Leserwerbung

Es sei denn, natürlich, die Leser bleiben aus. Und schicksalsergeben auf Leser warten, zerrt so sehr an den Nerven, dass man sie auch verlieren kann – wie Ramón Gutierrez Martín. Einen Verleger hatte Ramón noch gefunden, sein Buch erschien auch ordnungsgemäß, einige Buchhandlungen stellten es sogar in ihren Schaufenstern aus, aber die Kritiker schwiegen und das Buch fand keine Käufer. Ramón hoffte auf Mundpropaganda, die ihm sein Verleger versprach, doch es blieb bei den in den ersten drei Monaten verkauften 87 Exemplaren. Danach verschwand seine Geschichte aus den Auslagen, erhielt mancherorts noch Asyl im Regal, bevor das Buch aus dem Katalog gestrichen wurde und nach einem kurzen Auftritt im Billigangebot endgültig verschwand. Ramón folgte nicht den Ratschlägen seiner Freunde, den Misserfolg zu vergessen und sich erneut an die Arbeit zu machen, sondern haderte mit der namenlosen, gesichtslosen Ungerechtigkeit. Hätten ihn Kritiker wenigstens verrissen, er hätte sie verfluchen können; hätten sich zumindest die Leute am Nachbartisch im nachmittäglichen Café oder in den abendlichen Bars abgeraten, zu seinem Buch zu greifen, er hätte sich missverstanden fühlen können. Aber so erschien ihm die Welt verkehrt – eine Welt, in der er rief, aber kein Echo folgte, eine Welt, in der das Wasser den Stein schluckte, ohne ihn mit Wellen zu quittieren – und so verlor er schließlich die Nerven.

Er entführte am hellichten Tag an der Promenade seiner
Heimatstadt Gijon eine junge Frau, die gerade die Tiefgarage verlassen wollte. Er setzte sich einfach zu ihr ins Auto und ließ sie den Lauf einer Spielzeugpistole sehen, woraufhin sie ihm hoch und heilig alle möglichen Kastrationsarten versprach, sollte er sie auch nur anrühren. Es wäre wohl noch in der Ausfahrt der Parkgarage zu Komplikationen gekommen, hätte es der Fahrer im Wagen hinter ihnen nicht eilig gehabt und seine Ungeduld durch Hupen und eine unflätige Schimpfkanonade unterstrichen. Das raubte der jungen Frau die Besinnung – sie verfluchte den Tag, den Verrückten neben ihr, den Idioten hinter ihr, die Männer im allgemeinen und trat auf's Gas. Ramón fühlte sich überrumpelt von den Ereignissen und noch mehr von der Wut mit der sie ihn anfuhr, wohin sie jetzt fahren solle. Er hatte sich den Ablauf seiner erzwungenen Einladung sehr viel vernünftiger, besonnener ausgemalt. Statt dessen fuhr sie beängstigend schnell und rücksichtslos und schmähte ihn ohne Unterlass, ohne Punkt und Komma als »Gauner Halunke Verbrecher Terrorist Psychopath Bandit Gangster Kidnapper Ganove Verrückter Wahnsinniger«, bis es ihm gelang, in einer Atempause »Autor« einzuwerfen.

Das brachte sie zum Schweigen und er dirigierte sie vorbei am Einbahnstraßengewirr der Innenstadt in Richtung des Industriegebiets am Hafen. Er hätte gerne die Gelegenheit genutzt, um ihr Verständnis zu werben mit den Worten, die er sich dafür zurecht gelegt hatte und die in der Kladde am Abend zuvor noch als ein Echo der Vernunft erkennbar gewesen waren. Doch der unplanmäßige Verlauf seiner Leserakquise verlieh nicht nur der Formulierung »ich beschwöre Sie«, mit der er seine Verzweiflung hatte ausdrücken wollen, etwas Wahnhaftes – die Pistole verkehrte seine Worte. Daher fragte er sie statt dessen nach ihrem Namen, etwas Besseres fiel ihm nicht ein. »Begoña«, fauchte sie ihn an und stand spürbar kurz vor einem neuen Wutausbruch, den er zu verhindern suchte, indem er ihr erklärte, sie solle nur lesen. Die Panik, in die sie daraufhin verfiel, verwirrte ihn, und er beeilte sich zu beteuern, mehr wolle er wirklich nicht, ganz bestimmt, und sie solle sich keine Sorgen machen.

Die Angst, sie könne in ihrer Verfassung etwas Irrationales tun, bewog ihn, sie in der erstbesten freien Parkbucht anhalten zu lassen. Es war zwar nicht so abgelegen, wie er sich das vorgestellt hatte, aber es waren keine Passanten auf der Straße zu sehen und die Häuser präsentierten mit blinden Fenstern und geschlossenen Läden eine hinreichend desinteressierte Fassade. Also zerrte er sein Buch, eines seiner Freiexemplare, aus der Jackentasche und drängte es ihr auf: »Hier, lesen Sie.« Ihrem Blick, der ihm allzu deutlich ihre Angst mitteilte, er sei nicht bei Verstand, wich er aus und gab nur einen Wink mit der Pistole, sie möge sich beeilen. Er bedauerte die Geste sofort, denn im Nu flogen ihre Finger und beinahe hätte sie das Buch fallen gelassen. Nun beschwor er sie doch und brachte sie immerhin dazu, das Buch zu öffnen. Sie fuhr mit dem Finger rätselnd über die Stellen an denen er seinen Namen aus Schmutz- und Titelblatt geschnitten hatte und begann: »Zweifelnd an einer Welt, die keine großen Aufgaben bereithielt, in der er versagte, weil die Aufgaben zu klein und die Träume zu groß waren«. »Nicht vorlesen, nur lesen«, schnappte er und widerstand dem Impuls, die Aufforderung mit der Pistolenhand zu unterstreichen.

Er sah ihr zu, musterte zum ersten Mal bewusst das unerbittliche Stahlgrau der Wolken, hörte das Umblättern und brodelte langsam vor Ungeduld: Wie lange konnte man zum Lesen brauchen? Zehn Seiten, hatte er sich überlegt, sollten reichen, um seine Frage anbringen zu können: Was halten Sie davon? Hatte sie überhaupt schon drei gelesen? Das wolkentrübe Licht tünchte die leere Straße zusätzlich in Tristesse. Hätte er besseres Wetter abwarten oder eine andere Gegend aussuchen sollen? »Sie lesen sehr langsam«, hielt er ihr schließlich vor und zuckte zurück, als sie ihn mit dem Buch bewarf, so könne sie überhaupt nicht lesen, sie habe jede Seite schon drei Mal und nichts behalten.

Das in ihrer entgleisenden Stimme mitschwingende Selbstmitleid brachte ihn auf: Wem ging es hier eigentlich schlecht? Er schnauzte sie zur Ruhe, entschuldigte sich dann für seinen Ton, griff sich das Buch und schlug besänftigend vor, sie möge ihm einfach zuhören: »Zweifelnd an einer Welt, die keine großen Aufgaben bereithielt, in der er versagte, weil die Aufgaben zu klein und die Träume zu groß waren«. Er las, die Pistole beiseite gelegt, ihr, soweit es der Sitz zuließ, zugewendet und kam bis zum Ende der zweiten Seite, als sie ihn fragte, ob sie eine Zigarette, aus ihrer Handtasche und deutete auf die Rückbank. Er zuckte kurz angebunden mit den Schultern, blätterte um, und dann ging alles sehr schnell. Das Kramen in ihrer Handtasche bekam er noch mit, aber als er gereizt aufsah, hielt sie ihm eine Spray-Dose ins Gesicht und drückte ab. Der Schmerz stach in den Augen, bohrte in ihnen herum und das Zischen der Dose schien nicht enden zu wollen. Hinter seinem abwehrenden Fuchteln, taub durch das eigene Geschrei, bekam Ramón die Flut ihrer Flüche, mit denen sie ihn belegte, nicht mit, auch nicht das Klappen der Tür, als sie schließlich aus dem Wagen kletterte. Als sein Denken wieder einsetzte, hörte er auf, sich die Augen zu reiben, konzentrierte sich statt dessen aufs Weinen und rätselte seltsamerweise, ob sie ihn reingelegt hatte, ob sie überhaupt rauchte. Das erste, was er sah, als der Tränenschleier sich verzog, war eine Polizeiuniform.

Nachdem die Zeitungen über seinen Fall berichtet hatten, brach sich die Belustigung Bahn. Es kursierten Fotos von Pistolen und Büchern, Lesern mit Schusslöchern in Händen oder Füßen, Wangen oder Ohren, zerschossenen Büchern, erschossenen Autoren, gerne auch kombiniert und häufig versehen mit dem Slogan »Lesen? Zu gefährlich!« Die Leute tauschten Videos, in denen arglose Kunden im Supermarkt eingefangen, eingepfercht und dann von einem Vorleser tyrannisiert wurden, in denen gefesselten Lesern (vorzugsweise, aber nicht nur in der Sado-Maso-Variation von Dominas) vorgelesen wurde oder ein Erschießungskommando seine Opfer durch Vorlesen hinrichtete. Und in den Schulen marterten Lehrer die Schüler mit dürftigen Witzen à la »Lies oder ich schieß«. Kurz: Ramón war zu einer landesweiten Berühmtheit geworden. Als er schließlich vor Gericht erscheinen musste, begrüßten ihn viele Zuschauer mit Transparenten, mit T-Shirts, mit Kappen, die das Thema weiterspannen: »Nicht schießen: Analphabet.« Etwas ungewöhnlich wirkte das groß gedruckte »Ich lese«, dem erst beim Näherkommen das Kleingedruckte, »Kaffeesatz«, widersprach. Als das Fernsehen in den Abendnachrichten einen aus der Menge zeigte, der als Blinder auftrat mit dem T-Shirt »Was ein Glück, ich bin taub«, erhielt die ganze Geschichte noch einmal neuen Schwung.

Der Richter strafte Ramón mit Mitleid, behandelte ihn mit rücksichtsvoller Vorsicht, als sei er krank, und Ramón fühlte sich dort im Sitzungssaal tatsächlich missverstanden, zumal ihm sein Anwalt auch noch jegliche Klarstellung untersagte. Am Ende ließ ihn der Richter auf Bewährung davon kommen, verpflichtete ihn aber zum regelmäßigen Besuch bei einem Psychiater.

Zumindest in einer Hinsicht hat sich Ramóns Leben grundlegend verändert, er wird zwar immer noch nicht gelesen, aber er verdient jetzt Geld damit. Dank seiner Bekanntheit begleitet er andere Autoren als Performance-Künstler und unterhält das Publikum mit Darbietungen des Nicht-Schreibens und des Nicht-Lesens. Besonders den zweiten Teil, wenn er in einem leeren Buch blättert, nicht liest und dabei immer wieder ins Publikum schaut, gestalten seine Fans als Ritual. Bei jedem Rundblick ergeben sie sich mit erhobenen Händen, rufen "nicht schießen, nicht schießen" und tauchen den Saal in Konfetti-Regen, wenn Ramón die Nase wieder in die unbedruckten Seiten steckt. Angeblich stammten die Papierschnipsel bei seinen ersten Auftritten aus der Restauflage seines berüchtigten Romans. Ein geschäftstüchtiger Anhänger soll sie erstanden haben, um sie in gehäckselten Portionen zu verkaufen.

[Nein, ich weiß nicht, was aus Begoña geworden ist. Ich bin nur der Chronist und habe mich Bei der Darstellung an die Berichterstattung der lokalen Blätter »GiGa« (eigentlich »Gijon Gaceta«) und »Diario de Asturias« gehalten. Sie erwähnen zwar noch Ramóns zweite Karriere, verlieren aber kein Wort mehr über sein Opfer.]