Mit »Die Dämmerung« erschien 1913 die einzige Sammlung von Gedichten von Alfred Lichtenstein zu seinen Lebzeiten. 1914 gehörte er zu den ersten Opfern des Weltkriegs. Alle hier vorgestellten Gedichte finden sich auch in der 1919 von Kurt Lubasch besorgten und hier bereits erschienenen Ausgabe der »Gedichte und Geschichten«. Wozu also noch eine gesonderte Veröffentlichung von »Die Dämmerung«? Weil es geht!
Veröffentlichungen in digitaler Form setzen nichts voraus. Sie brauchen nur Zeit und verursachen keine weiteren Kosten. Ein schmales Bändchen, oder besser ein Heft wie »Die Dämmerung« mit seiner Sammlung von 19 Gedichten würde sich gedruckt im herkömmlichen Verlagsbetrieb nicht lohnen. Die entstehenden Kosten ließen sich nur schwer decken.
Im Digitalen, wo die Kopie nur einen Knopfdruck kostet, können aber selbst bescheidene Veröffentlichungen wieder auferstehen. Das klingt einfach und scheint - wie häufiger bei Netz-getriebenen Entwicklungen - mit einem demokratisierenden Effekt verbunden zu sein. Denn über den verfügbaren Bestand an »Büchern« entscheidet nicht mehr das wirtschaftliche Interesse der Verlage.
Als sichtbare Folgen der Entwicklung verschwinden zunächst die Antiquariate und die Bücherwände in bürgerlichen Wohnungen. So wie CD und Vinyl im Musikbetrieb nur noch Nischen füllen, wiederholt sich das Verschwinden des Datenträgers auch im Bereich der Literatur. Doch während die Tonqualität 70 Jahre alter Aufnahmen eine Barriere bildet, gewinnen Texte mit der Digitalisierung: Sie werden leichter zugänglich, transportabel und durchsuchbar.
Gleichzeitig entwertet der Übergang Machtpositionen und Wertschätzungen. Die Entscheidungen der Verlage, was sie veröffentlichen und welchen Zusammenhang sie dafür herstellen, verlieren ihre Bedeutung. Und da das Stöbern in frei zugänglichen Archiven mehr Möglichkeiten eröffnet als es die lokale Buchhandlung kann, dürften sich auch die Vorlieben der Leser auf mehr Bücher verteilen als bisher.