Franz Hessel - Spazieren in Berlin
2024-11-27 – Patrick Goltzsch
Veröffentlicht im Jahr 1929 könnte »Spazieren in Berlin« als nette historische Randnotiz gelten, die die Sicht heutiger Flaneure auf die Stadt ausschmücken kann. Doch das Buch verdankt sich nicht der Absicht einen Reiseführer für Spaziergänger vorzulegen. Stattdessen streicht hier die Neugier durch die Straßen, die geweckt wird vom Erstaunen sich nicht mehr in einem preußischen Provinzkaff sondern in einer europäischen Metropole zu bewegen. Durch seine manchmal fast beiläufigen Beobachtungen erhellt das Buch im Vorbeigehen den Wandel der Stadt.
Der Fiktion einer Geschichte mit Anfang und Ende entzieht sich »...liner Roma...« schon im Titel. Es könnte sich um »Berliner Romane« handeln, das legt zumindest eine Vermutung der Hauptfigur nahe. Wobei Roman vielleicht ein etwas großes Wort ist für die hier präsentierten biographisch gefärbten Vignetten aus dem Leben eines Bohemiens im Berlin der 20er Jahre.
»Ich bin mir selbst überlegen«, heißt es in den
Seumes »Spaziergang« zieht nicht nur die Stationen seines Fußwegs von Grimma nach Syrakus nach, er beschreibt auch die Veränderungen, die der Tornister-Reisende auf seinem Weg erfährt. Aus dem eher distanzierten Beobachter, der die Veränderungen von Wetter und Landschaft beschreibt und warmherzig die Begegnungen mit den Leuten schildert, denen er anempfohlen ist, wird ein Partei ergreifender Kritiker der Gesellschaft, die er antrifft.
Die Titelei der Erstausgabe von 1912 bezeichnet das Büchlein als Roman. Thesenschleuder wäre wohl treffender, denn die Figuren in diesem Experiment sprechen selten miteinander sondern eher nebeneinander (wenn nicht ein leeres Zimmer die Hauptfigur in einen Monolog zwingt). Zudem stecken die Thesen nicht nur in den Äußerungen der Protagonisten, sondern der Autor beteiligt sich munter an diesem Spiel: Er bricht der Synästhetik eine Lanze, wenn er Farben zu Gehör bringt oder unterhält mit erhellenden Analogien, wenn der Sonnenstrahl zum Lichtschlag gerät.