entlang, in
+welcher Maria Mondmilch Medizin studierte. Er begegnete ihr,
+als sie aus einer Vorlesung über Geschlechts- und
+Männerleiden traurig zurückkam. Zum Spaß – ziemlich – sprach
+er sie an. Gemeinsam gingen die beiden in eine Kneipe
+niederer Sorte.
+</p>
+
+<p>
+Der Schauspieler Schwertschwanz hatte, bevor er die
+Studentin ansprach, überlegt, was seine langjährige
+Verzweiflung augenblicklich am ehesten begründen könne: die
+schließliche Unwichtigkeit alles Geschehens oder nur das
+Malheur, daß bedeutende Männer oftmals aus Mangel an
+entsprechender Nahrung und Medizin krepieren müssen... Die
+Unzulänglichkeit der Frauen... Die Unheilbarkeit der
+Rückenmarkschwindsucht, deren Anzeichen er an sich zu
+bemerken glaubte... Als Maria Mondmilch ihren Beruf nannte,
+leuchtete er auf. Man sprach über Syphilis und die Folgen.
+Fräulein Mondmilch erzählte entsetzliche Fälle. Herr
+Schwertschwanz hörte erschrocken und begeistert zu. Er war
+entzückt, als sie – kokett betonend, daß sie leider nur
+wissenschaftliche Beziehungen zu Männern unterhalten könne –
+wie unabsichtlich bis über das Knie ein gut geformtes,
+herbes Bein sehen ließ, das in einem aufregend gemeinen,
+halbseidenen Strumpf befestigt war.
+</p>
+
+<p>
+Die Studentin erwiederte merklich die Sympathie des
+Schauspielers. Sein heruntergekommenes Aussehen flößte ihr
+Zutrauen ein. Seine – auf sie eingestellten – von Schminke
+und Hoffnungslosigkeit, von unmäßigen Hurereien oder Onanien
+ringsum zerrissenen und inwendig fast verfaulten
+treuherzigen blauen Augen griffen ihr an die Seele. Sein aus
+Blasiertheit und unverschämter Zudringlichkeit gemischtes
+Wesen regte sie sehr auf. Mitten durch Gekreisch und Kellner
+und Bierbänke und Ausdünstungen, in dem gelbsüchtigen
+Gaslicht, mußte sie schwärmerisch ausrufen: »Einen Menschen
+wie Sie, Herr Schwertschwanz, habe ich bisher nicht
+kennengelernt.« – Er faßte sie beglückt an. Während draußen
+ein Trupp Soldaten im Vorbeimarschieren das bekannte
+Volkslied pfiff: Mariechen, du süßes Viehchen... und so
+weiter.
+</p>
+
+<p>
+Ohne laute Verabredung hatten die Verliebten Arm in Arm die
+Richtung auf die Bude der Studentin gewählt, als sie die
+gröhlende Kneipe verließen. Oben legte sich Maria Mondmilch
+mit übereinandergeschlagenen Beinen auf ein Schlafsofa in
+der Nähe des Bücherschrankes. Der Schauspieler versank in
+einen weichen Sessel, neben dem ein kleiner Tisch mit einer
+zierlichen Flasche Kognak stand. Die Unterhaltung war nicht
+einfach. Sie wollten einander ihre Leiden von klein auf
+entgegenschluchzen. Sie wollten einander fressen, so gierig
+wurden sie mit der Zeit. Etwas war dazwischen. Der
+Schauspieler trank den Kognak. Die Studentin spielte nervös
+mit den Händen und den Füßen.
+</p>
+
+<p>
+Der Schauspieler konnte die Qual nicht mehr aushalten. Er
+schrie leise – das war, als wurde etwas zerschlagen: »Ich
+will offen sein. Ich bin ein Syphilitiker« – – Einige Tränen
+kullerten herunter. Er erschrak, wie wenig ernst ihm war.
+Die Studentin hielt die Hände vor das Gesicht. Theatralisch
+wie er. Aber unbewußt.
+</p>
+
+<p>
+Er hatte sich nicht verrechnet. Ihre erotische Aufgeregtheit
+überstieg die Grenzen. Sie wand sich auf ihrem Schlafsofa.
+Sie hielt ihm eine Hand hin. Sie flüsterte: »Armer Mann,
+kommen Sie.« – Er ergriff die Hand nicht. Die Augen in dem
+unglücklichen entsagenden Gesicht, dessen Wirkungen er schon
+bei vielen hysterischen Frauen erprobt hatte,
+niedergeschlagen, sagte er: »Sie wissen am besten, daß die
+Berührungen mit mir eventuell Sie selbst luetisch machen
+könnten, obwohl in den letzten Jahren die Wassermannsche
+Reaktion immer negativ war.« – Da sagte sie heroisch:
+»Offenheit gegen Offenheit. Ich bin Jungfrau.«
+</p>
+
+<p>
+Instinktiv hatte sie sich gerächt. Seiner überreizten Sinne
+war er nicht mehr mächtig. Wie eine Katze sprang er auf das
+Mädchen mitten in dem Schlafsofa. Nun wehrte sie sich. Mit
+ängstlichen Augen bereit, sich ihm zu geben.
+</p>
+
+<p>
+Bei dem Ringen sang die Studentin dem Schauspieler ihr
+Werbelied: »Maria Mondmilch bin ich, das Mädchen, die
+Jungfrau. Öffne mir deine Tore. Du, ich probierte viel
+Männerfleisch von außen, Greise und Jünglinge. Alle lockte
+ich. In allen suchte ich meinen Mann. Niemand drang tiefer
+als meine Haut in mich... Ich schlich in den Tagen. Rannte
+in den Nächten. Ich schlief in einem Bett mit Musikern und
+Aristokraten. Mit Kaufleuten und Zuhältern und Studenten war
+ich zusammen. Mit Kunstradfahrern und Rechtsanwälten trieb
+ich mich herum. Ich ließ keinen Mann vorüber, dem ich nicht
+in die Augen sah. Ob es regnete. Oder ob Winter war. Oder ob
+die Sonne schien... Niemand durfte mich seine Frau nennen.
+Niemand war mein Mann. Einer hat sich erschossen. Einer ist
+in einen Sumpf gesprungen. Ich bin unschuldig... Einer ist
+blödsinnig geworden. Einer hat mir einen Fußtritt gegeben.
+Die meisten sind weggegangen, als wäre nichts vorgefallen.
+Nichts ist vorgefallen... Du, blauäugiges Leidensgesicht
+unter mir, ach, wärst du mein Mann, daß ich in dir blühe.
+Bist du mein Mann, in den ich selig sinke – –«
+</p>
+
+<p>
+Und der Schauspieler sang der Studentin bei dem Ringen: »Ich
+bin der Schauspieler Schwertschwanz, der Mann, der Wüstling.
+In allen Leibern, die ich soff, suchte ich dich. Ich bin
+Trinker geworden. Aus Sehnsucht. Mein Blut habe ich aus
+Liebe vergiftet. Wie gleichgültig wäre das, wenn ich –
+halbtot – dich jetzt fände. Ich habe dich zu viel gesucht,
+um dich noch zu finden –«
+</p>
+
+<p>
+Da rief Maria Mondmilch in dem Untergehen:
+»Schwertschwänzchen, liebst du mich –« Und schon ertrunken:
+»Er liebt mich nicht.« –
+</p>
+
+<p>
+Der Mann fiel verzweifelt faul zurück. Die Studentin spuckte
+ihm an den Kragen. Stülpte dem Willenlosen den Hut auf den
+Kopf. Drückte ein Goldstück in seine Hand. Warf ihn hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Während der Schauspieler Schwertschwanz sich unterwegs, vor
+Begierde zitternd, eine geeignete Hure suchte, saß Maria
+Mondmilch über einem dicken anatomischen Lehrbuch. Sah sich
+die Konstruktion eines splitternackten Mannes an. Und heulte
+wie ein Hund am Meer.
+</p>
+
+</div>
+
+</body>
+</html>
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+ <title>Gespräch über Beine</title>
+</head>
+<body>
+
+<div class="prose">
+
+ <h3 class="center">Gespräch über Beine</h3>
+
+ <h4 class="center">I</h4>
+
+<p>
+Als ich im Coupé saß, sagte der Herr gegenüber:<br />
+»Ihnen kann man die Beine nicht abtreten.«<br />
+Ich sagte: »Wieso?«<br />
+Der Herr sagte: »Sie haben keine Beine.«<br />
+Ich sagte: »Merkt man das?«<br />
+Der Herr sagte: »Natürlich.«<br />
+Ich nahm meine Beine aus dem Rucksack. Ich hatte sie in
+Seidenpapier eingewickelt. Und als Andenken mitgenommen.<br />
+Der Herr sagte: »Was ist das?«<br />
+Ich sagte: »Meine Beine.«<br />
+Der Herr sagte: »Sie nehmen die Beine in die Hand und kommen
+dennoch nicht weiter.«<br />
+Ich sagte: »Leider.«<br />
+Nach einer Pause sagte der Herr: »Was gedenken Sie ohne
+Beine eigentlich zu tun?«<br />
+Ich sagte: »Darüber habe ich mir den Kopf noch nicht
+zerbrochen.«<br />
+Der Herr sagte: »Ohne Beine können Sie nicht einmal ohne
+Schwierigkeit Selbstmord begehen.«<br />
+Ich sagte: »Das ist aber ein fauler Witz.«<br />
+Der Herr sagte: »Nicht doch. Wenn Sie sich erhängen wollen,
+müßte Sie einer erst auf das Fensterbrett heben. Und wer
+wird Ihnen den Gashahn öffnen, wenn Sie sich vergiften
+wollen? Den Revolver könnten Sie sich nur heimlich durch
+einen Dienstmann besorgen lassen. Wie aber, wenn Ihnen der
+Schuß davonläuft? Um sich zu ertränken, müßten Sie ein Auto
+nehmen und sich auf einer Tragbahre von zwei Pflegern in den
+Fluß schleppen lassen, der Sie an das jenseitige Ufer
+befördern soll.«<br />
+Ich sagte: »Das ist doch wohl meine Sorge.«<br />
+Der Herr sagte: »Sie irren, ich überlege, seitdem Sie da
+sind, wie man Sie aus dieser Welt schaffen könnte. Meinen
+Sie, ein Mensch ohne Beine sei ein sympathischer Anblick?
+Habe auch Existenzberechtigung? Im Gegenteil, Sie stören das
+ästhetische Gefühl Ihrer Mitmenschen erheblich.«<br />
+Ich sagte: »Ich bin ordentlicher Professor für Ethik und
+Ästhetik an der Universität. Darf ich mich vorstellen?«<br />
+Der Herr sagte: »Wie wollen Sie das machen? Sie können sich
+selbstverständlich nicht vorstellen, wie unmöglich Sie
+sind.«<br />
+Ich betrachtete melancholisch meine Stummel.
+</p>
+
+<h4 class="center">II</h4>
+
+<p>
+Alsbald sagte die Dame gegenüber:<br />
+»Keine Beine haben muß ein komisches Gefühl sein.«<br />
+Ich sagte: »Ja.«<br />
+Die Dame sagte: »Ich möchte einen Mann, der keine Beine hat,
+nicht anfassen.«<br />
+Ich sagte: »Ich bin sehr sauber.«<br />
+Die Dame sagte: »Ich muß einen großen erotischen Abscheu
+überwinden, um mit Ihnen zu reden, geschweige denn Sie
+anzusehen.«<br />
+Ich sagte: »Nanu.«<br />
+Die Dame sagte: »Ich glaube nicht, daß Sie ein Verbrecher
+sind. Sie mögen ein kluger und ursprünglich liebenswerter
+Mensch sein. Aber ich könnte mit Ihnen wegen der Ihnen
+fehlenden Beine beim besten Willen nicht verkehren.«<br />
+Ich sagte: »Man gewöhnt sich an alles.«<br />
+Die Dame sagte: »Daß einer keine Beine hat, verursacht bei
+dem natürlich empfindenden Weibe ein unerklärliches Gefühl
+tiefsten Grauens. Als ob Sie eine ekelhafte Sünde begangen
+hätten.«<br />
+Ich sagte: »Ich bin aber unschuldig. Das eine Bein kam mir
+in der Aufregung abhanden, als ich zum ersten Mal meinen
+Professorenstuhl einnahm, das zweite habe ich verloren, als
+ich, in Gedanken versunken, jenes wichtige ästhetische
+Gesetz fand, das zu grundlegenden Änderungen in unserer
+Disziplin führte.«<br />
+Die Dame sagte: »Wie heißt dieses Gesetz?«<br />
+Ich sagte: »Das Gesetz heißt: Es kommt nur auf die Struktur
+der Seele und des Geistes an. Wenn Seele und Geist edel ist,
+muß man einen Körper schön finden, mag er äußerlich noch so
+bucklig und entstellt sein.«<br />
+Die Dame hob ostentativ ihr Kleid und zeigte dadurch bis an
+den oberen Rand der Oberschenkel wunderschöne, in allerhand
+Seide gehüllte, Beine, die wie blühende Zweige aus dem
+saftigen Leibe ragten.<br />
+Unterdessen sagte die Dame endgültig: »Sie mögen recht
+haben, obwohl man ebensogut das Gegenteil behaupten könnte.
+Jedenfalls ist ein Mensch mit Beinen etwas erheblich anderes
+als einer ohne.«<br />
+Damit ließ sie mich sitzen, stolz davonschreitend.
+</p>
+
+</div>
+
+</body>
+</html>