Veröffentlicht im Jahr 1929 könnte »Spazieren in Berlin« als nette historische Randnotiz gelten, die die Sicht heutiger Flaneure auf die Stadt ausschmücken kann. Doch das Buch verdankt sich nicht der Absicht einen Reiseführer für Spaziergänger vorzulegen. Stattdessen streicht hier die Neugier durch die Straßen, die geweckt wird vom Erstaunen sich nicht mehr in einem preußischen Provinzkaff sondern in einer europäischen Metropole zu bewegen. Durch seine manchmal fast beiläufigen Beobachtungen erhellt das Buch im Vorbeigehen den Wandel der Stadt.
Hessels Stadtbesichtigung hat vor allem den Ruf einer Fibel für Flaneure, denn er betont als einer der ersten die besondere Art des Spazierens. Er strebt keinem Ziel zu, sondern das Schlendern selbst ermöglicht die Wahrnehmung der Umgebung: »Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Caféterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben.«
Die Stadt wird sich zur Attraktion. Dazu tragen die großflächigen neuen Schaufenster bei, in denen Waren nicht mehr einfach ausgelegt sondern inszeniert werden. Dafür locken Läden und Kaufhäuser teilweise mit Mannequins, die anstelle der Schaufensterpuppen die Waren am lebendigen Leib präsentieren.
Eine größere Rolle dürfte aber die Verbreitung der Elektrizität gespielt haben, die 1928 erst die Hälfte der Berliner Haushalte erreichte. In einer groß angelegten Werbe-Aktion, die für mehr Kunden sorgen sollte, taten sich die Elektrizitätswerke mit der Zentrale der deutschen Schaufenster-Lichtwerbung zusammen und organisierten 1928 die Lichtwoche, die den Städtern zum ersten Mal ein sorgfältig ausgeleuchtetes Berlin zeigte.
Doch Hessel geht über diese offensichtlichen Veränderungen hinaus und führt mit einer systematischen Erkundung durch die Stadt, bei der sowohl Streiflichter auf das nächtliche Amusement in den Proletarierkneipen im Osten fallen als auch auf die verschiedenen Märkte für Gemüse, für Blumen, für Fleisch.
Das Bild der Stadt, das dem Flaneur dabei entsteht, erweist sich als vieldeutig und häufig genug auch befremdlich. Aber als geborener Berliner verfügt Hessel am Ende über ausreichend Lokalpatriotismus, der ihn veranlasst, der ästhetischen Widerborstigkeit der Kapitale zu trotzen: »wir aber müssen die Schönheit von Berlin lieben lernen.«