Vorurteile leiden unter dem Vorurteil, sie seien von Übel. Das Vorurteil, heißt es, beschränke die Wahrnehmung auf ein Klischee, es sei das Brett vor dem Kopf, das den Blick auf das Wahre, das Eigentliche, das Wirkliche verstelle. Es dürfte dem schlechten Ruf zuzuschreiben sein, wenn die Ansätze, Vorurteile vorurteilsfrei zu betrachten, eher selten zu finden sind. Womöglich trübt dieser blinde Fleck die Wahrnehmung, indem er vor allem die Schattenseiten ins Blickfeld rückt und die Vorteile, die Vorurteile mit sich bringen, ausspart.
Das Vorurteil bewegt sich im Normalfall im Kreis: Es schiebt der Wahrnehmung ein Muster unter und sieht sich bestärkt, wenn das Muster in der Wahrnehmung auftaucht. Angenommen, Frauen verträten die Ansicht, Männer seien nachlässig in der Haushaltsführung. In der Folge nähmen sie die Pfandflaschensammlung, den Turmbau mit benutztem Geschirr in der Spüle, die Spuren der letzten Rasur im Waschbecken immer dann zur Kenntnis, wenn es sich um die Wohnung eines Mannes handelte, und sähen sich dadurch in ihrer Voreingenommenheit, »Männerhaushalt«, bestätigt. Der Gedanke, ihre Wahrnehmung könnte getrübt sein, käme ihnen gar nicht, und noch weniger fiele es ihnen ein, ihre Beobachtungen mit Belegen zu unterfüttern und mitzuzählen, wie viele Wohnungen sie besuchen, und in wie vielen Fällen Tohuwabohu herrscht. Sie bräuchten keine private Statistik, denn sie verfügten durch eine ganze Reihe von Anekdoten über genügend Belege, die immer wieder die eine Einschätzung stützten: Männer sind Schlampen.
Vorurteile müssen nicht einmal offen zu Tage treten, sondern können, wie in der Abgrenzung der Geschlechter, in der Sprache auch unterschwellig transportiert werden. So gibt es zwar den Rüpel, den Flegel, den Rabauken, den Lümmel und eine ganze Reihe ähnlicher abfälliger Bezeichnungen, die auf die männliche Hälfte der Menschheit gemünzt sind, aber es fehlt die weibliche Variante – zwar treiben durchaus Flegelinnen ihr Unwesen, aber trotzdem kennen die Wörterbücher die weibliche Form nicht. Das Stereotyp der Rollenzuschreibung legt das Wohlerzogene und Manierliche fest, das Ungehobelte oder die Verletzung der Etikette sieht es dagegen nicht vor.
In Form einer positiven Rückkopplung funktioniert das Vorurteil natürlich auch. So erspart sich die Fan-Kultur gerne kritische Auseinandersetzungen mit den Idolen, indem sie die Helden als sakrosankt verklärt. In den Augen ihrer Anhänger können die Abgötter gar nicht anders: Jede ihrer Äußerungen gilt den Voreingenommenen als ein Abglanz der Aura, mit der sie die Objekte ihrer Verehrung umgeben. Einen Maßstab, der die Abweichung von Erwartungen und Ergebnis deutlich machte, wenden sie nicht an. Fans sind unkritisch (solange sie nicht ernsthaft enttäuscht werden) und im Zweifel formt ihr Vorurteil alles zu toll und großartig und wunderbar.
Als universelles Ordnungsschema tauchen Vorurteile in vielen Spielarten auf: Sie beziehen sich auf Berufsgruppen (»Lehrer sind faul«), auf gesellschaftliche Bereiche (»Politik ist ein schmutziges Geschäft«) oder widmen sich einzelnen Produkten (»Bild ist eine Zeitung«). Vorurteile schließen von modischen Entscheidungen (Socken in Sandalen), kulinarischen Eigenheiten (Rotwein aus dem Kühlschrank) oder kulturellen Schranken (Popmusik versus Klassik) auf die Menschen, die sich in unchiclicher Weise kleiden, unappetitliche Gewohnheiten pflegen oder ihre Ohren malträtieren. Vorurteile reichen von selbst gestrickten Einschätzungen (»Jenseits der norddeutschen Tiefebene kriegt das Land Pickel, weil die Menschen so seltsame Dialekte sprechen.«) bis zu weithin akzeptierten Zuschreibungen (Moslems sind Islamisten). Dabei erscheinen sie in vielfältigen Formen und können simplen Widerwillen artikulieren, aber auch einen ausgefeilten Snobismus pflegen. Sie leiten die Wahrnehmung und darauf fußen ganze Industrien. Früher hieß es, es habe in der Zeitung gestanden, heute lautet die Beschwörung einer Tatsache, das Fernsehen habe berichtet. In beiden Fällen kommt den Medien das Vorurteil zu Gute, sie seien glaubwürdig.
Dem Schnellschuss des Urteils, das sich auf einen Ausschnitt beschränkt, stellt die Kritik in der Regel die Sicht auf das ganze Phänomen gegenüber. Sie versucht das Vorurteil zu kippen, indem es den wenigen im Stereotyp hervorgehobenen Facetten mit einer Vielfalt ihnen widersprechender Beobachtungen begegnet, die sie aus dem Zusammenhang gewinnt. Vorurteile veröden demnach das Sehen, das Denken, das Fühlen, weil mit dem Stoßseufzer »schon wieder« die Vorurteilenden einmal mehr nur das bereits Bekannte erkennen.
Da Vorurteile sich trotz wohl meinender Argumentationen, die sie aus der Welt schaffen möchten, hartnäckig halten, besteht eine andere Taktik im Umgang mit Vorurteilen darin, sie zu diskreditieren. Sie seien verkehrt, heißt es, weil sich die Träger der Scheuklappen mit ihrem Tunnelblick die Chance nähmen, selbst zu einem Urteil zu kommen und auf vorgefertigte Meinungen und vorgefasste Ansichten zurückgriffen. Das Vorurteil gleicht demnach einem Jägerzaun, mit dem man seinen Verstand einhegt.
Doch diese Sichtweisen des Vorurteils müssen sich vorwerfen lassen, selbst einem Vorurteil aufzusitzen.
Denn zunächst einmal erweisen sich Vorurteile als hilfreich: Wer mit der Einschätzung, rosa sei keine Farbe sondern eine Zumutung, einen Laden mit Kinderkleidung beträte, schränkte seine Auswahlmöglichkeiten schon im Vorwege ein und bräuchte einen großen Teil der Auslage gar nicht mehr zu berücksichtigen. Das Vorurteil hilft, den Wirrwarr der Vielfalt zu kanalisieren und schafft Übersichtlichkeit. Inwieweit die vorgefasste Ansicht gerechtfertigt ist, steht dabei nicht zur Debatte, es geht allein um die zügige Orientierung.
Die vor allem unter Soziologen in den fünfziger und sechziger Jahren geführten Diskussionen um Sinn und Unsinn von Vorurteilen beleuchteten weitere Aspekte. Demnach können Stereotype identitätsstiftend wirken, indem sie zur Abgrenzung einer Gruppe gegen eine andere verwendet werden (Städter gegen Vorstädter, Köln gegen Düsseldorf, Bayern gegen Preußen, Schalke gegen Dortmund, Ossis gegen Wessis usw. usf.).
Vorurteile reduzieren die komplexe Umgebung auf einfache, verständliche wiedererkennbare Muster, und Menschen ohne Vorurteile, so die Vorstellung der Soziologen, wären hilflos – unfähig zu handeln, weil ihnen die Orientierung fehlte. Sie scheiterten womöglich schon morgens nach dem Aufstehen an der Frage der Kleidung. Die eine Hälfte verbrächte einen großen Teil des Tages mit gründlichen Überlegungen vor dem Kleiderschrank um abzuwägen, welche Auswahl statthaft oder sinnvoll oder vielleicht auch moralisch tragbar wäre. Die andere Hälfte erschiene möglicherweise als ein Aufschrei gegen das Diktat der Mode auf der Straße, weil die unvoreingenommene Betrachtung ergeben hätte, es wäre durchaus kleidsam, wie Superman oder Batman die Unterhose über der Hose zu tragen.
Seltsamerweise sind die Einsichten der Soziologen nicht zu einem Allgemeinplatz geronnen, was die Vermutung nahe legt, das gesellschaftliche Vorurteil gegenüber dem Vorurteil habe einmal mehr die Oberhand behalten. Da Vorurteile allgegenwärtig und offenbar auch nützlich sind, verwundert ihre Ächtung, denn damit geht, neben den wohlfeilen Verurteilungen der Vorurteile, auch eine Nicht-Beachtung einher. Da sich Vorurteile durch Vernachlässigung aber bis zu einer Denkblockade auswachsen können (»Ausländer nehmen Arbeitsplätze weg«), scheint es sinnvoller, ihnen Aufmerksamkeit zu widmen und sie zu pflegen.
In verschiedenen Bereichen der Gesellschaft geschieht das auch. So gilt für Journalisten die Faustregel, mindestens mit zwei Quellen aufwarten zu müssen, wenn sie eine Story erzählen oder einen Trend basteln wollen. Um mehr als ein Vorurteil handelt es sich bei dem Glauben, zwei Quellen seien besser als eine, nicht, denn der Gehalt der Geschichten bleibt davon unberührt, wie etwa die Diskussionen um die Gesundheitsgefährdung durch neue Technologien zeigen. Mit der Ausbreitung des Eisenbahnnetzes im 19. Jahrhundert gingen die Warnungen vor den schädlichen Folgen der Geschwindigkeit genauso einher, wie Mutmaßungen zur Strahlenbelastung die allgemeine Verbreitung des Mobilfunks begleiteten. Doch abgesehen von der in der Faustregel enthaltenen Aufforderung zur Recherche, zeigt sich das Vorurteil – zwei Quellen sind besser als eine – entkleidet von den üblicherweise transportierten Inhalten und führt damit einen Schritt weiter. Denn so nimmt es die Form eines Rezepts an, das die Zutaten nicht berücksichtigt.
Zwar mag die journalistischen Regel schon in die erwünschte Richtung weisen, aber sie beseitigt, indem sie nur die Inhalte ausblendet, nicht den unbestreitbaren Nachteil aller Vorurteile, zuverlässig immer auf dasselbe Abstellgleis zu führen. Selbst ein wissenschaftlicher Rahmen kann Autoren nicht davor bewahren, alle Quellen über einen Kamm zu scheren, um dann einen Zusammenhang von Rasse und Intelligenz zu propagieren, wie das Beispiel »The Bell Curve« zeigt.
Einen weiteren Ansatzpunkt, dem Vorurteil beizukommen, liefert die Tradition der Kritik. Eigentlich verlangt Kritik, ein Phänomen anhand eines ausdifferenzierten Maßstabs zu beurteilen, oder ihn zumindest in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen zu entwickeln. Das machte aber den Vorteil des Vorurteils, schnell bei der Hand zu sein, zunichte. Wer will schon umständlich ein umfassend abgestütztes Urteil fällen, wenn es nur gilt, sich auf die Schnelle zu orientieren?
Anstatt einen Maßstab herbei zu ziehen oder zu entwerfen, lässt sich das Vorurteil selbst als Maß verwenden, indem sich das Augenmerk nicht auf das Bekannte sondern auf das Abweichende richtet.
Manche Lernprozesse lassen sich in dieser Weise beschreiben. So hat sich die Wahrnehmung von Fußballanhängern in den letzten zwanzig Jahren gewandelt, weg von Berichten über randalierende Hooligans, die auf ihren Fahrten in fremde Stadien regelmäßig ganze Züge demolierten und grölend durch die Innenstädte zogen, hin zu einer differenzierten Betrachtung von Fan-Kultur, die von den Vereinen teilweise gezielt gepflegt wird. Das Vorurteil, das Fußballfans und Krawallbrüder in eins setzte, hat sich als hinreichend irreführend erwiesen, weil die Vereine mit zurück gehenden Zuschauerzahlen zu kämpfen hatten, die Polizei überfordert war und die am Stammtisch orientierten Politiker mit ihren »Hau-drauf«-Parolen sich als wenig hilfreich erwiesen. Allerdings ist das Vorurteil trotz der heute gängigen Unterscheidungen in Ultras, verschiedene Fan-Gruppen, Gelegenheitsbesucher und Rauflustige nicht verschwunden, es wendet sich jetzt vorzugsweise gegen die von außen Einfallenden: die Briten, die Polen, die Serben – wo auch immer der Teufel an die Wand gemalt werden soll.
Nun ließe sich der Text zum Ende abrunden, in dem der am Anfang gezogene Faden erneut verwoben wird. Etwa durch den Hinweis, frau könne – vorbei am Vorurteil des schlampigen Mannes – die Abwaschberge dahin gestellt sein lassen und auch ohne geneigten Blick das Eigentümliche wahrnehmen, das mehr über den Gastgeber verrät – Dekoration, Raumaufteilung, Mobiliar, Bücher, Musik. Aber das hieße, im Ungefähren, wohltuend Diffusen zu verharren.
Schließlich kann sich das Herumnörgeln an den eigenen Vorurteilen höchst unterhaltsam gestalten. So führt es nur in eine schon hinreichend erkundete und damit unergiebige Sackgasse, einer Frau mit Kopftuch das Etikett »Schleiereule« anzuheften. Das unter dem Etikett Verschwundene lässt sich aber hervor holen, wenn der Rahmen gewechselt wird, und damit andere Fragen in den Vordergrund treten: Um was für ein Tuch handelt es sich und wie trägt sie es? Streng? Züchtig? Praktisch? Leger? Kess? Und mit einem Mal ginge es wie zu Zeiten von Grace Kelly und Audrey Hepburn um modische Gesichtspunkte.
Um sich gegen die Eintönigkeit zu wehren, mit der Vorurteile bis zum Überdruss das immer Gleiche erzählen, hilft es, den Standpunkt zu wechseln. Etwa um die Rolle der passiven Zuhörer bei den regelmäßig wiederkehrenden Meldungen zum Klimawandel zu verlassen. An die Stelle des schön beunruhigenden Schauers, der die Erzählungen von der geliebten Apokalypse begleitet, können dann Fragen treten: Welche Variablen wurden bei der Simulation berücksichtigt, welche Indikatoren verwendet, welche Algorithmen eingesetzt, welche Modelle heran gezogen?
Um das Unveränderliche, das Vorurteile suggerieren, aufzulösen, gilt es, den eigenen Gewohnheiten zu widersprechen. Das Vorurteil erweist sich dabei als hilfreich, weil es den Ansatzpunkt bietet, sich selbst auszuhebeln.